„Er feiert kein Weihnachten und ist trotzdem der beste Advents-Held“
Über eine etwas schräge Ehrung der Initiative „Shalom Rollberg“
Christliches Weihnachtsfest, jüdischer Israeli und muslimische Kinder aus Neukölln. Diese Mischung gefiel offenbar Berlins größter Boulevardzeitung und einem Energieversorgungsunternehmen, als sie kürzlich ihre jährliche Suchaktion nach einem „Advents-Helden“
veranstalteten. Zum sechsten Mal suchten sie eine*n ehrenamtlich engagierte*n Berliner*in, um sie oder ihn zu würdigen. Ihre Wahl fiel auf Itay Novik, 45 Jahre alt, gebürtig aus Tel Aviv, seit 2011 in Berlin wohnhaft, und zufällig mein Freund.
Itays Engagement bei „Shalom Rollberg“
Seit fünf Jahren engagiert er sich in seiner Nachbarschaft in Neukölln, in einem so genannten Brennpunktviertel, in der Initiative „Shalom Rollberg“. Er ist nur einer von vielen jüdischen Ehrenamtlichen, die den meist türkisch- und arabischstämmigen Kindern und Jugendlichen Nachhilfeunterricht geben oder mit ihnen ihre Freizeit gestalten. Das Projekt gehört zum Verein MORUS 14 e.V., und dieser war es auch, der Itay stellvertretend für die anderen Mentor*innen als „Advents-Held“ vorschlug.
Itay gibt wöchentlich Englischunterricht. Von Zeit zu Zeit lässt er sich etwas besonderes „Außerschulisches“ einfallen, damit es nicht langweilig wird. Da seine eigene Leidenschaft dem Essen gilt und sich auch sein Berufsleben um kulinarische Genüsse dreht, backte er mit den Kindern schon Weihnachtskekse oder kochte mit ihnen Kreplach, ein traditionelles jüdisch-aschkenasisches Gericht, das ihm aus Kindheitstagen von seiner aus Polen stammenden Großmutter bekannt ist. Ein Highlight für die Kinder war auch, als er mit ihnen einmal einen Kochkurs in dem piekfeinen Restaurant eines befreundeten israelischen Sterne-Kochs veranstaltete.
Dass Itay Israeli und Jude ist, spielt in den wöchentlichen Begegnungen keine Rolle. Es ist kein Geheimnis, aber es wird auch kein Aufhebens darum gemacht. Eines der Mädchen realisierte es erst nach ein paar Wochen und fragte dann plötzlich völlig überrascht: „Sind Sie etwa aus Israel?“
Darauf fuhr ihr ein anderes Mädchen über den Mund und sagte: „Ja, ja, er ist Israeli, alles klar jetzt?!“
Dass Itay dieser kleinen Episode Bedeutung beimisst, zeigt aber auch, dass Normalität auch ein Stück beschworen wird, obwohl es nicht normal ist.
Die Wahl zum „Advents-Helden“
Von „Shalom Rollberg“ erfuhr Itay dann, dass er von der Boulevardzeitung und dem Energieversorgungsunternehmen als „Advents-Held“ ausgewählt worden sei – und dass der Verein deshalb 5.000 € gewonnen habe. Es folgte ein Interview mit der Presse, ein Fotoshooting in den Räumlichkeiten der Initiative, coronabedingt natürlich ohne die Kinder. Unter der Überschrift „Er feiert kein Weihnachten und ist trotzdem der beste Advents-Held“ erschien am nächsten Tag ein Zeitungsartikel. Zum ersten Mal in meinem Leben kaufte ich das Boulevardblatt. Ausgerechnet diese Zeitung, dachte ich mir, während Itay sich daran weniger störte. Gemeinsam amüsierten wir uns über die Überschrift.
Man teilte Itay mit, dass er am Sonntag, den 29. November auf dem Pariser Platz symbolisch einen Scheck überreicht bekomme und er dann seiner Aufgabe als „Advents-Held“ nachkommen dürfe, nämlich die Beleuchtung des 15 Meter hohen Weihnachtsbaums vor dem Brandenburger Tor anzuknipsen. Ausgerechnet ein Weihnachtsbaum, dachte ich mir, wo ich doch selbst immer Weihnachtsmärkte und den ganzen Rummel drumherum meide. Und ausgerechnet vor dem Brandenburger Tor! Schließlich finde ich noch immer die Idee des Künstlers Horst Hoheisel am überzeugendsten, der 1995 vorschlug, das deutsche Nationalsymbol zu Staub zu zermahlen und diesen auf dem leeren Gelände für das Denkmal der ermordeten Juden Europas zu verstreuen. Aber natürlich begleitete ich Itay am Ende trotzdem zu dem Termin. Einer musste ja fotografieren.
