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„Sex ist eine Kraft“

Interview mit Talli Rosenbaum

Schwarz-weiß Grafik: ein Paar beim Geschlechtsakt. Auf einem Tisch stehen zwei Kerzen, ein Becher und ein Hefezopf zum Schabbat.

Challah Back Girl, aus der Serie Shabbat Sex Positions to Get Your Double Mitzvah On, Melissa Cetlin, a special project for At The Well, 2017

Talli Yehuda Rosen­baum ist Einzel- und Paarthera­peutin sowie zerti­fizierte Sexual­therapeutin und Super­visorin. Ihre Forschung befasst sich sowohl mit den psycho­sozialen und kulturellen Aspekten von Sexua­lität und Bezie­hungen als auch mit der Schnitt­stelle von Trauma, Intimität und Sexua­lität. Im Podcast Intimate Judaism erkundet sie zusammen mit dem Rabbiner Scott Kahn ein breites Spektrum an Fragen rund um gelebte Sexua­lität im Ein­klang mit Tora und Halacha.

Talli Rosenbaum, Sie sind aus­gebildete Sexual- und Beziehungs­therapeutin und begleiten prakti­zierende Jüdinnen und Juden, die in ihrem Alltag die religiösen Gesetze in unter­schied­lichem Maße befolgen. Wie, würden Sie sagen, wirken sich diese Gesetze auf das Sexual­leben und die Gefühls­welt aus?

Wer in sehr ortho­doxen Gemein­schaften auf­wächst, lebt lange in einer nahezu sex­freien Welt; doch mit der Hochzeits­nacht wird von jungen Paaren erwartet, dass sie sexuell aktiv werden. Paare, die Schwierig­keiten haben, ihre Ehe in der Hochzeits­nacht oder danach zu voll­ziehen, suchen möglicher­weise eine Sexual­beratung auf. In meinem beruf­lichen Alltag, in dem ich sowohl mit frisch verhei­rateten Frauen als auch mit Paaren arbeite, begegnet mir immer wieder sehr, sehr große Angst – Angst der oder des Einzelnen, Angst in der Familie, gesell­schaftlich geprägte Angst – vor der Idee, dass der Geschlechts­akt voll­zogen werden muss. Was mir wirk­lich zu Herzen geht, sind die Erfah­rungen von Frauen, denen Sex Schmerzen bereitet oder die an Vaginis­mus leiden, bei dem sich der Körper aus Angst vor dem Geschlechts­verkehr verkrampft. Teil der Behand­lung ist dann, dass die Betrof­fenen mit Vaginal­dilatoren üben. In meinem vorherigen Beruf als Becken­boden-Physio­therapeutin hatte ich mit Frauen zu tun, die trauma­tisiert waren und die dissoziierten, also sich von ihren eigenen Empfin­dungen ab­kapselten. Sie sagten dann Dinge wie: „Ich muss in der Lage sein, Sex zu haben. Ich muss dazu einfach in der Lage sein, aber es tut mir weh, und es muss auf­hören, weh­zutun. Also tun Sie, was Sie tun müssen, igno­rieren Sie mich einfach. Ich muss keine Lust empfin­den, ich will einfach nur, dass es nicht wehtut, damit ich meiner Pflicht nach­kommen kann.“ Klar war: Sie fürch­teten die Auswir­kungen, wenn sie ihrer ehe­lichen Pflicht nicht nach­kämen. Wegen dieser Erfah­rungen habe ich mich dann dem Bereich der psychi­schen Gesund­heit zuge­wandt.

Welche Gemein­schaften oder Einzel­personen betreuen Sie?

Ich würde sagen, dass die große Mehr­heit – wahrschein­lich 95 Prozent – der Einzel­personen und der Paare, mit denen ich arbeite, der ortho­doxen Welt ange­hören. Das reicht von Ange­hörigen der offe­nen Ortho­doxie über Refor­mierte bis hin zu sehr, sehr ortho­doxen Charedim und Chassidim.

„Was die Haltung des Juden­tums zur Sexua­lität betrifft, so gibt es mehr als einen Stand­punkt.“

Der Titel unserer Aus­stellung lautet: Sex. Jüdische Positionen. Wenn Sie jüdische Werte in zentrale Posi­tionen oder ethi­sche Grund­sätze fassen müssten, welche wären das?

