»Berlin – meines Erachtens zur Zeit gar keine Chance, zunächst diesbezügl. noch abwarten, was mit den Privatkassen wird, ob es ›jenen‹ wirklich gelingt, uns daraus ganz zu verdrängen.« Diesen besorgten Satz schrieb der Arzt Julius Salinger am 17. Dezember 1933 an seinen Schwager Otto Kasper Arendt in Berlin.
Salinger leitete im Seebad Graal an der Ostsee ein Sanatorium »für innere und Nervenkrankheiten«. Als Jude verlor der 49-Jährige bereits im April des Jahres seine Zulassung bei den gesetzlichen Krankenkassen. Die von ihm erwähnten Privatkassen bezahlten seine Rechnungen nur, wenn er »Nichtarier« behandelte. Durch diese Maßnahme erschwerte das nationalsozialistische Regime die Arbeit jüdischer Ärzte aufs äußerste. Und so schreibt Julius Salinger in seinem Brief weiter: »Wenn, dann ist Deutschland für mich als Arzt überhaupt erledigt. Denn die Leute ohne jede Hilfskasse giebts kaum noch. Und von denen musst Du noch alles abziehen, was nicht zum jüd. Arzt geht.«
Salinger erwägt deshalb, ins Ausland zu emigrieren, und hat sich schon nach den Arbeitsmöglichkeiten in verschiedenen Ländern erkundigt, wie er seinem Schwager berichtet. Beide haben offenbar auch über den »Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung« diskutiert. Salinger bittet Arendt, ihm eine Rede des stellvertretenden Vorsitzenden Günther Alexander-Katz zu schicken – »vielleicht doch wichtig vor Eintritt zu lesen«.
Julius Salinger emigriert vier Jahre später. Sein Name findet sich zusammen mit dem seiner Tochter Eva auf der Passagierliste eines Schiffes, das 1936 von London nach Kapstadt fährt. Angeblich musste er das Land verlassen, weil er Kinder kostenlos behandelt hatte. Auch anderen Verwandten gelingt die Flucht nach Südafrika.
Der nichtjüdische Architekt und Bildhauer Otto Kasper Arendt war seit 1929 mit Salingers Schwester Elisabeth verheiratet, die ebenfalls Bildhauerin war. Anders als ihrem Mann wurde ihr die Aufnahme in die Reichskulturkammer verweigert, was faktisch einem Berufsverbot gleichkam. Ihr Aufnahmegesuch wurde im April 1935 mit der Begründung abgelehnt: »da Sie Nichtarier sind und als solcher die für die Schaffung deutschen Kulturgutes erforderliche Geeignetheit und Zuverlässigkeit nicht besitzen«. Und abschließend hieß es unmissverständlich: »Ich untersage Ihnen die weitere Berufsausübung als Bildhauerin.«
Auch Elisabeth und Otto Kasper Arendt konnten vor dem Zweiten Weltkrieg nach Südafrika emigrieren.
Michaela Roßberg
17.12.33
Werter Kasperotto!
1) Dank für Briefeinlage
2) Bleistein hat sogleich geantwortet, für Mitteilung aus S.A. [Südafrika] gedankt, weitere Mitarbeit erbeten. Meinte studieren in S.A. auch nicht schwerer als in England oder Italien. Stimmt aber doch nicht wegen Länge der Zeit (4 Jahre)!
Habe ihm das geschrieben, gleichzeitig angefügt, ob er wegen Peter Studienerleichterung im Ausland wüsste (Intern. Stud. Hilfswerk) [Peter ist Julius Salingers Sohn]. Brief aber noch nicht abgeschickt. Vielleicht morgen. Du brauchst also zunächst bei Bl. nichts [zu] unternehmen. Beziehung zu Mossner würde ich aber unbedingt aufnehmen! (Ist der denn in dem »Reichsverband«?)
3) Was ist Kulturkammer? Warum soll ich eintreten. Werde als Nichtarier doch gar nicht zugelassen. Habe außerdem genug von deutscher »Cultur«.
4) Christl. Nichtarierverein. Lass dir doch bitte mal die Rede von Alex.-Katz [Günther Alexander-Katz ] geben. Vielleicht doch wichtig vor Eintritt zu lesen. Lies sie und schicke sie mir dann!
5.) Nochmal Bleistein. An die Katze möchte ich mich nicht halten. Viele berühmte Leute hatten Schoss- und andere Tiere. Dass Bl. nicht absolut auf Auswanderung drängt, sieht man an dem Rat, den er Dir gab. Für mich sehe ich wirklich bald keine andre Möglichkeit. Berlin – m.E. zur Zeit gar keine Chance, zunächst diesbezügl. noch abwarten, was mit den Privatkassen wird, ob es »jenen« wirklich gelingt, uns daraus ganz zu verdrängen. Wenn, dann ist Deutschland für mich als Arzt überhaupt erledigt. Denn die Leute ohne jede Hilfskasse giebts kaum noch. Und von denen musst Du noch alles abziehen, was nicht zum jüd. Arzt geht. Und in Graal [zu] bleiben heisst doch auch nur langsam Aufzehren der Reste (und das dauert nur ziemlich kurze Zeit) dann Schluss. So sehe ich zur Zeit die
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Lage und fürchte, dass sie sich praktisch so bald nicht ändern wird.
6) W. sagte wenig tröstlich. Schwer deprimiert, dauernd übergangen (als Stahlh.[Stahlhelm]). Viel Ärger. Sieht recht schwarz, auch bezügl. kommenden Judengesetzes (bezügl. der Staatsbürgerschaft).
7). Peter in Deutschland bleiben? Liegt das vielleicht an dem Magneten Kätchen? Schade, dass Kätchen älter ist, wenn das ja auch bekanntermassen nichts schadet, vor allem aber rassisch verschieden u.s.w. Das wäre eine Schwiegertochter nach meinem Herzen! Bitte diese kleine Exkursion aber bitte ganz vertraulich zu behandeln und den Brief nicht herumliegen zu lassen, vielmehr zu vernichten!
8) Nachricht im Ärzteblatt: In Italien kann deutsch approb[ierter] Arzt schon ohne Vorstudium Examen machen. Praktisch aber wohl ca. 1 Jahr zum Sprachstudium etc. nötig. Wohingegen Niederlassungserlaubnis von Eintragung ins »Ärztealbum« abhängig, die angebl. in letzter Zeit im allg. abgelehnt wurden.
9) Nelson weiss auch gar nichts, kann auch nichts sagen natürlich, hängt ja alles von den ganz unsicheren Zukunftsfaktoren ab.
10) Clärchen habe ich doch 2×20 M bar geschickt. Muss doch für Mata [?] und später Kürbis [?] Zehrgeld haben.
11) Kotz Speikatz!
12) Potz Keispatz!
J.