Freitag,
10. November 1933
Kalendereintrag von Lisl Halberstadt
Über das gesamte Jahr 1933 machte Lisl Halberstadt (1915–1993) aus Nürnberg in ihrem Kalender kurze Notizen mit den wichtigsten Ereignissen des Tages. Am 10. November erwähnt die achtzehnjährige Oberschülerin die Übertragung der Rede Adolf Hitlers in den Siemens-Schuckertwerken in Berlin. »1h in ganz Deutschl. alles vorm Radio.« Es war die letzte Rede des Reichkanzlers vor der Reichstagswahl und der Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund, die zwei Tage später am 12. November stattfanden.
Nachdem im Juli das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien verabschiedet wurde, war die NSDAP die einzige politische Partei. Zur Wahl stand nur ihre Einheitsliste, auf der lediglich vereinzelte parteilose »Gäste« verzeichnet waren. Zweck war sowohl die Macht als auch den Austritt aus dem Völkerbund durch das Volk zu legitimieren. Hitlers Rede am 10. November vor tausenden Siemens-Arbeitern wurde als Höhepunkt des »Wahlkampfs« inszeniert. Im ganzen Land waren die Menschen aufgefordert, ihr zuzuhören: Die Arbeit in den Betrieben wurde unterbrochen, Geschäfte geschlossen, Lautsprecher an öffentlichen Plätzen aufgestellt. »Sirenensignale gaben Anfang und Ende an«, notiert Lisl Halberstadt, kommentiert die Ausführungen Hitlers jedoch mit keinem Wort.
Dabei war diese Rede in den Schuckertwerken, welche die Ungerechtigkeit des Versailler Vertrags anprangerte und die eigenen Verdienste der zurückliegenden neun Monate anpries, von ausgesprochen antisemitischer Hetze geprägt: »Der Völkerstreit und der Hass untereinander, er wird gepflegt von ganz bestimmten Interessenten. Es ist eine kleine wurzellose internationale Clique, die die Völker gegeneinander hetzt, die nicht will, dass sie zur Ruhe kommt. Es sind das die Menschen, die überall und nirgends zuhause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zuhause fühlen.« Worauf ein Zuhörer aus dem Publikum rief, wer damit gemeint war und was alle verstanden hatten: »Juden!«
Am folgenden Tag vermerkt Lisl Halberstadt in ihrem Kalender, dass sie die Übertragung einer Rede des Reichsjugendführers in der Schule anhören musste. Dem späteren Fahnenhissen wohnte sie aber nicht mehr bei, »wir Juden hatten frei«.
Am 12. November wurde die Einheitsliste der NSDAP von 92,1% der Wähler bestätigt und der Austritt aus dem Völkerbund von über 95% bejaht. Letzteren hatte selbst die Reichsvertretung der Juden in Deutschland unterstützt, »trotz allem, was wir erfahren mussten«, und empfohlen mit Ja zu stimmen.
Aubrey Pomerance