Das ist eine sehr weit­reichende Frage! Ich denke, wir müssen uns zunächst an­sehen, welche Bedeu­tung Sexua­lität im Juden­tum hat – meines Erachtens gibt es da nicht nur eine einzige, mono­lithische Position. Der Talmud ist voll von Geschichten über Tannaim und Amoraim, die mit sexu­eller Versu­chung und Begierde konfron­tiert wurden. In den jüdischen Texten wird Sex als Ver­suchung oder Kraft präsen­tiert, als ein Jezer, dem man entgegen­treten und den man regulieren muss.

Was die Haltung des Juden­tums zur Sexua­lität betrifft, so gibt es mehr als einen Stand­punkt. Einige rabbi­nische Quellen versu­chen, den lust­vollen Aspekt von Sex herunter­zuspielen, und präsen­tieren Askese als eine Art Vor­bild. Manche Texte thema­tisieren Sexua­lität kaum, andere sind dies­bezüglich sehr technisch. Dann wieder gibt es Quellen, die ihre Wurzeln im mysti­schen Juden­tum haben: Sie verherr­lichen die sexu­elle Lust und deren Befrie­digung in der Ehe und betrachten Sex als gött­liches Geschenk und heilige Pflicht.

Und dann gibt es die Hal­tung von Maimonides, auch Rambam genannt, die näher am All­tag der Menschen und ausge­wogener ist. Sex wird weder verherr­licht noch ver­teufelt, viel­mehr erkennt dieser Ansatz an, dass Jüdinnen und Juden genau wie alle anderen Menschen Sex haben und dass Geschlechts­verkehr in der Ehe sowohl der eigenen Lust als auch der Fort­pflanzung dient.

Insge­samt gilt Sex im Juden­tum als eine gute Sache, so­lange er zwischen Mann und Frau und im ehe­lichen Rahmen statt­findet. Bei den Beschrän­kungen und Verboten bezüg­lich Sex geht es also weniger um die Tat­sache, dass es zu sexu­ellen Hand­lungen kommt, als um den Kon­text, in dem dies geschieht. Was die Ethik betrifft, so enthal­ten die alten Texte sexu­elle Vor­schriften, die mit der Ethik, der Moral und den Werten der dama­ligen Zeit über­einstimmen. Doch im Gegen­satz zur Tora ist eine Gesell­schaft nicht fest­geschrieben. Deshalb müssen wir als Jüdinnen und Juden gegen­über aktu­ellen Wert­vorstellungen offen­bleiben, um sie an­nehmen und mit den Werten der Tora in Über­einstimmung bringen zu können.

Schwarz-weiß Grafik: zwei Menschen beim Geschlechtsakt vor einem brennenden Kamin.

The Easy Rester, aus der Serie Shabbat Sex Positions to Get Your Double Mitzvah, Melissa Cetlin, a special project for At The Well, 2017

Gibt es in Ihren Augen eine spezi­­fisch jüdische Sexua­­lität, die aus diesen Werten hervor­­gegangen ist, sei es auf­­grund hala­­chischer Schriften oder kultu­­reller Normen?

Die Antwort auf diese Frage kann in ganz unter­­­­­schiedliche Rich­­tungen führen! Ich glaube, dass die Ge­schich­ten des Talmud, in denen es um Ver­su­chung und Lust geht, uns tat­­sächlich etwas lehren, indem sie zeigen, dass die Ausein­ander­­setzung mit Sexua­­lität und mit der sexu­e­llen Entwick­­lung des Menschen einfach zum Mensch­­sein dazu­­gehört. Das ist ein Teil des Lebens. Die Vor­­stel­­lung von einem sehr beherr­­­­­schten sexu­­­­ellen Selbst, das nur Dinge tut, die nach der Halacha erlaubt sind, gilt vermut­­lich als Ideal. Doch die talmu­­dischen Geschichten zeigen uns auch, dass dies ein stän­­diger Kampf ist und auch ein stän­­diger Kampf sein soll. Wenn wir beispiels­weise davon aus­gehen, dass Selbst­­befriedigung – die der Halacha zufolge verbo­­ten ist – zur Entwick­­­lung eines Menschen dazu­ge­­hört, werden wir fest­stellen, dass es sogar im Rahmen des gesetzes­­­­­­treuen Juden­­­tums zu einem existen­­­ziellen Kon­­flikt kommt. Und der kann sich auf den indivi­­­duellen Menschen sehr unter­­­schiedlich aus­­­wirken.

