Holocausterinnerung in der Ukraine von Sowjetzeiten bis heute
Interview mit Anna Medvedovska, Historikerin, Institute for Holocaust Studies in Dnipro
Anna Medvedovska, Historikerin am Ukrainischen Institut für Holocaust-Studien in Dnipro (Tkuma), war am 2. März 2023 zu Gast im Jüdischen Museum Berlin, als Teil des Panels zu Dnipro der Veranstaltungsreihe Ukraine im Kontext. Im Interview spricht sie über sowjetische Perspektiven auf den Holocaust, inoffizielle Gegenerzählungen, Erinnerungskonkurrenzen in postsowjetischer Zeit und andere Hindernisse beim Versuch, die Geschichte des Holocaust in die nationale Erzählung der Ukraine aufzunehmen. Einen kurzen Ausschnitt aus dem Interview finden Sie auf dieser Seite auch als Video.
Was verbindet Sie persönlich mit Dnipro und dortigem jüdischem Leben in Vergangenheit und Gegenwart?
Ich bin Historikerin und erforsche den Umgang mit dem Holocaust in der Ukraine. Was Dnipro angeht, so betrachte ich die Stadt als meine familiäre Heimat, denn ich selbst bin zwar nicht dort geboren, aber einige Generationen meiner Familie vor mir lebten in dieser Stadt. Auch meine Großeltern lernten sich in Dnipro kennen und heirateten dort, mussten später aber in eine kleinere Stadt in derselben Region umziehen, um die antisemitische Kampagne im Spätstalinismus zu überstehen.
Ich bin dann nach Dnipro gezogen, habe an der Fakultät für Geschichte studiert und die meiste Zeit meines Lebens dort verbracht. Und gleich nach dem Abschluss hatte ich das Glück, eine Stelle am Ukrainischen Institut für Holocaust-Studien in Dnipro, dem Tkuma-Institut, zu bekommen. Ich gehörte dem Team an, das eine Ausstellung für das Holocaust-Museum entwickelte, das erste große Holocaust-Museum in der Ukraine, das 2012 in Dnipro eröffnet wurde. Das war wirklich ein sehr bedeutendes Ereignis für das jüdische Leben, die jüdische Gemeinschaft und auch für mich persönlich.
Gibt es eine spezifisch sowjetische Perspektive auf den Holocaust?
Ja, natürlich. Kurz gesagt: Wenn wir über den offiziellen Diskurs in der Sowjetunion sprechen, wollten die sowjetischen Behörden Jüdinnen*Juden nicht als eine separate Kategorie von Opfern herausstellen. Sie leugneten den Holocaust zwar nicht, aber sie gaben den jüdischen Opfern eine andere, eine euphemistische Identität: als Sowjetbürger, als friedliche Sowjetbürger.
Im öffentlichen Diskurs hat der Holocaust nie existiert. Die meisten Schauplätze des Holocaust wurden vernachlässigt oder überbaut, ohne dass sie kenntlich gemacht wurden oder es eine Gedenkstätte gab.
Erst als der Zweite Weltkrieg in den späten 1960er und 1970er Jahren Teil einer großen sowjetischen Geschichtsmythologie wurde, wurden Gedenkorte an diesen Holocaust-Stätten eingerichtet, allerdings ohne Jüdinnen*Juden und die jüdische Erfahrung zu erwähnen.
Gab es inoffizielle Gegenerzählungen?
Das Ausmaß dieser Tragödie ist so gewaltig, dass es nicht einmal einige Generationen später möglich war, sie zu verbergen. Die Erinnerung wurde in Gesprächen bewahrt, sowohl unter Jüdinnen*Juden als auch zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bürger*innen. So wussten alle davon. Man konnte im Privaten darüber sprechen, aber nicht in der Öffentlichkeit, nicht in Büchern und nicht in Zeitungen.
Sowjetische Schriftsteller*innen und die kreative Intelligenz versuchten, das Thema Holocaust in die Öffentlichkeit zu tragen. Doch ihre Werke konnten wegen der Zensur nicht immer ein Publikum erreichen. Wer versuchte, offen und direkt darüber zu sprechen, einfach die Dinge beim Namen zu nennen, stieß bei der sowjetischen Zensur und den sowjetischen Behörden auf Unverständnis. So wurden alle Auseinandersetzungen im Keim erstickt.
Änderte sich die Erinnerungskultur in postsowjetischer Zeit?
