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Holocaust­erinnerung in der Ukraine von Sowjet­zeiten bis heute

Interview mit Anna Medvedovska, Historikerin, Institute for Holocaust Studies in Dnipro

Vogelperspektive auf eine Stadt, im Vordergrund ein modernes Gebäude mit vielen hohen Türmen.

Das jüdische Kultur­zentrum Menorah in Dnipro; LP inside, CC0, via Wikimedia Commons

Anna Medvedovska, Historikerin am Ukrainischen Institut für Holocaust-Studien in Dnipro (Tkuma), war am 2. März 2023 zu Gast im Jüdischen Museum Berlin, als Teil des Panels zu Dnipro der Veranstaltungs­reihe Ukraine im Kontext. Im Interview spricht sie über sowjetische Perspektiven auf den Holocaust, inoffizielle Gegen­erzählungen, Erinnerungs­konkurrenzen in post­sowjetischer Zeit und andere Hinder­nisse beim Versuch, die Geschichte des Holocaust in die nationale Erzählung der Ukraine aufzunehmen. Einen kurzen Ausschnitt aus dem Interview finden Sie auf dieser Seite auch als Video.

Was verbindet Sie persönlich mit Dnipro und dortigem jüdischem Leben in Vergangen­heit und Gegen­wart?

Ich bin Historikerin und erforsche den Umgang mit dem Holocaust in der Ukraine. Was Dnipro angeht, so betrachte ich die Stadt als meine familiäre Heimat, denn ich selbst bin zwar nicht dort geboren, aber einige Generationen meiner Familie vor mir lebten in dieser Stadt. Auch meine Groß­eltern lernten sich in Dnipro kennen und heirateten dort, mussten später aber in eine kleinere Stadt in derselben Region umziehen, um die anti­semitische Kampagne im Spät­stalinismus zu überstehen.

Ich bin dann nach Dnipro gezogen, habe an der Fakultät für Geschichte studiert und die meiste Zeit meines Lebens dort verbracht. Und gleich nach dem Abschluss hatte ich das Glück, eine Stelle am Ukrainischen Institut für Holocaust-Studien in Dnipro, dem Tkuma-Institut, zu bekommen. Ich gehörte dem Team an, das eine Aus­stellung für das Holocaust-Museum ent­wickelte, das erste große Holocaust-Museum in der Ukraine, das 2012 in Dnipro eröffnet wurde. Das war wirklich ein sehr bedeutendes Ereignis für das jüdische Leben, die jüdische Gemein­schaft und auch für mich persönlich.

Frau mit schwarzen, langen Haaren und dunkler Jacke schaut freundlich in die Kamera.

Anna Medvedovska; Foto: Privat

Gibt es eine spezifisch sowjetische Perspektive auf den Holocaust?

Ja, natürlich. Kurz gesagt: Wenn wir über den offiziellen Diskurs in der Sowjet­union sprechen, wollten die sowjetischen Behörden Jüdinnen*Juden nicht als eine separate Kategorie von Opfern heraus­stellen. Sie leugneten den Holocaust zwar nicht, aber sie gaben den jüdischen Opfern eine andere, eine euphe­mistische Identität: als Sowjet­bürger, als friedliche Sowjet­bürger.

Im öffentlichen Diskurs hat der Holocaust nie existiert. Die meisten Schau­plätze des Holocaust wurden ver­nachlässigt oder über­baut, ohne dass sie kenntlich gemacht wurden oder es eine Gedenk­stätte gab.

Erst als der Zweite Weltkrieg in den späten 1960er und 1970er Jahren Teil einer großen sowjetischen Geschichts­mythologie wurde, wurden Gedenk­orte an diesen Holocaust-Stätten eingerichtet, allerdings ohne Jüdinnen*Juden und die jüdische Erfahrung zu erwähnen.

Schlichter grauer, aufrecht stehender Stein mit goldener Inschrift in kyrillischen Buchstaben, im Hintergrund zwei Bäume.