Ich kann nicht pau­schal sagen, welche Schwierig­­­keiten junge Männer und Frauen durch­machen. Doch für einige junge Männer könnte solch ein innerer Kon­flikt ein Grund sein, sich vom ortho­­doxen Juden­­­tum zu ent­­­fernen. Nach dem Motto: Wenn es ein Gesetz gibt, das ich nicht ein­­­halten kann, dann ist die ganze Angele­­gen­heit viel­leicht nichts für mich. Andere gehen so damit um, dass sie ihre sexu­­­elle Seite gewisser­­­maßen von sich ab­spalten. Doch die Folge davon ist Scham, und dann müssen sie die ver­ar­­beiten und bewäl­­­tigen. Mit gesundem Ver­stand für die eigene Ent­wick­­lung gelingt es viel­leicht auch besser, Dinge für sich selbst anzu­­­nehmen, die man bedenk­­­lich findet. Ich könnte beispiels­­­weise aner­­­kennen, dass ich das Gesetz nicht immer zu 100 Prozent ein­­­halten kann, so wie ich auch die Gesetze, meine Zunge zu hüten und nicht zu trat­schen oder zu lästern – die Laschon ha-ra – nicht zu 100 Prozent ein­­­halte. Indem ich mir zuge­­­stehe, dass es mir schwer­­­fällt, vergebe ich mir gleich­­­zeitig das innere Ringen. Ein Teil der thera­­­peutischen Arbeit bestünde also darin, diese Verhält­­­nisse zu ergrün­­den und zu betrachten, wie sie sich auf das eigene Empfin­­den aus­­­wirken.

Sie sind Co-Modera­­torin des Podcasts Intimate Judaism und haben viel über die Berührungs­­punkte von Sexua­­lität und Halacha geschrieben, wenn es um heutige Fragen und Probleme, verän­­derte Einstel­­lungen zu mentaler Gesund­­heit sowie emotio­­nales Wohl­­befinden geht. Haben Sie in den letzten Jahren irgend­­welche Verände­­rungen beobachten können? Es gibt beispiels­­weise zahl­­reiche reli­­giöse Gesetze, deren Ein­­haltung für ortho­­doxe Menschen, die femi­­nistische Auf­­fassungen vertreten oder sehr spät heiraten, schwierig sein kann.

Auf jeden Fall! Und doch haben wir noch einen weiten Weg vor uns, wenn es darum geht, Sexual­­erziehung, heutige Werte und Moral­­vorstellungen mit den Lehren von Tora und Halacha in Ein­­klang zu bringen. Nehmen wir zum Beispiel Einver­­nehmlichkeit: Einver­­nehmlichkeit ist ein wich­­tiges Konzept, wenn es um Sexua­­lität geht, aber in den Quellen wird kaum direkt ange­­sprochen, dass die Zustim­­mung beider Partner*innen uner­­lässlich ist. Als ich auf diesen Punkt hin­­wies, hieß es, dass die Zustim­­mung beider in den Quellen impli­­ziert ist, aber meiner Meinung nach müsste deutlich mehr darüber gesprochen werden. Wenn in den Quellen von Sex die Rede ist, sug­­geriert die Wort­­wahl, dass der Mann mit seiner Frau machen kann, was er will – solange er keinen Samen verschwendet. Aber nirgendwo steht deut­­lich geschrieben: sofern sie es zulässt, sofern sie es will, sofern sie Lust hat. Es ist wichtig, dies in die Sexual­­erziehung einzu­­beziehen, auch dann, wenn wir über Werte sprechen. Wenn ortho­­doxe Jugend­­liche zum Beispiel die Gesetze der Schmirat negia kennen­­lernen – die besagen, dass jede Art von vorehe­­licher Berührung verbo­­ten ist – und anson­­sten über­­haupt nicht über Einver­­ständnis, Grenzen, Verlan­­gen oder Lust gesprochen wird, was dann? Ist dann nach der Hoch­­zeit alles erlaubt? Und wie wird mit Zustim­­mung und Grenzen um­­gegangen, wenn Schmirat negia nicht einge­­halten wird?

