„Ma première photo“
Selbstporträt Ilse Bing, Frankfurt am Main, 1913, Ankauf, 2015
Der Spiegel eines Kleiderschrankes zeigt eine Jugendliche mit langen Haaren. Sie trägt ein Kleid und sitzt auf einem Tisch. Neben ihr liegt eine Kamera, ihre Hand ist am Auslöser. Der Blick geht in den Spiegel. Auf der Rückseite der Fotografie steht „Autoportrait dans ma chambre / ma première photo“ (Selbstporträt in meinem Zimmer / mein erstes Foto). Das Selbstporträt zeigt die später bekannt gewordene Fotografin Ilse Bing als 14-Jährige in ihrem Jugendzimmer in Frankfurt am Main. Das Jüdische Museum Berlin hat die Fotografie 2015 angekauft. Sie ist die neueste Ergänzung einer Reihe von insgesamt drei Selbstporträts der Fotografin.
Selbstinszenierung mit dem Spiegel
Ein häufiges Motiv in Ilse Bings Werk ist die Selbstinszenierung mit Spiegel. Immer wieder spielt sie dabei mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung und der Vielschichtigkeit unterschiedlicher Blicke auf das eigene Ich. Auch die anderen zwei Fotografien in der Sammlung des Museums sind Selbstporträts mit Spiegel.
Fotografien als wichtige Stationen im Leben
1931 fotografiert sie sich in Paris mit ihrer Leica und 1936 inmitten der Skyline New Yorks. Die Entstehungsorte der Fotografien stellen wichtige Stationen ihres Lebenswegs dar: 1899 in Frankfurt geboren, wuchs Ilse Bing in einer bürgerlichen jüdischen Familie auf. Bevor sie sich der Fotografie widmete, studierte sie Mathematik und Physik und später Kunstgeschichte. 1930 zog sie nach Paris, da sie von einer Ausstellung der in Paris lebenden Fotografin Florence Henri tief beeindruckt war. Im Sommer 1936 reiste sie auf Einladung einer Galerie für ihre erste Einzelausstellung nach New York.
Nach ihrer Rückkehr nach Paris änderte sich ihr Leben schlagartig durch den Einfall deutscher Truppen. 1940 musste sie die Stadt verlassen und wurde im Internierungslager Gurs festgehalten. Zusammen mit ihrem Mann gelang ihr im Juni 1941 nach einem längeren Aufenthalt in Marseille die Flucht nach Amerika, wo sie in New York weiterhin als Fotografin arbeitete, aber nicht mehr an ihre Pariser Erfolge anknüpfen konnte.
Biografische Verflechtungen in den Sammlungen des Jüdischen Museums
Neben dem künstlerischen Ausdruck visualisieren die Selbstporträts als Dreiklang die Biografie der Fotografin: ihr bürgerliches Aufwachsen in Frankfurt, ihre kreative Entfaltung in Paris und ihre Flucht nach New York durch die nationalsozialistische Verfolgung. Als jüdisches Museum suchen wir unsere Schwerpunkte nicht nur in der Abbildung eines Werkes, sondern auch in dessen biografischen Verflechtungen. Die drei Selbstporträts von Ilse Bing sind dafür ein schönes Beispiel.
Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie
Zitierempfehlung:
Theresia Ziehe (2021), „Ma première photo“. Selbstporträt Ilse Bing, Frankfurt am Main, 1913, Ankauf, 2015.
URL: www.jmberlin.de/node/8219