War es Zufall oder doch glückliche Fügung, dass sich am 30. Januar 1933 die Jüdische Jugendhilfe e.V. in Berlin gründete, eine Organisation, die tausenden Kindern und Jugendlichen das Leben retten sollte? Für die Initiatorin Recha Freier war es vielmehr die logische Konsequenz aus ihrem jahrelangen – zionistisch inspirierten – Engagement für die Auswanderung nach Palästina.
Die Rückkehr ins Gelobte Land – »auf Alija« zu gehen – hieß bis dahin in der Praxis: Erst die Ausbildung, dann die Auswanderung. Oft mussten die Betroffenen lange auf ihre Arbeiterzertifikate der britischen Mandatsregierung warten, die eine Einreise streng reglementierte. Die neue Idee der Jüdischen Jugendhilfe war es, die berufliche Ausbildung der jugendlichen Emigranten von Deutschland nach Palästina in die Siedlungen zu verlagern. Begünstigt wurde diese Vorgehensweise der »Jugendalija« durch die Tatsache, dass die Einreisezertifikate für Schüler zwischen 14–17 Jahren einfacher zu beschaffen waren.
Für die erste Gruppe der Jugendhilfe waren bereits im Mai 1933 detaillierte Unterbringungs- und Ausbildungsverträge mit dem Kibbuz Ein Charod südlich von Nazareth geschlossen worden, doch die Abreise verzögerte sich. Um die Hürden zu überwinden, führte der erste Sekretär des Vereins, Dr. Adam Simonson, eine rege Korrespondenz, u.a. mit dem Leiter des Kibbuz Aron Zisling. In seinem Brief vom 15. Dezember berichtete Simonson vom Stand der Dinge. Den Organisatoren lief die Zeit davon – einige Gruppenmitglieder standen kurz vor ihrem 18. Geburtstag und die bereits besorgten Schülerzertifikate hätten für sie keine Gültigkeit mehr gehabt. Sie waren in Gefahr zurückbleiben zu müssen. Es galt zudem nicht nur die Mädchen und Jungen als Gruppe vorzubereiten, sondern auch geeignete Gruppenleiter zu finden, die sie nach Palästina begleiten würden. Dies alles gestaltete sich schwierig.
Die Jugendlichen verließen Europa schließlich im Februar 1934, auch wenn die geplante Zahl von über 60 Auswanderern auf 43 Teilnehmer zusammengeschmolzen war. Diese geglückte Unternehmung überzeugte letztlich auch die Kritiker und bildete den Auftakt für die Rettung etwa 21.000 junger Juden aus Deutschland durch die Jüdische Jugendhilfe.
Ulrike Neuwirth
Jüdische Jugendhilfe E.V.
§ 1
Zweck des Vereins ist die Förderung der Berufsausbildung und Berufsunterbringung in Deutschland befindlicher arbeitsloser jüdischer Jugendlicher in Palästina
Büro: Adam Simonson, Berlin-Charl. 2
Bleibtreustrasse 30
Telefon: C 1 Steinplatz 6946
Postscheck: Recha Freier Berlin 56790
Berlin, den 15. Dezember 1933.
An
Aron Zisling
Ain-Charod
Lieber Zisling!
Ich fasse die verschiedenen telegrafischen und brieflichen Nachrichten, die wir in den letzten 10 Tagen etwa aus Palästina bekommen haben, dahingehend zusammen, dass die Gruppe, wenn nicht besondere unerwartete Passschwierigkeiten oder Aehnliches auftauchen, am 10. Januar von Triest abfahren wird. Als nächstes Schiff käme erst das am 24. abgehende in Frage, da das am 17.(?) abfahrende nicht geeignet ist, und der 24. ist viel zu spät. Wir können der Eltern wegen und der allgemeinen Ungeduld wegen, vor allem aber auch deshalb, weil 2 der Mädchen, deren Mitgehen wir unbedingt wünschen und die wir für sehr geeignet halten, in den nächsten Wochen 18 Jahre alt werden, nicht bis zu diesem Termin warten. Es scheint uns aber auch möglich, dass Ihr bis zum 17. Januar, den Tag der Ankunft, alles soweit hergerichtet habt, besonders, da Du in einem Brief an Liebenstein ebenfalls Mitte Januar als möglichen Zeitpunkt für die Ankunft in Aussicht gestellt hast.
Ueberhaupt möchte ich bei dieser Gelegenheit zum Ausdruck bringen, dass Du leider meinen langen Brief vor einigen Wochen, in dem ich den Versuch machte, die Unhaltbarkeit unserer ganzen Situation darzustellen, völlig missverstanden hast und Vorwürfe herausgelesen hast, die in dieser Weise nicht darin stehen sollten. Ich glaubte zum Ausdruck gebracht zu haben, dass die Gruppe hier nicht länger bleiben kann, und dass wir aus diesem Grunde zu verzweifelten Mitteln würden greifen müssen, wenn nicht irgendwie die sofortige Abreise ermöglicht werden könnte. Da nun die ganzen Schwierigkeiten behoben sind und es möglich sein wird, die Eltern bis zum 10. Januar zu beruhigen, – obwohl dazwischen der 31. Dezember liegt, der Tag, an dem die halbjährig Zahlenden ihre 2. Rate zu zahlen hätten und wir dadurch, da niemand das tun wird, in weitere Verlegenheiten kommen können – so können wir ja diese früheren Dinge nun alle vergessen.