Intimate Judaism

Hören Sie mehr von Talli Rosenbaum und Rabbi Scott Kahn über Judentum und Sex (auf Englisch). 
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„Glücklicher­­weise wird die Auseinander­­setzung mit dem Thema Sex in ortho­­doxen Kreisen heutzu­­tage offener geführt als früher.“

Glücklicher­­weise wird die Auseinander­­setzung mit dem Thema Sex in ortho­­doxen Kreisen heutzu­­tage offener geführt als früher. Ich war 2007 an der ersten veröffent­­lichten Studie beteiligt, die die Sexua­­lität und Erfah­­rungen verhei­­rateter ortho­­doxer Frauen unter­­sucht hat. Sie um­­fasste knapp 400 Frauen, denen wir viele Fragen zu ihrer Sexua­­lität und ihrem Sexual­­leben stellten.1 Wir befragten sie auch zu Dingen, die sie vor ihrer Hoch­­zeit gern gewusst hätten. Diese Frauen gaben an, dass sie nicht einmal Grund­­legendes über sexu­­elle Lust, über ihre eigenen Körper oder darüber, was in der Hochzeits­­nacht geschehen sollte, erfahren hatten. Und sie hatten sicher­­lich nicht das Gefühl, ein Recht auf Zustim­­mung zu haben.

Wenn ich mir die Sexual­­erziehung von vorehe­­lichen Aus­­bilderinnen in modernen ortho­­doxen Gemein­­schaften an­­schaue, stelle ich fest, dass Zustim­­mung und Einver­­nehmlichkeit heute eine größere Rolle spielen. Das Eden Center in Israel bietet trauma­­sensible Kurse für vorehe­­liche Ausbilde­­rinnen an. Weib­­liche hala­­chische Berate­­rinnen auf diesem Gebiet, die Joazot halacha, berichten, dass ihnen immer wieder Fragen gestellt werden wie: „Was ist, wenn ich in meiner Hochzeits­­nacht oder in der Mikwe-Nacht keinen Sex haben möchte?“ Es gibt inzwi­­schen mehr Informations­­material, mehr Bücher und mehr Blog­­beiträge. In Facebook-Gruppen oder durch Instagram-Influencer*innen wird in den sozialen Medien viel mehr über Sex und Inti­­mität in der ortho­­doxen Welt gesprochen. Ich halte das alles für einen sehr, sehr posi­­tiven Schritt nach vorn.

Gemein­­sam mit dem erfah­­renen ortho­­doxen Sexual­­therapeuten Dr. David Ribner habe ich das Buch I Am for My Beloved. A Guide to Enhanced Intimacy For Married Couples2 veröffent­­licht. Das Buch richtet sich zwar speziell an ortho­­doxe Paare, ent­­hält aber auch Bilder von Geni­­talien und ihrer Ana­­tomie. Außer­­dem abge­­bildet sind verschie­­denen Stel­­lungen beim Sex; diese Prak­­tiken werden ebenso besprochen wie Porno­­grafie und Un­­treue. Ich glaube, dieses Buch ist wirk­­lich einer der ersten Rat­­geber zu Inti­­mität und Sexua­­lität für ortho­­doxe Menschen.

Absolut! Sie haben eben von vorehe­lichen Unter­weisungen gesprochen: Welche Rolle spielen denn die Chatan- und Kallah-Lehre­rinnen bei all dem?

Viele junge ortho­doxe Menschen, vor allem in den sehr ortho­doxen Gemein­den, sprechen zum ersten Mal offiziell über Sex, wenn sie sich auf die Ehe vorbe­reiten. Die Art und Weise, wie diese Auf­klärung vonstatten­geht, ist sehr unter­schiedlich, es gibt keine einheit­lichen Vorga­ben oder Stan­dards. Ein posi­tives Bei­spiel ist in meinen Augen das schon er­wähnte Eden Center, eine Organi­sation, die von Dr. Naomi Marmon Grumet gegründet wurde. Sie hat in Israel sehr viel dafür getan, Frauen besser auf die Ehe vorzu­bereiten. Indem am Eden Center inten­sive Schu­lungen für Ausbil­derinnen zum Thema Sexua­lität ange­boten werden, können diese ihr Wissen an junge Frauen weiter­geben und sie damit richtig und ange­messen infor­mieren. Zudem hat sie unter­sucht, welche gesell­schaftlichen Bot­schaften junge Männer und Frauen in modern-ortho­doxen oder zionistisch-ortho­doxen Gemein­den zum Thema Sex empfangen. Sie fand heraus, dass Sexua­lität in der Entwick­lung junger Frauen kaum Platz einge­räumt wird: Sexua­lität bedeutet im Wesent­lichen, sich sitt­sam zu kleiden und zu verhalten, um bei Männern kein Begehren zu wecken.