Gedenk­stein mit der Inschrift „Für die zivilen Opfer des Faschismus, Oktober 1941“, Dnipro, Gagarin Park; Sllqwk, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Gab es inoffizielle Gegenerzählungen?

Das Aus­maß dieser Tragödie ist so gewaltig, dass es nicht einmal einige Generationen später möglich war, sie zu verbergen. Die Erinnerung wurde in Gesprächen bewahrt, sowohl unter Jüdinnen*Juden als auch zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bür­ger*innen. So wussten alle davon. Man konnte im Privaten darüber sprechen, aber nicht in der Öffentlich­keit, nicht in Büchern und nicht in Zeitungen.

Das Ausmaß dieser Tragödie ist so gewaltig, dass es nicht möglich war, sie zu verbergen.

Sowjetische Schrift­steller*innen und die kreative Intelligenz versuchten, das Thema Holocaust in die Öffentlich­keit zu tragen. Doch ihre Werke konnten wegen der Zensur nicht immer ein Publikum erreichen. Wer versuchte, offen und direkt darüber zu sprechen, einfach die Dinge beim Namen zu nennen, stieß bei der sowjetischen Zensur und den sowjetischen Behörden auf Unverständnis. So wurden alle Auseinander­setzungen im Keim erstickt.

Änderte sich die Erinnerungs­kultur in post­sowjetischer Zeit?

Die Beschränkungen des Gedenkens und der öffentlichen Diskussion wurden schon in den späten 1980er-Jahren aufgehoben. In den 1990er-Jahren, nach der Unab­hängigkeit, konnte natürlich jeder über den Holocaust in der Ukraine forschen, reden und Wissen verbreiten. Aber gleich­zeitig nahm der Staat keine offizielle Position zu diesem Thema ein. Die gesamte Initiative für das Gedenken, das Erinnern und das Lernen über den Holocaust lag in den Händen der jüdischen Gemeinden und privater Interessen­gruppen, die Geld für Denkmäler sammelten, um wenigstens etwas zum Gedenken an die kleinen jüdischen Gemeinden zu tun.

Filmischer Aus­schnitt aus dem Interview mit Anna Medvedovska; Jüdisches Museum Berlin, 2023

Erwähnens­wert sind auch einige Nicht­regierungs­organisationen, die in den späten 1990er-Jahren in der Ukraine gegründet wurden. Meine eigene Einrichtung, das Ukrainische Institut für Holocaust-Studien Tkuma, entstand 1999, und einige Jahre später wurde eine ähnliche Einrichtung, das Zentrum für Holocaust-Studien, in Kiew eingerichtet. Beide Ein­richtungen waren darauf aus­gerichtet, Wissen über den Holocaust zu verbreiten. Sie sammelten Erinnerungen von Über­lebenden, arbeiteten mit Lehr­kräften zusammen.

Brachte der Euro­maidan erneut Ver­änderungen in der Art des Erinnerns?

Dieser Fortschritt ist nicht linear. Es ist nicht immer einfach, ihn an einem bestimmten Ereignis festzumachen. Aber nachdem sich der Kurs in Bezug auf Europa geändert hatte, was erstmals während der Orangenen Revolution geschah, konnten wir bereits einen Unter­schied in den Diskussionen über den Holocaust feststellen. Kurz nach der Orangenen Revolution im Jahr 2005 veröffentlichte eine der fort­schrittlichsten kultur­wissen­schaftlichen Zeit­schriften die erste Aus­einander­setzung mit dem Holocaust, und einige liberale Wort­führer*innen stellten fest, dass die jüdische Ver­gangenheit, die jüdische Seite der Geschichte in den ukrainischen Erzählungen unter­repräsentiert sei und es viele unangenehme und komplexe Themen in den ukrainisch-jüdischen Beziehungen gebe, die wir einfach vergessen hatten. Wir hatten sie in unserer Geschichts­schreibung ignoriert, und es war sehr wichtig, dass dieses Thema nun überhaupt im öffentlichen Raum auf­tauchte.

