Ein kalter Wind weht Ziegel von Dächern und Hüte vom Kopf. Stürmisch beginnt Robert Schindels neuer Roman Der Kalte, dessen Einstieg man sich hier vom Autor vorlesen lassen kann. Schon in seinem Roman Gebürtig von 1992 überzeugte der 1944 geborene, österreichische Romanautor, Lyriker und Essayist durch eindrückliche Bilder und poetische Sprache. Auch hier erinnert die Anfangsstimmung an den Beginn des expressionistischen Gedichts »Weltende«: »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, in allen Lüften hallt es wie Geschrei« (Jakob van Hoddis).
Mit der ersten Szene von Schindels Roman eröffnet sich allerdings eine Welt: die der sogenannten ›Waldheim-Jahre‹ 1985 bis 1989 in Wien. Im österreichischen Wahlkampf entbrannte damals eine Debatte um den Kandidaten der Konservativen, Kurt Waldheim, und dessen mögliche Beteiligung an Kriegsverbrechen. In seiner Autobiografie hatte er nämlich die Zeit als Wehrmachtsoffizier verschwiegen. Im Roman durch die Figur Johann Wais dargestellt, beteuert er, »dass er nichts anderes getan habe wie hunderttausend andere Österreicher auch.« Gerade deshalb funktioniert er »als unfreiwillige Aufklärungsmaschine«. Diesem prototypischen Österreicher, der zugleich stolzer Pflichterfüller und doch immer nur Zuschauer und eigentlich ›Hitlers erstes Opfer‹ gewesen sein wollte, stellten sich vor allem Künstler und Intellektuelle als »das andere Österreich« entgegen. Entsprechend spielen im Roman Theater und Literatur eine große Rolle, insbesondere das Wiener Burgtheater, das erstmals einen deutschen Direktor hat und mit politischen Stücken Kontroversen auslöst. Außerdem greift Schindel historische Debatten um das Antifaschismusmahnmal in Wien auf.
Der Autor bedient sich also aus dem ›Steinbruch der Geschichte‹. Er baut aus diesem Material aber eigenständige Figuren, die sich von den historischen Personen emanzipieren und auch ohne das Wissen um die politischen Bezüge funktionieren. Rund um die literarisierten Entsprechungen zu Waldheim, Peymann und Hrdlicka oder auch Simon Wiesenthal gibt es eine Vielzahl weiterer Figuren ohne konkrete historische Vorbilder. An dem jüdischen Spanienkämpfer und Auschwitzüberlebenden Edmund Fraul und seiner Frau Rosa, ebenfalls jüdische Überlebende, wird dabei etwa die historische Erfahrung deutlich, dass ›Überleben‹ keine einmal erledigte Angelegenheit ist. Vielmehr ist das weiter leben (so der Titel von Ruth Klügers Autobiographie) eine Herausforderung – insbesondere, wenn man ständig ehemaligen Peinigern begegnen kann, die nur kurze Haftstrafen und gar Freisprüche bekamen. Die Gefühls- und reale Kälte, die den titelgebenden Protagonisten umgibt, ist beim Lesen geradezu spürbar, ein plastisches Bild für die Nachwirkungen von Auschwitz. Ebenso greifbar werden der »Gedankenmorast« oder der »Ameisenhaufen unter der Schädeldecke«, die das Ehepaar insbesondere im Schlaf unwillkürlich heimsuchen.
Ungewöhnlich und auf schroffe Art nahezu rührend ist, dass Fraul ausgerechnet in der Begegnung mit dem ehemaligen KZ-Aufseher Rosinger seinen Kältepanzer soweit öffnet, dass er am Ende »Eistränen« weinen kann. Obwohl Rosinger ebenfalls schlecht schläft, läuft der Roman nie Gefahr, den Unterschied zwischen Tätern und Verfolgten zu verwischen. Indem »die beiden Auschwitzbewohner« einander aus ihrer jeweiligen Perspektive Geschichten »über unser Daheim« erzählen, wird diese Vergangenheit für die Lesenden ebenfalls präsent gehalten.
Die Gegenwart des Romans ist demgegenüber mit viel Humor und noch größerer Perspektivenvielfalt erzählt. Da viele Figuren auch als Ich-Erzähler oder Ich-Erzählerin fungieren, erzeugt jedes Kapitel aufs Neue die Spannung, wer nun wohl spricht. Das große Figurenensemble entstammt hauptsächlich dem Kultur- und Politikbetrieb, zur Gefühlsthematik passend gibt es aber auch ein paar Kardiologen. Vertreten sind verschiedene Generationen, Geschlechter und Verortungen in der sogenannten Erinnerungslandschaft, die oft zutreffender eine Vergessenslandschaft ist. Dabei gehen die Figuren nicht in ihrer Funktion als bestimmte Typen auf. Im Gegenteil, nur wenige Romane schaffen es, ihre Figuren mit solcher Lebensenergie und Liebeslust auszustatten, wie Robert Schindel es tut. So macht etwa die junge Dolores mit dem Davidstern auf dem üppigen Dekolleté ihrem schmerzhaften Namen gar keine Ehre. Wie ihr nichtjüdischer Freund Stefan in seinem Tagebuch notiert, ist sie leidenschaftlich im Bett und lädt ihn zudem zum »Freudenfest« Pessach ein. Das erotische Begehren vieler Figuren erzeugt ›Unübersichtlichkeiten‹, und gerade diese rücken den Roman näher an das Leben als jede soziologische Kategorisierung. Der Autor scheint seine Figuren selbst zu lieben, ist doch sogar Johann Wais mit gewisser Sympathie geschildert.
Glücklicherweise über 600 Seiten lang darf man sich an den »nahrhaften Buchstabengerichten« laben. Man trifft nebenbei auf alte Bekannte aus Gebürtig, und nach beendeter Lektüre ist es, als habe man neue Bekanntschaften geschlossen. Da Schindel kürzlich von einer Trilogie sprach, dürfen wir auf einen weiteren Roman dieses sympathischen Sprach- und Erzählkünstlers hoffen.
Robert Schindel, Der Kalte, Berlin: Suhrkamp 2013.
Mirjam Bitter, Medien
Schöner Beitrag. Gut geschrieben und interessant zu lesen.