Bei jungen Männern ist das anders. Sexua­lität wird aner­kannt und sexu­elle Gedanken und Gefühle werden bestätigt. Einem jungen Mann wird gesagt: „Wir wissen, dass du damit zu kämpfen hast. Aber wenn du heiratest, gibt es jeman­den, mit dem du deine sexu­ellen Bedürf­nisse aus­leben kannst.“ Und diese Bot­schaft, so wahr sie viel­leicht klingt, kann mit­unter großen Schaden anrichten. Sie weckt Erwar­tungen, sodass viele junge Männer glauben: „Meine Frau wird mich erlösen; und all die Fanta­sien und Wünsche, die ich bis­lang unter­drücken musste, kann ich nun aus­leben.“ Doch wenn diese Vorstel­lungen nicht von Beginn an Aspekte von Gegen­seitigkeit und Einver­ständnis bein­halten, wenn es kein Voka­bular für diese Dinge gibt – wie soll ein junges Paar dann darüber vor der Hoch­zeit sprechen? Wie können sie heraus­finden, was sich gut an­fühlt, wie die jeweiligen Bedürf­nisse und Beden­ken artikulieren? Wie stellt man sich das gemein­same Intim­leben vor, beziehungs­weise wie möchte man Intimi­tät fort­führen, wenn diese schon vor der Hoch­zeit bestand? Und wie möchte man als junges Paar die Einhal­tung der Gesetze hand­haben? Wenn es darum geht, offen über diese Fragen zu sprechen, sind die sehr Ortho­doxen und die Charedim, also die stärker chassi­disch ausge­richteten Gemein­schaften, noch nicht wirklich so weit. Aber da heut­zutage welt­liche Bot­schaften auch zu ihnen durch­sickern, ist es nicht ungewöhn­lich, dass junge chare­dische Frauen zu uns kommen und sagen: „Ich wollte in meiner Hochzeits­nacht keinen Sex haben. Ich kannte meinen Mann kaum. Ich bin bloß da, um seine Bedürf­nisse zu befrie­digen.“ Ein solches Bewusst­sein ent­stammt nicht dem gesell­schaftlichen System, in dem sie auf­wuchsen, sondern kommt von außen. Und in dem Maße, in dem west­liche Bot­schaften von den Charedi aufge­griffen werden, müssen auch sie sich mit diesen Ideen gesell­schaftlich auseinander­setzen. Doch auch für Männer kann der Beginn einer sexu­ellen Beziehung mit Ängsten behaftet sein. Männer haben oft das Gefühl, dass sie alles wissen müssten. Dass sie das Sagen haben. Und das kann für sie sehr, sehr schwierig sein.

Wie wirken sich die Gesetze zur Fami­liären Rein­heit Ihrer Meinung nach auf die Intimi­tät aus, sowohl für die Frau als auch für den Mann?

Uns allen wurde früher gesagt, dass taharat ha-mischpacha, die Gesetze zur Fami­liären Rein­heit, der Weg zu einem sexuell befriedi­genden Intim­leben seien. Uns wurde beige­bracht, dass, wenn man diese Gesetze ein­hält, die Bezie­hung frisch bleibe, denn die monat­liche Erneue­rung gebe einem das Gefühl, dass man sich immer wieder auf sexu­elle Inti­mität freue. Da meine Kolleg*innen und ich bei ortho­doxen Paaren jedoch häufig sexu­elle Funktions­störungen fest­stellten, haben wir irgend­wann begonnen, diese Behaup­tungen zu hinter­fragen. Einige Paare ent­scheiden sich bewusst für einen anderen Um­gang mit den taharat ha-mischpacha, was sich auf ihr Sexual­leben positiv aus­wirken kann, in dem Sinne, dass es ihnen ein Gefühl von Auto­nomie ver­mittelt. Es kann aber auch zu Kon­flikten führen, wenn unterschied­liche Auf­fassungen darüber vor­liegen, wie streng die Gesetze inner­halb der Partner­schaft einge­halten werden sollen. Heutzu­tage sind die Unter­weisungen dies­bezüglich viel ehr­licher, zum Beispiel wenn den Paaren oder den Verlobten offen gesagt wird: „Es ist nicht einfach.“ Und das ist es auch nicht.