Diese Diskussion blieb weitgehend unbemerkt und hatte keine große öffentliche Resonanz. Doch einige Jahre später, 2009, wurde eines der populärsten Bücher der Ukraine ins Ukrainische übersetzt: Erased von dem US-Historiker Omer Bartov über die schwindenden Spuren der jüdischen Vergangenheit in der Westukraine.

Die meisten Menschen hatten noch nie über die ukrainische Beteiligung an anti­jüdischer Gewalt nach­gedacht.

2012 veröffentlichte dann ein kanadischer Historiker ukrainischer Abstammung einen Artikel, der aus dem Englischen ins Ukrainische übersetzt, auf einer sehr beliebten, viel­gelesenen historischen Online-Plattform ver­öffentlicht wurde und eine große Diskussion auslöste. In dem Artikel ging es um das Pogrom in Lwiw gegen Jüdinnen*Juden, das zu Beginn der Nazi-Besatzung im Jahr 1941 stattfand. Es ist nur ein Beispiel von sehr vielen Pogromen, die sich in ver­schiedenen Städten und Gemeinden der West­ukraine ereigneten. Und es war wie ein weißer Fleck in der ukrainischen Geschichts­schreibung. Die meisten Menschen hatten noch nie über die ukrainische Beteiligung an anti­jüdischer Gewalt nach­gedacht, und zwar nicht nur wegen anti­semitischer oder nationa­listischer Ansichten, wie man sie vom Westen aus wahr­nimmt, da west­liche Wissen­schaftler*innen und Histori­ker*innen immer wieder darüber schreiben. Sie waren sich dessen einfach nicht bewusst, weil das Thema nicht auf ihrem Radar war. Niemand wusste von den Pogromen, niemand sprach über die Pogrome, und niemand wollte über die Pogrome sprechen. Wenn ich die Diskussion in den Jahren nach 2014 verfolge, würde ich sagen, dass nun niemand mehr ernsthaft die Pogrome und die Beteiligung auch von Ukrainer*innen an anti­jüdischer Gewalt leugnet.

Gab es Konflikte aufgrund von Erinnerungs­konkurrenzen?

Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie laut und, ich würde sogar sagen, skandalös es war, als der Präsident einen nationa­listischen Führer, Stepan Bandera, zum ukrainischen National­helden ernannte. Das hat die polnische und die jüdische Gemeinschaft natürlich sehr aufgewühlt, weil es sich um einen Erinnerungs­konflikt handelt. Die Ukrainer*innen nahmen die nationa­listische Bewegung als Befreier*innen wahr, die in einer für die ukrainischen Soldaten sehr schwierigen Zeit helden­haft für die Unab­hängigkeit gekämpft haben, als das ukrainische Territorium zwischen zwei Regimen auf­geteilt war: dem sowjetischen Regime, das Anfang der 1930er-Jahre den Holodomor orchestrierte, und dem polnischen Staat, dessen Praktiken sich nicht so sehr von denen der Sowjet­union unter­schieden. Darum suchten die ukrainischen Nationa­list*innen Ver­bündete im Ausland, um den Kampf um die Unab­hängigkeit zu organisieren und während des Zweiten Welt­kriegs dann auch zu gewinnen. Schon lange vor Beginn des Zweiten Welt­kriegs arbeiteten sie mit Deutsch­land zusammen. Sie suchten ständig nach anderen Möglich­keiten, aber leider wollten weder das Vereinigte König­reich noch Frank­reich noch die Ver­einigten Staaten das ukrainische Projekt in Betracht ziehen, und das trieb die nationa­listischen politischen Führer in die Arme der Deutschen.

Stepan Bandera

(1909–1959)
Mehr bei Wikipedia

Holodomor

Von Stalin und seinen Gefolgs­leuten verursachte Hungers­not zu Beginn der 1930er-Jahre.
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Gibt es weitere Hinder­nisse, die Geschichte des Holocaust in die nationale Erzählung der Ukraine auf­zunehmen?

