Im Vorfeld des antijüdischen Boykotts am 1. April wurden in Regensburg zahlreiche Juden willkürlich festgenommen und zum Teil tagelang im Untersuchungsgefängnis in der Augustenstraße gefangen gehalten. So auch der Fabrikant Alfred Binswanger (1860–1933), der
am 30. März verhaftet wurde.
Knapp zwei Wochen später schreibt er, in akkurater Sütterlinschrift, den vorliegenden Bericht über die Ereignisse, in dem seine Erschütterung über das Erlebte deutlich nachklingt: »Die Zeit zwischen dem 21ten März (...) und dem 1. April d. J. [des Jahres] war für die gesamten Juden Deutschlands, resp. diejenigen von Regensburg, eine wahre Schreckenszeit.« Der 21. März war der Tag, an dem der neugewählte Reichstag in einem großen Festakt in Potsdam eröffnet wurde. Zwei Tage später wurde das Ermächtigungsgesetz verabschiedet und damit der Grundstein für die nationalsozialistische Diktatur gelegt: Das Parlament war entmachtet und die Verfassung faktisch außer Kraft gesetzt.
Binswanger schildert den Terror, den SA-Leute in den Straßen ausübten, und die vergeblichen Versuche der Regensburger Juden, ihre patriotische Gesinnung zu zeigen, in dem sie an ihren Häusern blau-weiße bayerische und schwarz-weiß-rote Nationalflaggen hissten. Jeden Tag seien jüdische Bürger verhaftet worden. Er spricht von 124 Festgenommenen. Über seine eigene Verhaftung heißt es: »Nachmittags 4 Uhr kamen 2 SA-Leute ins Geschäft und verlangten, dass ich mit ihnen gehe.« Auf die Frage, was man ihm vorwerfe, wurde nur geantwortet, man hätte Anweisung, »alle von der Rasse« festzunehmen.
Alfred Binswanger wurde aufgrund seines Alters und seines schlechten Gesundheitszustandes am nächsten Tag wieder entlassen. Er berichtet von einer »Reihe von Sympathie-Kundgebungen«, die er erhalten habe, und beschließt seinen Bericht mit der knappen Feststellung: »In Augsburg und München kamen nur ganz wenig Verhaftungen vor.«
Franziska Bogdanov
Regensburg 11. April 1933
Die Zeit zwischen dem 21ten März d. J. (Tag der Reichstags-Eröffnung) u[nd] dem 1. April d. J. [des Jahres] war für die gesamten Juden Deutschlands, resp. diejenigen von Regensburg, eine wahre Schreckenszeit.
In durchaus loyaler Weise hatten die Regensburger Juden ihre Häuser mit blauweißen schwarz-weiß-roten Fahnen beflaggt. Einer größeren Anzahl jüdischer Hausbesitzer wurde aber von S.A.-Leuten anbefohlen, die schwarz-weiß-roten Fahnen wieder hereinzunehmen, angeblich weil Juden keine Deutschen seien u kein Recht hätten, eine deutsche Fahne zu hissen.*
* In unserem Anwesen am Unteren Markt hißten wir die blauweiße und schwarzweißrote Fahne ohne belästigt zu werden, im Lager der [unleserlich] Verw. die schwarzweißrote u die Hakenkreuz-Fahne. Die Plakate: ›Kauft nicht beim Juden, kauft beim Deutschen‹, sind an unserem Laden Maxstr. und am Unteren Markt nicht angebracht worden.
Jeden Tag sind Verhaftungen von jüdischen Bürgern vorgenommen worden. Es hat sich dabei sowohl um solche Juden gehandelt, die sich in irgendeiner Weise mißliebig gemacht hatten, aber auch um solche, von denen Niemand etwas Nachteiliges sagen konnte. Die Haft wurde oft nur eine Nacht aufrecht erhalten. In Straubing wurde der jüdische Güterhändler Selz am frühen Morgen aus dem Bette geholt, bis nach Bogen verschleppt u dort erschossen u verstümmelt. Die N.S.D.A.P. behauptete, die Tat sei von verkappten Kommunisten erfolgt. In Regensburg hat es sehr böses Blut gemacht, dass der jüdische Arzt Dr. Hammel öffentlich erklärte, er habe seinen Sohn zur Erziehung nach Paris gegeben, weil ihm die deutschen Lehrer nicht gut genug seien. Außerdem habe er sein Geld in französischen Rüstungswerten angelegt. Dr. Hammel ist übrigens mit seiner Frau ins Ausland geflüchtet. – Durch gelegentliche Verhaftungen anderer Juden in Deutschland ist dann die bekannte Greuelhetze im Ausland entstanden, die den deutschen Juden furchtbar geschadet hat u zu dem Boykott jüdischer Geschäfte führte.
Obwohl derselbe für Samstag den 1ten April angekündigt war, sind hier in Regensburg schon von Mittwoch, den 29. März an den Eingangstüren zu den Läden jüdischer Kaufleute S.A.-Posten aufgezogen, die die Käufer vom Besuch der Läden abhalten wollten.
Am Donnerstag, den 30. März erfolgte eine Massenverhaftung hiesiger Juden. Auch ich bin nicht verschont worden. Nachmittags 4 Uhr kamen 2 S.A.-Leute ins Geschäft u verlangten, daß ich mit ihnen gehe. Ich fragte, was ich verbrochen habe u da antwortete der eine S.A.-Mann: Er hätte den Auftrag, alle von der Rasse zu verhaften. Es wurde mir gestattet, ein Auto zu nehmen. Andere Juden wurden aber zu Fuß durch die Stadt geführt u vom Pöbel gefolgt. Als ich im Untersuchungs-Gefängnis in der Augusten-Straße ankam, war dort im Hofe eine große Zahl von Glaubensgenossen, auch Frauen, resp. Geschäfts-Inhaberinnen, versammelt. Wir erlitten aber keinerlei schlechte Behandlung u durften uns Eßwaren etc. kommen lassen. Für die Nacht wurden notdürftig Amtszimmer u Zellen hergerichtet. Ich selbst verbrachte die Nacht auf einem Strohsack mit noch 5 Herren zusammen im Verhörzimmer. Morgens ließ ich mich beim Arzt melden u mit mir noch eine Anzahl älterer oder leidender Herren. Dr. Bunz untersuchte mich u nahm mich dann in die Liste derjenigen Leute auf, die zuerst wieder entlassen werden sollen. Von insgesamt ca. 124 Verhafteten wurden 24 am Freitagvormittag, den 31. März wieder entlassen.**
** Heute, am 11. April, sind noch 10-15 jüdische Herren in Haft.
Meine Frau holte mich im Auto ab u wir kamen dann glücklich u von Allen, besonders vom Personal, freundlichst begrüßt, zu Hause wieder an.
Schorsch Eisenmann wurde bei seiner Ankunft in Regensb[urg] am Freitag Vorm[ittag] ebenfalls verhaftet, aber sofort wieder freigelassen.
Anläßlich meiner Verhaftung, die sehr schnell bekannt wurde, da die hiesige »Ostwacht« alle Namen der Verhafteten veröffentlichte, habe ich eine Reihe von Sympathie-Kundgebungen erhalten.
In Augsburg u München kamen nur ganz wenige Verhaftungen vor.