Aber die Gesetze zur Fami­liären Rein­heit sind bloß ein Beispiel; vor­eheliche Berüh­rungen, vorehe­licher Sex sind andere Themen, die Paare beschäf­tigen können. Und dann ist da natür­lich noch das Thema LGBTQ+ und die Frage, was ist, wenn die eigene sexu­elle Orien­tierung nicht in den Quellen erwähnt wird, wenn sie nicht gebilligt wird oder die eigene Partner­schaft nicht als richtige Ehe gilt. In der Tora hei­raten Männer keine Männer. Und Frauen heiraten keine Frauen. Dafür gibt es keine Vor­lage, kein Bei­spiel. Und das löst oft eine Identitäts­krise aus: Wie bringe ich meine jüdische Iden­tität, meine hala­chische Iden­tität, meine reli­giöse Iden­tität mit meiner sexu­ellen Iden­tität in Ein­klang, damit, zu wem ich mich hinge­zogen fühle, wen ich liebe? Das wäre ein weiteres Beispiel für Themen, die vor etwa 20 Jahren gesell­schaftlich noch über­haupt nicht disku­tiert wurden; heute gibt es mehrere Organi­sationen, die sich damit beschäf­tigen.

Schwarz-weiße Grafik: zwei Frauen beim Geschlechtsakt. Auf einem Stuhl stehen zwei Kerzen und ein Becher zum Schabbat.

The Shekinah, aus der Serie Shabbat Sex Positions to Get Your Double Mitzvah On, Melissa Cetlin, a special project for At The Well, 2017

Bei LGBTQ+-Themen scheinen bestimmte Rabbiner, insbe­sondere inner­halb der modernen Ortho­doxie, Fort­schritte gemacht zu haben. Gibt es andere Bereiche, bei denen Therapie und Fragen der psychischen Gesund­heit Rabbiner dazu bewegen, etwas nach­sichtiger zu sein?

Ja, auf jeden Fall! Und zwar in vielen Bereichen, nicht nur bei Fragen der Sexua­lität. In den meisten rabbi­nischen Studien­gängen lernen die Rabbiner heute viel über psy­chische Gesund­heit. Im Juden­tum gibt es den Begriff Pikuach nefesch, der besagt, dass es Aus­nahmen von den hala­chischen Rege­lungen geben muss, wenn das Leben bedroht ist. Beim Fasten gilt das zum Bei­spiel für Menschen, die an einer Ess­störung leiden. Es wird also aner­kannt, dass LGBTQ+-Personen in einen inhä­renten Kon­flikt mit der Hala­cha geraten, was sich auf die psy­chische Gesund­heit aus­wirkt. Um Einfühlungs­vermögen zu zeigen und um Depres­sionen oder – Gott bewahre – Selbst­mord zu verhin­dern, müssen die Dinge noch viel inklu­siver werden. In der LGBTQ+-Welt gibt es einen großen Wunsch nach Akzep­tanz, der über das bloße Berück­sichtigt­werden hinaus­geht: LGBTQ+ ist keine Erkran­kung, und LGBTQ+-Personen wollen nicht als psy­chisch Kranke betrachtet werden, wenn es um ihre Iden­tität geht. Aller­dings müssen wir meines Erach­tens aner­kennen, dass sie, wenn sie reli­giös sind, wenn sie ortho­dox sind, wenn sie Charedim sind, Kon­flikte erfahren werden.

In unserem Pod­cast gibt es eine Epi­sode mit Rabbi Benny Lau, der über lo tow hajot ha-adam lewado spricht – die Idee, dass „es nicht gut ist, dass der Mensch allein bleibt“. Wenn man also homo­sexuell ist, sollte man mit einem Mann zusammen­leben. Und inner­halb der Gemeinde fragen wir nicht, was du in deinem Schlaf­zimmer tust, ganz gleich, ob du hetero- oder homo­sexuell bist. In der Tora steht nicht, dass man nicht homo­sexuell sein darf, son­dern dort wird ein bestimmtes Verbot gegen eine bestimmte Hand­lung ausge­sprochen. Das klingt nach einem moder­neren Ansatz.