(2. Seite)
Wir haben mit sehr grosser Freude davon Kenntnis genommen, dass Boris Eisenstadt zum Lehrer und Erzieher der Gruppe bestimmt ist. Wir schätzen ihn sehr und haben ihn vor vielen Monaten einmal anfragen wollen, ob er diese Aufgabe übernehmen würde, dann aber davon Abstand genommen, weil man uns sagte, er würde unter keinen Umständen aus Naaneh, wohin er damals gerade gekommen war, fortgehen. Von uns ist Chanoch Reinhold der Führer und Erzieher der Gruppe. Er hat die ganze Vorbereitungszeit, die sich infolge der verschiedenen Schwierigkeiten schließlich über mehr als drei Monate ausgedehnt hat, mit ihnen zusammen verbracht und hat aus 60 Menschen, die nichts Gemeinsames miteinander hatten, wie uns scheint eine Gruppe geschaffen, die doch gewisse Voraussetzungen für die Einordnung in das Leben drüben bereits in sich trägt. Wir, d.h. ausser mir noch Chawa Schiffmann und andere, die mit der Vorbereitung der Gruppe zu tun gehabt haben, glauben, dass ein recht enger Kontakt, der zwischen ihm und vielen Chawerim und Chaweroth [Kameraden und Kameradinnen] der Gruppe besteht, die Einordnung gerade in den ersten Monaten sehr erleichtern kann. Er war auch Monate lang hier hebräischer Lehrer. – Zu unserem sehr grossen Bedauern ist es uns, obwohl wir vom Mai bis jetzt danach gesucht haben, nicht gelungen, eine Führerin zu finden, die mit Chanoch zusammen die Gruppe leiten könnte. In Anbetracht der Zusammensetzung der Gruppe, die aus etwa 35 Jungen und 27 Mädchen besteht, wäre ein älteres Mädchen als Führerin unbedingt notwendig gewesen. Auch Chanoch hat immer wieder betont, und es war uns jederzeit klar, dass ein Mensch eine Gruppe von mehr als 60 Jugendlichen nicht leiten kann. Wir hatten sogar ursprünglich drei Führer in Aussicht genommen. Alle unsere Pläne sind aber zunichte geworden, da offenbar ein befähigtes Mädchen, das jüdische und vor allem hebräische Kenntnisse hat, das pädagogisch befähigt ist und das eine gewisse menschliche Reife hat, in der ganzen jüdischen Jugend Deutschlands nicht vorhanden [ist]. Unsere ursprüngliche Vorstellung, nach [der] die Erzieher ausser all diesen Eigenschaften auch noch eine bestimmte Zeit körperlicher Arbeit hinter sich haben sollten, mussten wir schon längst fallen lassen. Vielleicht gelingt es Euch, drüben einen Menschen zu finden, der auf die Psyche jüdischer Jugendlicher aus Deutschland einzugehen versteht und der geeignet ist, als Führerin, Erzieherin und Lehrerin der Mädchen – und natürlich auch der Jungen – zu dienen.
Ich füge noch zwei kleine technische Anfragen hinzu.
1. Ich schrieb Dir vor einiger Zeit von einem Jungen, der seiner Augen wegen in einem Handwerk, wenn möglich der Tischlerei, ausgebildet werden müsste und der, wenn Ihr dies nicht zusichern könnt, nicht mitgehen könnte. Der Junge ist, abgesehen von seinen Augen, vollkommen gesund und sehr kräftig und ein sehr feiner Mensch, der für die Gruppe vieles bedeuten würde. Ich wiederhole nun meine
(Seite 3)
Anfrage und bitte Dich, mir möglichst umgehend zu antworten, da ja die Erteilung des Zertifikats davon abhängig gemacht werden muss.
2. Da Eure Vollmacht für Liebenstein von 60–65 Menschen spricht, bestünde nun für uns die Möglichkeit, einen Jungen, der sehr gern mitkommen wollte und der voll zahlt, als voraussichtlich 64. noch mitzuschicken. Der Junge befindet sich vielleicht schon im Lande (Ernst Sander). Ich gab ihm seinerzeit auf dringenden Wunsch des Vaters einen Zettel, aus dem Ihr ersehen konntet, dass es sich um ein Mitglied der Gruppe für den Fall handelt, dass Ihr mehr als 63 aufnehmen könnt. Ich bitte Dich doch ausdrücklich, Dich dazu zu äussern, ob Ihr also mit dem Kommen des 64. einverstanden seid. Uns würden vermutlich keine Schwierigkeiten daraus entstehen, da der Junge wahrscheinlich ohne Jugendzertifikat hinüberkommen kann bezw. schon hinübergekommen ist.
Herzlichst Schalom
Adam S.