Das ist eine sehr gute Frage, denn ehrlich gesagt gibt es viele Hinder­nisse. Aber ein ganz all­gemeines kann ich direkt aus Ihrer Frage ableiten, nämlich die nationale Erzählung der Ukraine. Was meinen wir mit diesem Begriff? Eine solche Erzählung mussten wir nach dem Zusammen­bruch der Sowjet­union von Grund auf neu erfinden. Wir mussten die ukrainische Geschichte völlig neu schreiben und die Schwer­punkte ändern, um sie zu begreifen. Was ver­stehen wir unter einer ukrainischen nationalen Geschichts­schreibung? Was müssen wir darin einbe­ziehen? Was ist das? Was nennen wir die ukrainische politische Nation? Das zu beantworten ist nicht einfach. Das passiert nicht sofort.

Als Vermächtnis der Sowjet­­union haben wir unter anderem eine post­­sowjetische Büro­kratie und post­­sowjetische Historiker*innen geerbt.

Man muss zudem festhalten, dass wir als Vermächtnis der Sowjet­union unter anderem eine post­sowjetische Büro­kratie und post­sowjetische Historiker*innen geerbt haben, die dazu ausge­bildet und bereit waren, die Befehle des Staates zu erfüllen. Man kann dieses Paradigma nicht von heute auf morgen ändern. Es kann Jahre, sogar Jahr­zehnte dauern. Doch Schüler*innen und Studierende brauchten ihr Lehrbuch sofort. Zum Beispiel diese Ver­änderungen zwischen 1990 und 1991: In einem Jahr ist man noch in der Sowjet­union, im nächsten Jahr schon in der unab­hängigen Ukraine. Wie soll man diese Geschichte lehren, und wie soll man sie lernen? Um den Holocaust in die ukrainische National­geschichte zu inte­grieren, müssen wir also zunächst diese Geschichte schreiben und die metho­dischen Grund­lagen und Ansätze für das Schreiben dieser Geschichte verstehen. Das ist das Haupt­hindernis.

Werden die Diskussionen über Erinnerungs­konkurrenzen trotz des aktuellen Krieges weiter­geführt?

Im Moment haben wir eine solche Agenda ... es ist sehr schwierig, dagegen anzu­kommen. Deshalb fürchte ich, dass gerade nicht so viele Menschen über den Holocaust nach­denken und sprechen. Aber ich habe einen Fort­schritt in der Wahr­nehmung und Diskussion dieses Themas im Jahr 2021 bemerkt, als eine der kritischsten Bio­grafien über Stepan Bandera aus dem Deutschen übersetzt und auf Ukrainisch veröffentlicht wurde.

Jetzt interessieren sich vor allem immer mehr Ukrai­ner*innen für ihre eigene Geschichte. Denn ich würde sagen, wir können von der ukrainischen Gesell­schaft nicht erwarten, dass sie den Holocaust als Teil ihrer eigenen Geschichte wahr­nimmt, wenn es so viele Kapitel der ukrainischen Geschichte gibt, die nicht objektiv wahr­genommen werden.

In der ukrainischen Armee und in der Ukraine insgesamt gibt es viele Ethnien. Es gibt Ukrainer*innen, Jüdinnen*Juden, Rumän*innen, Krim­tatar*innen und viele, viele andere Völker. Und ich bin über­zeugt, dass es nach diesem Krieg nicht möglich sein wird, die Geschichte der Ukraine nur als die Geschichte der ethnischen Ukrai­ner*innen zu schreiben.

Die Fragen stellte Mirjam Bitter, Jüdisches Museum Berlin, März 2023.

Zitierempfehlung:

Mirjam Bitter (2023), Holocaust­erinnerung in der Ukraine von Sowjet­zeiten bis heute. Interview mit Anna Medvedovska, Historikerin, Institute for Holocaust Studies in Dnipro.
URL: www.jmberlin.de/node/9961

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