Schwarz-weiße Grafik: eine Frau auf einem Sofa bei der Selbstbefriedigung. Daneben stehen zwei Kerzen und ein Hefezopf zum Schabbat.

The Digital Detox, aus der Serie Shabbat Sex Positions to Get Your Double Mitzvah On, Melissa Cetlin, a special project for At The Well, 2017

In der Aus­stellung Sex. Jüdische Positionen befassen wir uns mit Tabus und Fan­tasien. Inwie­fern sind unsere Fan­tasien vom jewei­ligen reli­giösen und kultu­rellen Hinter­grund geprägt?

Das müsste man tatsäch­lich mal unter­suchen! In meinen Augen ist Fan­tasie etwas sehr Mensch­liches und betrifft nicht speziell das Juden­tum oder irgend­eine Religion. Natür­lich kann man nicht aus wenigen anek­dotischen Erzäh­lungen allge­meine Schlüsse ziehen, aber einige sehr ortho­doxe Frauen, mit denen ich gespro­chen habe, haben mir von ihren Dominanz­fantasien berichtet, vor allem wenn sie sich im All­tag unter­drückt fühlten. Menschen, die auf­grund reli­giöser und kultu­reller Gepflogen­heiten rund um das Thema Sex sehr gehemmt sind, haben mit dem Inhalt ihrer Fanta­sien zu­weilen schwer zu kämpfen; die Vor­stellung, dass wir unsere Sexua­lität kontrol­lieren müssen, kann geradezu erdrückend sein. Und ich glaube, es ist auch wichtig, Menschen klar­zumachen, dass wir zwar Kontrolle über unser Ver­halten aus­üben können, aber dass unsere Sexua­lität auch etwas sehr Kom­plexes ist. Nicht jedes Be­gehren oder jeder Gedanke, der uns in den Sinn kommt, bedeutet zwangs­läufig, dass mit uns etwas nicht stimmt oder auch nur, dass wir diese Fantasie tat­sächlich aus­leben wollen. Die Meinungen und Hal­tungen einer Gesell­schaft zu Fanta­sien sind selten wirk­lich liberal. Die Idee, sich ganz auf eine*n Partner*in zu fokus­sieren und Dinge bewusst zu tun, ist ein wunder­bares Achtsam­keitsprinzip und kann sicher­lich zu unglaub­lichen sexu­ellen Erfah­rungen führen. Aber im All­tag ist das schlicht­weg nicht immer möglich. Und manch­mal haben Menschen eben Fanta­sien. Sie sind Teil dessen, wie unser Gehirn funk­tioniert. Des­halb könnte es für viele Menschen thera­peutisch hilf­reich sein, wenn sie sich diese Fanta­sien zuge­stehen würden. In einer Fantasie kann man sein, wer man will, und tun, was man will, ohne dafür be­straft zu werden. Also ja, Fanta­sien haben defi­nitiv einen Sinn.

Die #MeToo-Bewe­gung hatte unge­heure Auswir­kungen auf den heutigen Kultur­betrieb und den Um­gang mit Geschlecht und Gender. Hat die Debatte auch in der ortho­doxen Welt etwas bewirkt?

Ja, ich glaube, #MeToo hat ziem­lich viel verän­dert! Denn es gibt zahl­reiche Frauen, die sexu­elle Erfah­rungen ge­macht haben, für die sie sich schämen und für die sie sich selbst die Schuld geben. Teil­weise ist das jedoch dem Werte­kanon geschul­det, der von unserer Gesell­schaft vermit­telt wird: Wenn du etwas getrun­ken hast, auf eine bestimmte Weise geklei­det warst oder dich auf eine bestimmte Art und Weise verhal­ten hast … und wieso warst du über­haupt noch so spät nachts mit dem Typen unter­wegs? Ich glaube, die #MeToo-Bewe­gung hat möglicher­weise dazu beige­tragen, die Scham etwas zu lin­dern, zu heilen. Und sie hat auch ge­holfen zu erklä­ren, wes­halb die Betrof­fenen in solchen Situa­tionen erstar­ren: Inzwi­schen suchen trauma­tisierte Frauen und Männer welt­weit eine*n Thera­peut*in auf und ver­stehen end­lich, dass der soge­nannte Freeze-Zustand der Grund dafür war, dass sie nicht ge­schrien und geweint haben.

