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Davids Beschneidung

Warum auch ein Fragezeichen eine Geschichte erzählen kann

Ergänzend zu unserer Ausstellung Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung in Deutschland haben sich unsere Mitarbeiter*innen auf die Suche nach jüdischen und muslimischen Interviewpartner*innen gemacht, die aus ihrer ganz persönlichen Sicht über das Thema berichten können. Weil sie sich für die Beschneidung ihres Sohnes entschieden haben oder dagegen. Sie hörten sich im Bekanntenkreis um, starteten einen Aufruf in unseren Netzwerken und bekamen diverse Rückmeldungen. Einige der Erzählungen, die zunächst zum Schmunzeln anregten, haben uns auch nachdenklich gestimmt – so wie die Geschichte von David.

Schwarz-weiß Fotografie: Ein Mann und zwei Jugendliche spielen Backgammon

Shlomit lernte David im Jüdischen Jugendzentrum Joachimstaler Straße in Berlin kennen. Auf diesem Foto ist ein Bildungsreferent des Jugendzentrums beim Backgammonspiel mit Jugendlichen zu sehen, Berlin 1992; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Michael Kerstgens

Von David erzählte uns Shlomit Tulgan, eine Kollegin aus der Bildungsabteilung, die ihn als Jugendliche kennen gelernt hatte. Er sei Sohn einer assimilierten jüdischen Mutter gewesen und habe sich im Alter von 22 Jahren für eine Beschneidung im Jüdischen Krankenhaus Berlin entschieden. Seine Begründung für diese Entscheidung war damals: Er wolle „zu seinen Wurzeln zurückkehren und das nachholen was seine Eltern ihm verwehrt haben“. David sei „kein Kind von Traurigkeit“ gewesen, erinnert sich Shlomit, die ihn vor allem im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Berlin in der Joachimstaler Straße traf. Fast jeden Monat war er in ein anderes jüdisches Mädchen verliebt und trotz seines aktiven und sprunghaften Beziehungsverhaltens bei den Frauen sehr beliebt. Entsprechend groß war die Anteilnahme im Jüdischen Jugendzentrum, als Davids Beschneidung schließlich durchgeführt wurde. Während der junge Mann sich im Krankenbett von dem Eingriff erholte, habe sein libanesischer WG-Freund Salim die Besuchszeiten koordiniert – um zu vermeiden, dass David vom gesamten Jugendzentrum auf einmal überrannt wurde.

Auch Shlomit wollte David gemeinsam mit drei Freundinnen besuchen und meldete sich bei Salim für einen Termin. Dessen Antwort ernüchterte: „David lässt ausrichten, dass er euch nicht sehen will.“ Auf die enttäuschte Frage „Warum?“ erwiderte Salim mit einem leidenden Gesichtsausdruck: „Momentan bekommt David beim Anblick schöner Frauen zu starke Schmerzen.“ Die Erzählerin meinte, dass sie die mitfühlenden Gesichtsausdrücke mit den ‚oooh’s‘ und ‚uuuh’s‘ ihrer Freundinnen noch immer lebhaft erinnere.

So weit, so kurzweilig: Die kleine Anekdote machte uns neugierig und wir versuchten, mehr über David zu erfahren – was war die Geschichte hinter der Geschichte? Unsere Kollegin erzählte uns von seiner Mutter, die amerikanische Jüdin war und im Berliner Hauptquartier der US-amerikanischen Truppen, dem Dienstsitz der Navy arbeitete. Sie starb an Krebs, als David gerade einmal zwölf Jahre alt war. Sein deutscher, nicht-jüdischer Vater hatte sowohl die Beschneidung als auch die Bar Mizwa verboten. Das habe David ihm sehr nachgetragen und schließlich auch den Kontakt zu ihm abgebrochen.

Schwarz-weiß Foto: Jugendliche sitzen auf dem Boden und auf Stühlen

Gäste einer Chanukka-Party im Jugendzentrum Joachimstaler Straße, Berlin 1992; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Michael Kerstgens

Vor 20 Jahren wanderte David dann nach Israel aus – mit der Emigration hat unsere Kollegin Shlomit leider auch den Kontakt zu ihm verloren. Mittlerweile soll er weiter in die USA gezogen sein und als amerikanischer Soldat auf einem Kriegsschiff in der Golf-Region dienen. Er sei eben schon immer „sehr speziell gewesen, aber ein sehr lieber Kerl“, meint sie.

