Ilse Weber,
geb. Herlinger
Schriftstellerin
Ilse Herlinger wird am 11. Januar 1903 in Vítkovice (Witkowitz), Mährisch-Ostrau, geboren. Zum Alltag der deutschsprachigen Familie gehören Besuche des örtlichen Tempels ebenso wie die jüdischen Feiertage. Das gesellschaftliche Umfeld Herlingers setzt sich aus einer Vielzahl kultureller und religiöser Gruppen zusammen, sie spricht deutsch und tschechisch gleichermaßen gut.
Herlingers Mutter Therese (1866–1942), die ihre Gesangsausbildung zugunsten der Familie aufgegeben hatte, ist prägend für die musische und religiöse Erziehung. Märchen und Geschichten werden der erst zehnjährigen Ilse nach dem Tod ihres Vaters zum Trost.
Erste eigene Gedichte und Geschichten veröffentlicht Herlinger als Dreizehnjährige in der Mädchenzeitschrift Das Kränzchen. Es folgen Rundfunkbeiträge, Hörspiele, kleine Theaterstücke und Märchen für Kinder, die in deutschen, tschechischen und österreichischen Zeitungen und Zeitschriften gedruckt werden. 1928 erscheint mit Jüdische Kindermärchen ihr erstes Buch. Sie widmet es ihrer Mutter. Es folgen weitere Publikationen: Das Trittrollerwettrennen und andere Erzählungen und Die Geschichten um Mendel Rosenbusch. Erzählungen für jüdische Kinder.
Herlinger kann sich mit dem Schreiben bereits ihren Lebensunterhalt verdienen, als sie 1930 Willi Weber (1901–1974) heiratet, den sie seit ihrer Kindheit kennt. Sie werden Eltern zweier Söhne, Hanuš (1931–2021) und Tomáš (1934–1944), genannt Tommy.
Nach 1933 verschlechtert sich die politische Situation auch in Mährisch-Ostrau zunehmend, Ilse Weber schreibt im November 1936 in einem Brief an eine Freundin:
„Ich habe kaum noch eine Verdienstmöglichkeit, der Antisemitismus versperrt mir alle Türen.“
Ilse und Willi Weber, die zionistischen Ideen aufgeschlossen gegenüberstehen, ziehen als Emigrationsziel auch Palästina in Betracht, um sich und ihre Familie vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Im Mai 1939 gelingt es, zumindest Hanuš außer Landes zu bringen – Herlingers langjährige Brieffreundin, die Schwedin Lilian von Löwenadler, die zu dieser Zeit in England weilt, nimmt ihn bei sich auf.
Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, zieht die verbleibende Familie zunächst nach Prag. Die finanziellen Schwierigkeiten verschärfen sich, ebenso wie die antijüdischen Maßnahmen. Anfang 1942 werden Ilse, Willi und Tommy Weber zunächst nach Theresienstadt deportiert. 1944 wird Willi und kurz darauf auch Ilse mit Tommy nach Auschwitz deportiert. Ilse und Tommy Weber werden am 6. Oktober, dem Tag ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau, ermordet. Willi Weber überlebt das KZ Auschwitz und lässt sich erneut in Prag nieder. Im Herbst 1945 trifft Hanuš in Prag ein. Nach fast siebenjähriger Trennung treffen sich Vater und Sohn erstmals wieder.
Jüdische Kindermärchen
Ilse Herlinger versucht, mit ihrem literarischen Werk das Selbstbewusstsein jüdischer Kinder angesichts des zunehmenden politischen und kulturellen Antisemitismus zu fördern und so religiöser Entfremdung entgegenzuwirken. Durch die Lektüre dieser fantasievollen Geschichten, die bewusst in einer jüdischen Lebenswelt angesiedelt sind, werden junge Leser*innen mit den zugehörigen Werten vertraut gemacht und zugleich in Religion und Tradition unterrichtet: Feiertage wie Pessach, Simchat Tora oder Sukkot sind Teil der Handlung. Kinder sind in Herlingers Werk die Hauptakteur*innen. Ihr Leben ist weder leicht noch unbeschwert, denn die Verhältnisse, unter denen sie aufwachsen, sind von Sorgen und Ausgrenzung bestimmt. Dieser Realität wird, mit den Mitteln des Märchens, familiäre Geborgenheit und tief empfundene Religiosität als Orientierung und Schutz im Alltag gegenübergestellt.
Hexen oder Spuk werden – anders als in der Sammlung der Kinder- und Haus-Märchen der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm – von Herlinger nicht bemüht, dafür tritt der Prophet Eliah, der die starke Bindung Gottes an sein Volk verkörpert, gelegentlich in Erscheinung: In Der Ring des Propheten erkennt er die kindlichen Wünsche und Sehnsüchte des Protogonisten Levi und steht diesem frommen, selbstlosen und freundlichen Kind mit einigen Wundern zur Seite.
Auch zionistische Motive finden Eingang in Herlingers Erzählwelt: Ein kleiner Knabe reist nach Erez Israel beschreibt die Traumreise des kleinen Isi, dessen Ziel „Erez Israel“ ist, und thematisiert damit die kindlichen Sehnsucht nach der „Heilen Welt“, der „Jüdischen Heimat“.
Zur Veröffentlichung der Jüdischen Kindermärchen erschienen zahlreiche Kommentare und positive Rezensionen in der jüdischen, aber auch der nichtjüdischen Presse. Sie begrüßen und loben die „nachhaltig wirkende[n] Erziehungskunststücke“
der Autorin, die den „Geist jüdischer Nächstenliebe“
und die „Schönheit des Familienlebens“
beschreiben. In der Zeitschrift Die Stimme vom 21. Juni 1928 schreibt ein*e Rezensent*in:
„Die Ausstattung ist ansprechend, der Druck klar; bei einer späteren Auflage wäre auf genügend Illustrationen Wert zu legen.“
Die Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin besitzt ein Exemplar der zweiten Auflage der Jüdischen Kindermärchen. Wie viele andere historische Kinder- und Jugendbücher konnte dieser Band inzwischen digitalisiert und online frei zugänglich gemacht werden.
Darüber hinaus wurden zwei Märchen aus Herlingers Sammlung als Online-Angebote des Museums medial aufbereitet: Die Laubhütte im Himmel als Vorlese-Video in der Reihe Lesezeit aus dem Jahr 2020 sowie Der Ring des Propheten in einer von Florian Schmeling illustrierten und animierten Fassung aus dem Jahr 2022.