Dieser Brief von Carl Friedrich von Siemens (1872–1941), Chef eines der größten Unternehmen in Deutschland, erfüllt den Leser mit Unbehagen. Er ist das Antwortschreiben an Flora Meyer (1887–1965), die Witwe eines ehemaligen führenden, jüdischen Mitarbeiters der Firma. Der Ingenieur Dr. Georg Meyer war im Dezember 1916 an der Front gefallen. Carl Friedrich von Siemens äußert seine Sympathie für die deutschen Juden und ihre Leistungen und zeigt sich empört über den antijüdischen Aufruhr der vorangegangenen Wochen.
Gleichzeitig aber bescheinigt er »de(m) Schaffer und Führer« der nationalsozialistischen Bewegung das »grosse Verdienst (…), das Deutsche Volk aufgerüttelt zu haben und sein Nationalbewusstsein geweckt zu haben«. Zudem bemüht er ausgeprägte Stereotypen, indem er in der »grossen Zuwanderung fremder Juden nach dem Kriege« den Ursprung der antijüdischen Hetze sieht, die durch »die Auswüchse in der Presse und Kunst, an denen das jüdische Element stark beteiligt ist«, noch verstärkt worden sei.
In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Flora Meyer, wie Carl von Siemens ihrem Sohn den Zugang zum Hochschulpraktikum in der Firma ermöglichte und sich 1933 persönlich an den Rektor der Technischen Hochschule wandte, um gegen dessen Ausschluss aus der Deutschen Studentenschaft zu protestieren. Auch der Tochter von Flora Meyer stand von Siemens bei und verschaffte ihr eine Stelle, nachdem sie im Sommer 1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft bei der Berlin-Anhaltischen Maschinenbau AG entlassen worden war.
Flora Meyer betont aber auch, dass er – wie die meisten Menschen – fest davon überzeugt war, dass »dieser Spuk (…) in Kuerze verschwinden« würde. Sein Brief endete folgerichtig mit den beschwichtigenden, fast unwirschen Zeilen: »Ich verstehe auch nicht Ihre Befürchtung, dass nach Erteilung eines Ermächtigungsgesetzes die jetzige Hetze sich auswirken könnte, im Gegenteil, ich glaube, dass dann eine allgemeine Beruhigung eintreten wird.«
Carl Friedrich von Siemens war gewiss kein Nationalsozialist. Von den meisten seiner öffentlichen Ämter trat er 1933 zurück. Dennoch: Unter seiner Leitung entwickelt sich der Siemens-Konzern Mitte der 1930er Jahre zu einem der größten Waffenproduzenten des Landes. Und noch zu seinen Lebzeiten wurden Juden bei Siemens zur Zwangsarbeit verpflichtet. Flora Meyer konnte erst im April 1941 aus Deutschland entkommen und zu ihren Kindern nach Brasilien fliehen.
In der 1960 erschienenen, umfangreichen Biografie von Carl Friedrich von Siemens wird aus unserem Brief ausführlich zitiert – jedoch bloß aus dem ersten Abschnitt.
Aubrey Pomerance
Carl F. von Siemens
Berlin-Siemensstadt
17. März 1933.
Sehr verehrte gnädige Frau,
ich habe Ihr Schreiben erhalten und beeile mich, Ihnen sofort darauf zu antworten.
Lassen Sie mich voranschicken, dass wohl alle Menschen, die noch ein Gefühl von Verantwortungsbewusstsein für ihre Mitmenschen haben und nicht den Wirkungen einer geistlosen Verhetzung erlegen sind, die von einigen Stellen betriebene Hetze gegen das Judentum als eines denkenden Volkes unwürdig bezeichnen. In dem Kreis kultureller deutscher Leistungen, auf denen zu einem grossen Teil das Ansehen, welches unser Vaterland in der Welt geniesst, beruht, würde manche Lücke entstehen, wollte man diejenigen herausnehmen, die wir Deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens verdanken. Die Zahl der Deutschen Juden, die im Weltkriege ihr Leben oder ihr Blut in der Verteidigung der Heimat verloren haben, ist gross. Ich spreche oft von Ihrem Mann, dessen Andenken in unserem Hause sehr lebendig ist und den wir heute noch vermissen nicht nur als hervorragenden Ingenieur, sondern auch als besten stets hilfsbereiten Kameraden. Seine Ablehnung einer für die Kriegsführung wichtigen Aufgabe, die ihn aus der Kampffront herausgeführt hätte, mit der Begründung, dass er sich nicht von der ihm unterstellten Batterie und ihren Leuten trennen könnte, mit denen er durch jahrelangen Kampf verbunden sei, die Haltung seiner Leute im schwersten Kugelregen vor Verdun, als ihn das tödliche Blei erreichte, und die Wertschätzung im Kreise seiner Kameraden und Untergebenen sind wirklich glänzendes Beispiel für das Verantwortungsgefühl und die vaterländische Gesinnung Deutscher jüdischen Glaubens.
Ich bin kein Nationalsozialist, aber ich muss zugeben, dass ein grosses Verdienst des Schaffers und Führers dieser Bewegung ist, das Deutsche Volk aufgerüttelt zu haben und sein Nationalbewusstsein geweckt zu haben. Hierbei sind auch Wege beschritten worden, denen man nicht zustimmen kann, die man bedauert, darunter gehört in erster Linie die Hetze, die sich ganz allgemein gegen die Juden richtet. Sie findet ihren Ursprung in der sehr grossen Zuwanderung fremder Juden nach dem Kriege, die, wie ich weiss, auch von Deutschen Juden bedauert wird. Zwei weitere Momente haben sie verschärft, die Auswüchse in der Presse und Kunst, an denen das jüdische Element stark beteiligt ist, und die Korruptionsaffären, in denen nichtdeutsche Juden stark beteiligt waren.
Vergessen Sie nicht, wir leben in einer Revolutionszeit, in der man Handlungen und vor allem Äusserungen nicht mit einem normalen Masse messen kann, wir hoffen alle, dass mit der Beruhigung auch die Auswüchse wieder verschwinden werden. Denken Sie an die vergangene Zeit, in der die Unternehmer ganz allgemein als Blutsauger und Räuber bezeichnet wurden, kein ruhig denkender Angehöriger dieses Standes hat dies anders angesehen, als ein Mittel zur Erreichung eines politischen Zieles. Auch die jetzige Hetze wird sich bald legen und vernünftigen Anschauungen Platz machen, ich glaube nicht, dass es Zweck hätte, im Augenblick dagegen Stellung zu nehmen. Vernünftige Menschen brauchen keine Aufklärung, unvernünftige sind im Augenblick nicht zu belehren. Ich habe vollstes Verständnis für die Erregung, die in den so völlig ungerecht angegriffenen Kreisen besteht, denn ich kenne viele Deutsche jüdischen Glaubens, deren Vaterlandsliebe in ihren Herzen ebenso tief verankert ist, wie bei ihren christlichen Mitbürgern. Ich kann Ihnen daher Ihre Frage nicht beantworten, ich verstehe auch nicht Ihre Befürchtung, dass nach Erteilung eines Ermächtigungsgesetzes die jetzige Hetze sich
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auswirken könnte, im Gegenteil, ich glaube, dass dann eine allgemeine Beruhigung eintreten wird.
Ich verbleibe, gnädige Frau,
Ihr sehr ergebener
(gez.) C.F. Siemens.