Am 9. August wendet sich der 37-jährige Bibliothekar, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Werner Kraft (1896–1991) an seine Bekannte Margarethe Heller (1893–1982). Sie kennen sich seit Jahren durch ihren gemeinsamen Jugendfreund, den Religionshistoriker und Philosophen Gershom Scholem. Beide leben seit einiger Zeit im Exil, Kraft in Danderyd bei Stockholm, Heller im schottischen Edinburgh.
Der Brief spiegelt die Existenznöte der Emigranten wider. Ihre Karrieren sind jäh abgeschnitten, sie sprechen häufig nicht die Sprache des Exillandes und sind auf die Hilfe anderer angewiesen. Zugleich blicken sie voller Sorge nach Deutschland.
Werner Kraft spielt mit dem Gedanken, weiter nach Palästina zu emigrieren, will jedoch vorerst noch einen Versuch unternehmen, sich »in Europa anzusiedeln«. Ohne besonders optimistisch zu sein bittet er Heller, in der Universitätsbibliothek in Edinburgh anzufragen, »ob es im englischen Bibliothekswesen irgendwelche Aussichten für jüdische Bibliothekare aus Deutschland gibt.«
Aufmerksam verfolgt Kraft die deutschsprachige Presse und geht auf die aktuellen Geschehnisse ein: »Welch eine Hölle ist in Deutschland. Der arme Fechenbach!« schreibt er zwei Tage nach der Ermordung des jüdischen Journalisten und Sozialdemokraten Felix Fechenbach durch die Nationalsozialisten. Und über Karl Kraus, den österreichischen Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift »Die Fackel«, weiß er zu berichten: »Es geht ihm körperlich wohl; wie er unter dem Unsagbaren leidet, das wir erleben, dafür spricht sein Schweigen.«
Lea Weik
Djursholm – Danderyd
bei Stockholm, Sturevägen 56
ab 28.8.: Stockholm Sibyllegatan 31
bei Blumenthal
9.8.33
Liebe Frau Heller,
ich freue mich, durch Emil zu hören, dass es Ihnen und Ihrem Mann gut geht. Wie wird man über die Welt verstreut! Sie sehen, dass es auch uns getroffen hat. Was ich tue, weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich ohne die geringste »Aussicht« Palästina. Kurioserweise bin ich übrigens noch immer im Dienst und erhalte weiter mein Gehalt. Es herrscht eben Ordnung im Terror. – Indem ich noch einen letzten Versuch mache, mich hier in Europa anzusiedeln, da mir vor Palästina, obwohl es das heilige Land ist, ein leichter Schauder über den Rücken rieselt, bitte ich Sie um Ihre Vermittlung in gänzlich hoffnungsloser Sache. Könnten Sie vielleicht einmal in der dortigen Universitätsbibliothek mit dem Direktor sprechen und ihn fragen, ob es im englischen Bibliothekswesen irgendwelche Aussichten für jüdische Bibliothekare aus Deutschland gibt und an welche Stelle man sich zu diesem Zwecke wenden könnte? Auch könnte ich, auf der Reise nach Paris, in England Station machen. Um Ihnen kurz meine Personalien zu geben: Ich bin Bibl-Rat an der Vorm. Königlichen und Provinzialbibliothek in Hannover, meine »Fächer« sind
(2. Seite)
Deutsch, Französisch, Italienisch. Die Bibliothek in Hannover würde sicherlich, wie ich glaube, gute Auskünfte über mich geben. Übrigens stehen meine Personalien im Jahrbuch der deutschen Bibliotheken. Gewiß wird dies alles wie auch der erbetene Gang überflüssig sein, aber vielleicht tun Sie es doch einmal, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben. Man darf doch nichts versäumen. Ich wäre Ihnen dankbar! Leider sind meine englischen Kenntnisse gering, aber das ließe sich ja lernen. – Wie schön, dass Sie nun Gelegenheit haben, in die herrliche Kultur dieses großartigen Raubvolks einzudringen! Ich stelle mir vor, dass wenn Sie erst Shakespeare, Keats, Shelley, Ruskin, Blake wie Goethe lesen können, Sie nur noch von oben herab mit mir verkehren werden?! Immerhin lese ich fast fließend Proust, der auch nicht von Pappe ist, und habe jetzt sogar eine Reihe »Ideen« (von mir) mit Hilfe von Ernst Bl’s Frau ins Französische übersetzt, um sie ev. dort zu publizieren. Wenn Sie Lust haben, sie zu lesen, kann ich sie Ihnen schicken. Dringend rate ich Ihnen, wenn Sie noch Raum für Nicht-Englisches haben, zu lesen von Julien Green: Le voyageur sur la terre. Diese vier Erzählungen haben tiefen Eindruck auf mich gemacht. Besonders über eine, kleine – »Christine« – die völlig geheimnisvoll ist, würde ich sehr gern Ihre Meinung hören! – Welch eine Hölle ist in Deutschland. Der arme Fechenbach! – Was sagen Sie denn zu unserer »Rundschau«? Die haben neulich sogar die als »Idee« verkleidete Feigheit begangen, die Toleranz in Lessings »Nathan« für
(Notizen auf dem Kopf der 1. Seite)
»zeitgebunden« zu erklären. – Aus einem Brief von Prof. Jaray, Wien, Architekt von Beruf und opferbereiter Bearbeiter des Registers der Fackel, von 11.7.: »Kraus ist in Wien, war er mindestens vor 14 Tagen, als ich Wien verließ. Es geht ihm körperlich wohl; wie er unter dem Unsagbaren leidet, das wir erleben, dafür spricht sein Schweigen. Wann ›Die Sprache‹ herauskommen wird – die Arbeit daran dürfte nach allem, was ich hörte, zurückgestellt worden sein – ist so ungewiß, wie das Erscheinen des nächsten Heftes der Fackel, das seit langem fertig sein soll.« –
Ich grüße Sie und Ihren Mann
herzlichst Ihr Werner Kraft