Reaktionen von Itays Familie aus Israel
Derweil war seine Familie in Israel ganz aus dem Häuschen – und nicht erst, als auch die israelischen TV-Nachrichten darüber berichteten. Seine Mutter, die 1948 im DP-Camp in Kassel als Tochter von polnischen Überlebenden der Schoa geboren wurde, war sehr emotional und schrieb auf Facebook von ihrem Stolz, was aus ihm geworden sei:
ערכי ואוהב ללא קשר לדת ומוצא
(Werte und Liebe, unabhängig von Religion und Herkunft).
Es musste sich komisch für sie anfühlen, nachdem die Familien ihrer Eltern von den Deutschen in der Schoa ermordet wurden.
Itay ist nicht uninteressiert an dieser Geschichte, aber sie ist für ihn weitaus weniger wichtig als für mich. So war ich denn auch die treibende Kraft, als wir vor ein paar Jahren die ehemalige Jägerkaserne in Kassel besuchten, wo seine Mutter die ersten Monate ihres Lebens verbrachte, bevor ihre Eltern mit ihr als Baby in den neu gegründeten Staat Israel auswanderten. Wir waren damals auch im hessischen Ziegenhain, wo sich Itays Großeltern im DP-Camp kennengelernt und geheiratet hatten. In den Arolsen Archives fand ich – zur Überraschung der Familie – Unterlagen, die die DP-Zeit der Großeltern und ihr Bemühen um „Wiedergutmachung“ dokumentieren.
Beim Auffinden kam mir natürlich zu Gute, dass ich durch meine Arbeit im Archiv des Jüdischen Museum Berlin mit Archivrecherchen vertraut bin. Dass mein Freund ein (säkularer) jüdischer Israeli ist, ist für mich auch im Hinblick auf meine berufliche Tätigkeit durchaus nicht unwichtig. Wir haben uns natürlich nicht deshalb ineinander verliebt. Und meine Beziehung zu ihm legitimiert auch nicht meine Arbeit als Nichtjude in einem Jüdischen Museum. Aber es stellt doch einen Gegenwartsbezug her und schlägt eine Brücke in meinen Alltag und meine eigene Lebensrealität, auch wenn Itay nicht nur kein Weihnachten, sondern nicht einmal Chanukka feiert! Es würde ihm auch nie in den Sinn kommen, zum Entzünden der Chanukkalichter auf den Pariser Platz zu gehen.
Die kurze Zeremonie
Doch zurück zu der kleinen Veranstaltung am Brandenburger Tor. Der Scheck war schnell übergeben und das Licht angeknipst. Wegen der Pandemie war kein Publikum vor Ort. Es handelte sich nur um einen kurzen Pressetermin. Itay, der im Vorfeld nicht wusste, was ihn genau erwarten würde, aber für den Fall eines Falls vorbereitet sein wollte, hatte eine kleine Ansprache geschrieben. Spontan eine Rede auf Deutsch zu halten, dazu fühlte er sich zu unsicher. Er kam aber letztlich nicht in die Verlegenheit, sprechen zu müssen und war darüber auch ganz erleichtert. Seine Ansprache hätte mit den Worten geendet:
„Shalom Rollberg wäre nichts ohne die Jugendlichen von Neukölln, die jede Woche kommen und für mich alle Botschafter des Wandels sind. Alle Kinder verdienen die Chancen, zu versuchen, zu träumen, sich selbst zu erfüllen und sie verdienen auch jemanden, der an sie glaubt. Isra, Dana, Sabrina, Shirin, Lina, Bathul, Sara, Abdul Karim und all die anderen, die ich nicht namentlich nenne, ohne euch würde ich hier nicht stehen. Ich lerne so viel von euch, während ich euch unterrichte, und ihr seid alle Stars und meine Helden.“
Jörg Waßmer, Archiv
Zitierempfehlung:
Jörg Waßmer (2020), „Er feiert kein Weihnachten und ist trotzdem der beste Advents-Held“. Über eine etwas schräge Ehrung der Initiative „Shalom Rollberg“.
URL: www.jmberlin.de/node/7667