»In meine Heimat ›ausgewandert‹!!« So ironisch und verbittert beschrieb der Schriftsteller und Schauspieler Carl Rössler (1864–1948) seine Flucht aus Berlin in seine Geburtsstadt Wien im April 1933. Er wählte diese Worte in einer Postkarte an den mit ihm befreundeten Georg Hermann, der seit März des Jahres selbst im niederländischen Exil lebte. Rössler, der sich erst 1928 in der deutschen Hauptstadt niedergelassen hatte, sah sich zu diesem Schritt genötigt, nach dem die Nationalsozialisten die Aufführung seiner Werke verboten hatten. Der 69-Jährige fühlte sich dem Ende nah, wollte sich aber nunmehr nicht »gleichschalten lassen«.
Bereits seit den 1890er Jahren trat Carl Rössler als Schauspieler auf deutschen Bühnen auf. Ab 1905 wandte er sich fast ausschließlich dem Schreiben zu und verfasste zahlreiche Lustspiele. Berühmt wurde er mit der 1911 uraufgeführten Komödie »Die Fünf Frankfurter«, einem Stück über die Bankiersfamilie Rothschild, das große Erfolge feierte und bis heute Rösslers bekanntestes Werk ist. Mit Kurt Tucholsky, Marcellus Schiffer und Ludwig Heller schrieb er Libretti, u.a. für Max Reinhardt. Zu einer Zusammenarbeit mit Georg Hermann kam es nicht, was Rössler in seiner Karte an Hermann ausdrücklich bedauerte.
Carl Rössler blieb bis November 1938 in einem Wiener Altersheim wohnen. Einige Monate zuvor wurde mit dem Anschluss Österreichs seine Befürchtung, dass die »Gehirncholera (der Nazis) zur Regierung« kommen könnte, weit übertroffen und die Notwendigkeit »wieder auszuwandern« zur Tatsache. Im Juni 1939 floh er nach Großbritannien und lebte in Cambridge, Oxford und schließlich London, wo er 1948 verstarb.
Aubrey Pomerance
Wien XIX, Hartäckerstr. 45, den 14/8, 33
Lieber Herr Hermann!
Das ist lieb von Ihnen, dass Sie mich nicht vergessen haben. Ich bin anfangs April aus Berlin geflohen. In meine Heimat »ausgewandert«!! Ich war so deprimiert und nervencaput, daß ich glaubte, es ist Schluss! Hier lebe ich vorläufig für wenig Geld in einem »Altersheim« und versuche wieder zu arbeiten! – Ine Lederer soll in Wien sein. Ich werde versuchen, ihren Aufenthalt zu erfahren und ihre Adresse Ihnen mitteilen! – Hier sind viele deutsche Emigranten. Allen geht es schlecht. Dabei fürchtet man, daß deren Gehirncholera (der Nazis) hier zur Regierung kommt. Dann heißt es wieder auswandern. Gleichschalten lasse ich mich nicht. – Schade, dass wir zusammen kein Stück geschrieben haben. Vielleicht kommt es noch! Ein Lustspiel, das in Palästina spielt, etc. etc. Ich würde mich sehr freuen, Sie wiederzusehen, und grüße Sie und Ihre Töchter
Ihr alter
Carl Rössler
Auf der Vorderseite adressiert an:
Georg H. Borchardt
(Schriftsteller Georg Hermann)
Laren (NH) [Noord-Holland]
Laubentijmen 12 [korrekt wäre: Lantentijmen 12]