Die Beschränkungen des Gedenkens und der öffentlichen Diskussion wurden schon in den späten 1980er-Jahren aufgehoben. In den 1990er-Jahren, nach der Unabhängigkeit, konnte natürlich jeder über den Holocaust in der Ukraine forschen, reden und Wissen verbreiten. Aber gleichzeitig nahm der Staat keine offizielle Position zu diesem Thema ein. Die gesamte Initiative für das Gedenken, das Erinnern und das Lernen über den Holocaust lag in den Händen der jüdischen Gemeinden und privater Interessengruppen, die Geld für Denkmäler sammelten, um wenigstens etwas zum Gedenken an die kleinen jüdischen Gemeinden zu tun.
Erwähnenswert sind auch einige Nichtregierungsorganisationen, die in den späten 1990er-Jahren in der Ukraine gegründet wurden. Meine eigene Einrichtung, das Ukrainische Institut für Holocaust-Studien Tkuma, entstand 1999, und einige Jahre später wurde eine ähnliche Einrichtung, das Zentrum für Holocaust-Studien, in Kiew eingerichtet. Beide Einrichtungen waren darauf ausgerichtet, Wissen über den Holocaust zu verbreiten. Sie sammelten Erinnerungen von Überlebenden, arbeiteten mit Lehrkräften zusammen.
Brachte der Euromaidan erneut Veränderungen in der Art des Erinnerns?
Dieser Fortschritt ist nicht linear. Es ist nicht immer einfach, ihn an einem bestimmten Ereignis festzumachen. Aber nachdem sich der Kurs in Bezug auf Europa geändert hatte, was erstmals während der Orangenen Revolution geschah, konnten wir bereits einen Unterschied in den Diskussionen über den Holocaust feststellen. Kurz nach der Orangenen Revolution im Jahr 2005 veröffentlichte eine der fortschrittlichsten kulturwissenschaftlichen Zeitschriften die erste Auseinandersetzung mit dem Holocaust, und einige liberale Wortführer*innen stellten fest, dass die jüdische Vergangenheit, die jüdische Seite der Geschichte in den ukrainischen Erzählungen unterrepräsentiert sei und es viele unangenehme und komplexe Themen in den ukrainisch-jüdischen Beziehungen gebe, die wir einfach vergessen hatten. Wir hatten sie in unserer Geschichtsschreibung ignoriert, und es war sehr wichtig, dass dieses Thema nun überhaupt im öffentlichen Raum auftauchte.
Diese Diskussion blieb weitgehend unbemerkt und hatte keine große öffentliche Resonanz. Doch einige Jahre später, 2009, wurde eines der populärsten Bücher der Ukraine ins Ukrainische übersetzt: Erased von dem US-Historiker Omer Bartov über die schwindenden Spuren der jüdischen Vergangenheit in der Westukraine.
2012 veröffentlichte dann ein kanadischer Historiker ukrainischer Abstammung einen Artikel, der aus dem Englischen ins Ukrainische übersetzt, auf einer sehr beliebten, vielgelesenen historischen Online-Plattform veröffentlicht wurde und eine große Diskussion auslöste. In dem Artikel ging es um das Pogrom in Lwiw gegen Jüdinnen*Juden, das zu Beginn der Nazi-Besatzung im Jahr 1941 stattfand. Es ist nur ein Beispiel von sehr vielen Pogromen, die sich in verschiedenen Städten und Gemeinden der Westukraine ereigneten. Und es war wie ein weißer Fleck in der ukrainischen Geschichtsschreibung. Die meisten Menschen hatten noch nie über die ukrainische Beteiligung an antijüdischer Gewalt nachgedacht, und zwar nicht nur wegen antisemitischer oder nationalistischer Ansichten, wie man sie vom Westen aus wahrnimmt, da westliche Wissenschaftler*innen und Historiker*innen immer wieder darüber schreiben. Sie waren sich dessen einfach nicht bewusst, weil das Thema nicht auf ihrem Radar war. Niemand wusste von den Pogromen, niemand sprach über die Pogrome, und niemand wollte über die Pogrome sprechen. Wenn ich die Diskussion in den Jahren nach 2014 verfolge, würde ich sagen, dass nun niemand mehr ernsthaft die Pogrome und die Beteiligung auch von Ukrainer*innen an antijüdischer Gewalt leugnet.
Gab es Konflikte aufgrund von Erinnerungskonkurrenzen?
Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie laut und, ich würde sogar sagen, skandalös es war, als der Präsident einen nationalistischen Führer, Stepan Bandera, zum ukrainischen Nationalhelden ernannte. Das hat die polnische und die jüdische Gemeinschaft natürlich sehr aufgewühlt, weil es sich um einen Erinnerungskonflikt handelt. Die Ukrainer*innen nahmen die nationalistische Bewegung als Befreier*innen wahr, die in einer für die ukrainischen Soldaten sehr schwierigen Zeit heldenhaft für die Unabhängigkeit gekämpft haben, als das ukrainische Territorium zwischen zwei Regimen aufgeteilt war: dem sowjetischen Regime, das Anfang der 1930er-Jahre den Holodomor orchestrierte, und dem polnischen Staat, dessen Praktiken sich nicht so sehr von denen der Sowjetunion unterschieden. Darum suchten die ukrainischen Nationalist*innen Verbündete im Ausland, um den Kampf um die Unabhängigkeit zu organisieren und während des Zweiten Weltkriegs dann auch zu gewinnen. Schon lange vor Beginn des Zweiten Weltkriegs arbeiteten sie mit Deutschland zusammen. Sie suchten ständig nach anderen Möglichkeiten, aber leider wollten weder das Vereinigte Königreich noch Frankreich noch die Vereinigten Staaten das ukrainische Projekt in Betracht ziehen, und das trieb die nationalistischen politischen Führer in die Arme der Deutschen.
Gibt es weitere Hindernisse, die Geschichte des Holocaust in die nationale Erzählung der Ukraine aufzunehmen?
Das ist eine sehr gute Frage, denn ehrlich gesagt gibt es viele Hindernisse. Aber ein ganz allgemeines kann ich direkt aus Ihrer Frage ableiten, nämlich die nationale Erzählung der Ukraine. Was meinen wir mit diesem Begriff? Eine solche Erzählung mussten wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Grund auf neu erfinden. Wir mussten die ukrainische Geschichte völlig neu schreiben und die Schwerpunkte ändern, um sie zu begreifen. Was verstehen wir unter einer ukrainischen nationalen Geschichtsschreibung? Was müssen wir darin einbeziehen? Was ist das? Was nennen wir die ukrainische politische Nation? Das zu beantworten ist nicht einfach. Das passiert nicht sofort.
Man muss zudem festhalten, dass wir als Vermächtnis der Sowjetunion unter anderem eine postsowjetische Bürokratie und postsowjetische Historiker*innen geerbt haben, die dazu ausgebildet und bereit waren, die Befehle des Staates zu erfüllen. Man kann dieses Paradigma nicht von heute auf morgen ändern. Es kann Jahre, sogar Jahrzehnte dauern. Doch Schüler*innen und Studierende brauchten ihr Lehrbuch sofort. Zum Beispiel diese Veränderungen zwischen 1990 und 1991: In einem Jahr ist man noch in der Sowjetunion, im nächsten Jahr schon in der unabhängigen Ukraine. Wie soll man diese Geschichte lehren, und wie soll man sie lernen? Um den Holocaust in die ukrainische Nationalgeschichte zu integrieren, müssen wir also zunächst diese Geschichte schreiben und die methodischen Grundlagen und Ansätze für das Schreiben dieser Geschichte verstehen. Das ist das Haupthindernis.
Werden die Diskussionen über Erinnerungskonkurrenzen trotz des aktuellen Krieges weitergeführt?
Im Moment haben wir eine solche Agenda ... es ist sehr schwierig, dagegen anzukommen. Deshalb fürchte ich, dass gerade nicht so viele Menschen über den Holocaust nachdenken und sprechen. Aber ich habe einen Fortschritt in der Wahrnehmung und Diskussion dieses Themas im Jahr 2021 bemerkt, als eine der kritischsten Biografien über Stepan Bandera aus dem Deutschen übersetzt und auf Ukrainisch veröffentlicht wurde.
Jetzt interessieren sich vor allem immer mehr Ukrainer*innen für ihre eigene Geschichte. Denn ich würde sagen, wir können von der ukrainischen Gesellschaft nicht erwarten, dass sie den Holocaust als Teil ihrer eigenen Geschichte wahrnimmt, wenn es so viele Kapitel der ukrainischen Geschichte gibt, die nicht objektiv wahrgenommen werden.
In der ukrainischen Armee und in der Ukraine insgesamt gibt es viele Ethnien. Es gibt Ukrainer*innen, Jüdinnen*Juden, Rumän*innen, Krimtatar*innen und viele, viele andere Völker. Und ich bin überzeugt, dass es nach diesem Krieg nicht möglich sein wird, die Geschichte der Ukraine nur als die Geschichte der ethnischen Ukrainer*innen zu schreiben.
Die Fragen stellte Mirjam Bitter, Jüdisches Museum Berlin, März 2023.
Zitierempfehlung:
Mirjam Bitter (2023), Holocausterinnerung in der Ukraine von Sowjetzeiten bis heute. Interview mit Anna Medvedovska, Historikerin, Institute for Holocaust Studies in Dnipro.
URL: www.jmberlin.de/node/9961