Gerne hätten wir mit David (der eigentlich anders heißt) persönlich gesprochen und mehr über sein anscheinend bewegtes Leben erfahren. Aber wir fanden den kleinen Einblick in seine Geschichte, den uns Shlomit mit ihrer Anekdote verlieh, bereits so interessant, dass wir ihn Ihnen nicht vorenthalten wollten.

Alice Lanzke, Medien

Fotografie eines Gebäudes

David ließ sich im Jüdischen Krankenhaus in Berlin beschneiden; Foto: A.Savin (via Wikicommons)

Zitierempfehlung:

Alice Lanzke (2015), Davids Beschneidung. Warum auch ein Fragezeichen eine Geschichte erzählen kann.
URL: www.jmberlin.de/node/6571

Blick hinter die Kulissen: Beiträge zur Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ (9)

  • Beiträge zur Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“

    Die Blogbeiträge unserer Mitarbeiter*innen, die im Rahmen der Ausstellung Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung entstanden sind, können Sie nun hier auf unserer Website lesen.

  • Älterer Herr im Anzug mit Brille und Vollbart.

    „Abhauen wollte ich nie“

    Alice Lanzke im Gespräch mit Rabbiner David Goldberg über seine Reaktionen auf eine Anzeige gegen ihn als Beschneider wegen „gefährlicher Körperverletzung“

    Interview
    2015

  • Schwarz-weiß-Foto: vier Männer mit Kippa stehen um eine Baby herum.

    „Die Fragen kamen erst im Nachhinein“

    Mirjam Wenzel im Gespräch mit Naomi, die zum Judentum übergetreten ist und deren Sohn nach traditionellem Ritus beschnitten wurde

    Interview
    2015

  • Schwarz-weiß-Foto: zwei Personen sitzen an einem Backgammon Spiel.

    Davids Beschneidung

    Alice Lanzke erzählt, was heute noch über die Geschichte von Davids Beschneidung im Alter von 22 Jahren herauszufinden war

    Bericht
    2015

  • Ausstellungsansicht, Wand mit der Beschriftung: Haut ab.

    Im Hamsterrad der Argumentation

    Andy Simanowitz berichtet über hartnäckige Fragen und Argumentationsspiralen als Guide in der Ausstellung

    Bericht
    2015

  • Farbfotografie der Synagoge Fraenkelufer Berlin, Außenansicht.

    „Teil von etwas Ganzem“

    Über die Selbstverständlichkeit der Beschneidung sprach Alice Lanzke mit Amitay und Meital aus Israel

    Interview
    2015

  • Schwarz-weiß-Foto: Kinder aufgereiht und gekleidet in Uniformen.

    Eine Beschneidung für den Familienfrieden

    Ein Interview von Alice Lanzke mit einer muslimischen Mutter über die Frage: Soll der vierjährige Sohn beschnitten werden?

    Interview
    2015

  • Atelier-Fotografie von einem Paar mit einem ca. vierjährigen Kind.

    „Es wäre aber in diesem Falle die beste Lösung, wenn ein Mädel käme.“

    Jörg Waßmer findet im Nachlass von Fritz Wachsner Interessantes zur innerjüdischen Beschneidungsdebatte

    Essay
    2015

  • Schwarz-weiß Zeichnung eines Mannes, der die Hand zum Gruß hebt, die Finger sind zwischen Mittel- und Ringfinger gespreizt.

    Über Zugehörigkeiten und familiäre Kontroversen

    Mirjam Wenzel im Gespräch mit Signe und Darrell über die Beschneidung und darüber, welche Rolle für sie die jüdische Tradition bei der Erziehung ihrer Kinder spielt

    Interview
    2014

  • Nahaufnahme einer grauen Wand mit beschrifteten rosa Notizzetteln.

    Nach der Ausstellung ist vor der Ausstellung

    Martina Lüdicke über die Entscheidung, den Fragen zum Thema Beschneidung in der Ausstellung Die ganze Wahrheit eine eigene Ausstellung zu widmen

    Blick hinter die Kulissen
    2014

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