Voller Sorge schreibt Genia Grünberg (1902–1991) aus dem rumänischen Siebenbürgen diesen Brief an ihren 24-jährigen Bruder Josef Hurtig (1908–1942). Sie ängstigt sich um »Juziu«, wie sie ihn liebevoll nennt, der in der deutschen Reichshauptstadt wohnt. Genia war von Anfang an dagegen gewesen, dass er vier Jahre zuvor dorthin ging, um Nationalökonomie zu studieren.
Josefs Situation ist prekär. Er hat finanzielle Sorgen und kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Nach Rumänien will er nicht zurück, auch weil dort der Militärdienst auf ihn wartet. Doch im Herbst läuft seine Aufenthaltsgenehmigung aus, seine Zukunft ist ungewiss. Genia ängstigt insbesondere die politische Entwicklung. Nach dem Erdrutschsieg der NSDAP bei der preußischen Landtagswahl im April 1932 hatte sie ihrem Bruder geschrieben: »Hitler! Hitler!! Es hat uns alle hier sehr niedergeschlagen u. wir befürchten böse Folgen für Euch ausländische Juden.«
Nun ist Hitler Reichskanzler und das Reichsministerium des Innern hat fünf Tage zuvor, am 15. März in einem Runderlass an die Landesregierungen verfügt, die »Zuwanderung von Ostjuden abzuwehren«, diejenigen »Ostjuden, die sich ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland befinden, zu entfernen« und sie generell »nicht mehr einzubürgern«
Genia Grünberg sieht für ihren Bruder keine Zukunft in Deutschland. Sie und ihr Ehemann Phöbus legen ihm nahe, sich in Sicherheit zu bringen und zu »verreisen«. Bis dahin bittet sie ihn im Namen ihres Vaters, wenigstens alle zwei Wochen ein Lebenszeichen zu senden.
Jörg Waßmer
A[lba] I[ulia] 20/III.1933
Mein lieber, lieber Juziu,
ich danke Dir sehr für Deine letzten zwei Karten u. wegen Deiner Promptheit beginne ich jetzt einen Brief an Dich, wiewohl ich nichts Besonderes zu sagen habe. Von Dir genügen mir Karten momentan vollauf u. ich bin sehr, sehr froh, wenn ich sie bloß einigermaßen regelmäßig bekomme. Tata läßt Dich übrigens wieder einmal bitten, doch alle zwei Wochen zu schreiben. Bisweilen fällt es ihn an u. dann macht er sich schwere Gedanken. Ich habe ja die eine große Sorge: was geschieht, wenn Deine Reserve zu Ende geht?? Jetzt ist es gut, Du mußt Dich nicht hetzen, wenn Du Dich abgespannt fühlst, u. kannst nach Herzenslust studieren. Diese letztere Nachricht hat mich doppelt gefreut. Weißt Du aber etwas für die kommende Zeit? Da Du darüber kein Wort schreibst, muß ich das Gegenteil annehmen, u. das ist das Dumme-Schlimme. Phöbus meint, ich soll Dich anfragen, ob Du die Reise nicht unternehmen möchtest, von der Du mal schriebst. Du seist noch jung genug für sie. Könntest Du das, wenn Du wolltest u. event. müsstest? Wenn Du mir da eine Auskunft zu geben weißt, so teile sie mit. – …