Direkt zum Inhalt

Vater unser – Eine Sintifamilie erzählt

Drei Fragen an Anita Awosusi

In unserer Reihe Neue deutsche Geschichten stellte Anita Awosusi am 23. März 2017 ihr Buch Vater unser – Eine Sintifamilie erzählt in der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin vor. Mit ihrem Buch bringt die Autorin ihre Familienbiografie und die historischen Ereignisse und Nachwirkungen des Nationalsozialismus zusammen. Sie erzählt von der Geschichte ihres Vater und zugleich von ihrer eigenen Entwicklung: Als Bürgerrechtlerin kämpft sie auch heute gegen Diskriminierung und für gleichberechtigte Teilhabe der Sinti und Roma und war über zwanzig Jahre im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma aktiv.

Vorab – am 6. Februar 2017 – machten Serpil Polat und Rosa Fava ein kurzes Interview mit Anita Awosusi und stellten ihr folgende drei Fragen:

Sie nennen Ihr Buch Vater unser – Eine Sintifamilie erzählt. Ist die Anspielung auf das Vaterunser, eines der wichtigsten christlichen Gebete, bewusst gewählt? Falls ja, was wollen Sie damit ausdrücken?

Der Titel Vater unser entstand daraus, dass meine Schwestern und ich immer „unser Vater“ sagen, wenn wir über unsere Eltern erzählen. Zudem hatte unser Vater in unserer Familie eine sehr tragende Rolle als Familienoberhaupt. Das heißt aber keinesfalls, dass unsere Mutter weniger Respekt von ihren Kindern bekam. Außerdem gibt es noch einen zweiten Grund: Das christliche Glaubensbekenntnis Vaterunser brachte mir meine geliebte Tante Henriette bei, die im Gegensatz zu Vater sehr gläubig war. Bei ihr durfte ich immer viel Zeit verbringen. Sie, die Schwester unseres Vaters, war für mich eine sehr wichtige Bezugsperson in meiner Kindheit. Auf diese Weise hatte das Vaterunser ebenfalls Einfluss auf den Buchtitel.

Portät einer älteren Dame mit Dutt

Anita Awosusi engagiert sich für die Rechte der Sinti und Roma; Foto: privat

Was hat Sie dazu bewegt, die Geschichte Ihres Vaters, in enger Verbindung mit Ihrer eigenen Biografie, niederzuschreiben?

Dadurch, dass ich mich so intensiv im beruflichen Leben mit dem Nationalsozialismus beschäftigt habe, kam es überhaupt erst dazu, dass ich mich mit meinen Schwestern in den letzten Jahren nach Vaters Tod immer wieder mit der Verfolgungsgeschichte unserer Familie auseinandersetzte. Diese Reflexion und die Tatsache, dass die Vorurteile, der Rassismus gegen uns Sinti und Roma bis heute das Feindbild des Antiziganismus bedient, bewog mich, die Familiengeschichte aus meiner Sicht zu erzählen.

Sie haben selbst sehr viel dafür getan, die verdrängten nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma zum Thema zu machen und im öffentlichen Gedächtnis zu verankern. Gleiches gilt für die Diskriminierung in der Nachkriegszeit bis weit in die Gegenwart. Würden Sie sagen, Deutschland trägt angemessen Verantwortung für das Unrecht?

Eines der vorrangigen Ziele unserer Bürgerrechtsbewegung war es, die Völkermordverbrechen an unserer Minderheit nach Jahrzehnten der Verdrängung seitens der Bundesrepublik nicht nur ins allgemeine Bewusstsein zu rücken, sondern auch auf die Kontinuitäten rassistischer Denkmuser aufmerksam zu machen. Im Falle unserer Minderheit sahen sich die Täter Jahrzehnte nach 1945 gegenüber den Opfern in der Deutungshoheit. Dies hat bis heute die entscheidende Weichenstellung im Umgang mit Sinti und Roma gelegt. Bis in die 1970er Jahre gab es kaum Kräfte, die sich zivilgesellschaftlich den – auch staatlicherseits sanktionierten – Zerrbildern vom „Zigeuner“ und der hierauf gegründeten Ausgrenzung unserer Minderheit gestellt haben. Somit fehlte jahrzehntelang ein wirksames Gegengewicht der Wissenschaft, das die rassistische Konstruktion und die Stereotype über Sinti und Roma hätte aufzeigen können. Diese Vorurteilsstrukturen werden erst heute aufgebrochen. Und wenn dies zu genüge getan ist, erst dann wird die Verantwortung Deutschlands in Bezug auf das Unrecht angemessen sein.

Die Fragen stellten Serpil Polat (Akademieprogramm zu Migration und Diversität) und Rosa Fava (W. M. Blumenthal Fellow des Jüdischen Museums Berlin).

Buchcover, das einen älteren, weißhaarigen, bärtigen Herrn zeigt, der Cello spielt.

Die Autorin berichtet im Buch Vater unser – Eine Sintifamilie erzählt von ihrer Familiengeschichte; Verlag Regionalkultur

Zitierempfehlung:

Rosa Fava, Serpil Polat (2017), Vater unser – Eine Sintifamilie erzählt. Drei Fragen an Anita Awosusi.
URL: www.jmberlin.de/node/6267

Interviewreihe: Neue deutsche Geschichten (12)

Links zu Themen, die Sie interessieren könnten

Teilen, Newsletter, Kontakt