Außer­dem ist das Thema der Einver­nehmlich­keit all­mählich bei den Leuten ange­kommen – dass es also nicht in Ord­nung ist, jeman­den zu zwingen oder auszu­nutzen. Ich denke, in der Vergangen­heit haben sich junge Frauen, die Sex hatten, gesagt: Eigent­lich sollte ich so etwas nicht tun und damit gegen Schomer verstoßen – und wenn ich es doch tue, dann steht mir das Privi­leg oder das Recht auf Zustim­mung oder Ableh­nung gar nicht erst zu. In meinen Augen sollten wir uns gegen­seitig darin unter­stützen eigene Entschei­dungen treffen zu können; dann können wir auch selbst besser über Grenzen und Zustim­mung ent­scheiden.

„Sex sollte lustvoll und spielerisch sein – und wichtig für die eheliche Harmonie.“

Eine Freundin von mir hat ein­mal gesagt: Bittet man Menschen in New York, die Augen zu schließen und sich eine*n Sex­therapeut*in vorzu­stellen, dann sehen sie eine jüdische Frau. Nehmen wir Hirsch­feld und Freud, Dr. Ruth und Esther Perel – kann es sein, dass sich Jüdinnen und Juden beson­ders stark für dieses Thema interes­sieren? Und wenn ja, haben Sie eine Idee, woran das liegen könnte?

Meines Erach­tens ist ein wich­tiger Aspekt der, dass sich Jüdinnen und Juden ein­fach nicht in das katho­lische oder puri­tanische Werte­system ein­ordnen lassen. Und dass das Juden­tum Sexua­lität positiv gegen­übersteht, auch wenn Sex nur inner­halb der Ehe befür­wortet wird. Aber es wird nicht das Gefühl ver­mittelt, dass Sex an sich falsch oder schlecht oder böse ist. Sex ist eine Kraft. Und bei den damit verbun­denen jüdischen Werten geht es eher um Regle­mentierung und um Heilig­keit. Sex sollte lust­voll und spiele­risch sein – und wichtig für die ehe­liche Har­monie. Das könnte einer der Gründe sein, warum das Juden­tum eine relativ ent­spannte Hal­tung zum Thema Sex ein­nimmt.

Jewish Places

Erfahren Sie mehr über Magnus Hirschfeld und besuchen Sie seine Wirkungsstätte auf der interaktiven Karte. 
Mehr bei Jewish Places

Das Interview führte die Kuratorin Joanne Rosenthal.


  1. Michelle Friedman u. a., Observant Married Jewish Women and Sexual Life: An Empirical Study, in: Conversations 5, 2009/5770.↩︎
  2. David Ribner / Talli Rosenbaum, I Am For My Beloved: A Guide to Enhanced Intimacy for Married Couples, Urim Publications, 2020.↩︎
Bunte Fotocollage aus Kunstobjekten der Ausstellung.

Alle Angebote zur Ausstellung Sex. Jüdische Positionen

Über die Ausstellung
Sex. Jüdische Positionen – 17. Mai bis 6. Okt 2024
Publikationen
Sex. Jüdische Positionen – Katalog zur Ausstellung, deutsche Ausgabe, 2024
Sex: Jewish Positions – Katalog zur Ausstellung, englische Ausgabe, 2024
Digitale Angebote
Letʼs Talk About Sex – Online-Feature zur Ausstellung
Was sagen die Künstler*innen? – Interviewreihe zur Ausstellung auf YouTube
Soundtrack zur Ausstellung – auf Spotify
Das Lied der Lieder. Von buchstäblicher und allegorischer Liebe – Essay von Ilana Pardes
„Sex ist eine Kraft“ – Interview mit Talli Rosenbaum
Androgyne Figuren in I.B. Singers literarischem Schtetl – Essay von Helena Lutz
Jewish Places – ausstellungsbezogene, jüdische Orte auf der interaktiven Karte

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