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Ein Bericht von Alfred Binswanger

Bereits in den Tagen vor dem Boykott am 1. April 1933 wurden in der bayerischen Stadt Regensburg viele Jüdinnen*Juden willkürlich in „Schutzhaft“ genommen, so auch der 73-jährige Fabrikant Alfred Binswanger.

In seinem Nach­lass ist ein Bericht erhalten, den er wenige Tage danach verfasste. In fein­säuberlicher Sütterlin­schrift schildert er die Ereignisse, einschließlich einer Massen­verhaftung von etwa 124 Jüdinnen*Juden am 30. März 1933. Auch er gehörte zu den Verhafteten. Seine Fest­nahme verlief ohne körperliche Gewalt und er wurde bereits am folgenden Tag aufgrund seines hohen Alters und seines schlechten Gesundheits­zustands entlassen.

In einem kurzen Satz geht Alfred Binswanger in seinem Bericht jedoch auch auf das Schicksal eines jüdischen Güter­händlers im etwa 45 km entfernten Straubing ein:

„In Straubing wurde jüdische Güter­händler Selz am frühen Morgen aus dem Bette geholt, bis nach Bogen verschleppt u dort erschossen u verstümmelt. Die N.S.D.A.P. behauptete, die Tat sei von verkappten Kommunisten erfolgt.“

Es handelte sich hierbei um Otto Selz.

 Porträt eines älteren Herrn in Anzug und Krawatte (Schwarz-Weiß-Foto)

Porträt von Alfred Binswanger (1860–1933), ca. 1931; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/22/0, Schenkung von Mara Fazio. Weitere Informationen zu diesem Foto finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Zweiseitiger handschriftlicher Bericht mit eng beschriebenen Zeilen, auch die Rändern beider Seiten sind mit Einschübe zum Text beschriftet

Bericht von Alfred Binswanger (1860–1933) über seine Verhaftung im März 1933, Regensburg, 11. April 1933; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2010/1/83, Schenkung von Danny L. Goldberg, Foto: Jens Ziehe. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Transkription des Berichts von Alfred Binswanger

Bericht von Alfred Binswanger (1860–1933) über seine Verhaftung im März 1933

Seite 1:

Regensburg 11. April 1933

Die Zeit zwischen dem 21ten März d. J. (Tag der Reichstags-Eröffnung) u dem 1. April d. J. war für die gesamten Juden Deutschlands resp. diejenigen von Regensburg, eine wahre Schreckenszeit. In durchaus loyaler Weise hatten die Regensburger Juden ihre Häuser mit blauweißen schwarz-weiß-roten Fahnen beflaggt. Einer größeren Anzahl jüdischer Hausbesitzer wurde aber von S.A. Leuten anbefohlen die schwarz-weiß-roten Fahnen wieder hereinzunehmen, angeblich weil Juden keine Deutschen seien u kein Recht hätten eine deutsche Fahne zu hissen.*

Jeden Tag sind Verhaftungen von jüdischen Bürgern vorgenommen worden. Es hat sich dabei sowohl um solche Juden gehandelt, die sich in irgendeiner Weise mißliebig gemacht hatten, aber auch um solche, von denen Niemand etwas Nachtheiliges sagen konnte. Die Haft wurde oft nur eine Nacht aufrecht erhalten. In Straubing wurde der jüdische Güterhändler Selz am frühen Morgen aus dem Bette geholt, bis nach Bogen verschleppt u dort erschossen u verstümmelt. Die N.S.D.A.P. behauptete, die Tat sei von verkappten Kommunisten erfolgt. In Regensburg hat es sehr böses Blut gemacht, dass der jüdische Arzt Dr. Hammel öffentlich erklärte, er habe seinen Sohn zur Erziehung nach Paris gegeben weil ihm die deutschen Lehrer nicht gut genug seien. Außerdem habe er sein Geld in französischen Rüstungswerten angelegt. Dr. Hammel ist übrigens mit seiner Frau ins Ausland geflüchtet. – Durch gelegentliche Verhaftungen anderer Juden in Deutschland ist dann die bekannte Greuelhetze im Ausland entstanden, die den deutschen Juden furchtbar geschadet hat u zu dem Boykott jüdischer Geschäfte führte.

[Nachtrag am Rand der 1. Seite]

*In unserem Anwesen am Unteren Markt hißten wir die blauweiße und schwarzweißrote Fahne ohne belästigt zu werden, im Lager der [unleserlich] Verw. die schwarzweißrote u die Hakenkreuz-Fahne. Die Plakate: ‚Kauft nicht beim Juden, kauft beim Deutschen’, sind an unserem Laden Maxstr. und am Unteren Markt nicht angebracht worden.

Seite 2:

Obwohl derselbe für Samstag den 1ten April angekündigt war sind hier in Regensburg schon von Mittwoch den 29. März an an den Eingangstüren zu den Läden jüdischer Kaufleute S.A. Posten aufgezogen, die die Käufer vom Besuch der Läden abhalten wollten.

Am Donnerstag den 30. März erfolgte eine Massenverhaftung hiesiger Juden. Auch ich bin nicht verschont worden. Nachmittags 4 Uhr kamen 2 S.A.-Leute ins Geschäft u verlangten, daß ich mit ihnen gehe. Ich fragte was ich verbrochen habe u da antwortete der eine S.A. Mann: Er hätte den Auftrag alle von der Rasse zu verhaften. Es wurde mir gestattet ein Auto zu nehmen. Andere Juden wurden aber zu Fuß durch die Stadt geführt u vom Pöbel gefolgt. Als ich im Untersuchungs-Gefängnis in der Augusten-Straße ankam war dort im Hofe eine große Zahl von Glaubensgenossen, auch Frauen, resp. Geschäfts-Inhaberinnen, versammelt. Wir erlitten aber keinerlei schlechte Behandlung u durften uns Eßwaren etc. kommen lassen. Für die Nacht wurden notdürftig Amtszimmer u Zellen hergerichtet. Ich selbst verbrachte die Nacht auf einem Strohsack mit noch 5 Herren zusammen im Verhörzimmer. Morgens ließ ich mich beim Arzt melden u mit mir noch eine Anzahl älterer oder leidender Herren. Dr. Bunz untersuchte mich u nahm mich dann in die Liste derjenigen Leute auf, die zuerst wieder entlassen werden sollen. Von insgesamt ca. 124 Verhafteten wurden 24 am Freitag Vormittag den 31. März wieder entlassen. **

Meine Frau holte mich im Auto ab u wir kamen dann glücklich u von Allen, besonders vom Personal, freundlichst begrüßt, zu Hause wieder an.

Schorsch Eisenmann wurde bei seiner Ankunft in Regensb. am Freitag Vorm. ebenfalls verhaftet, aber sofort wieder freigelassen.

Anläßlich meiner Verhaftung, die sehr schnell bekannt wurde, da die hiesige „Ostwacht“ alle Namen der Verhafteten veröffentlichte, habe ich eine Reihe von Sympathie-Kundgebungen erhalten.

In Augsburg u München kamen nur ganz wenig Verhaftungen vor.

[Nachtrag am Rand der 2. Seite]

**Heute, am 11. April, sind noch 10-15 jüdische Herren in Haft.

Wenige Wochen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme waren im Oktober und November 1932 im antisemitischen Hetzblatt Der Stürmer zwei Artikel mit den Titeln „Jud Selz der Bauernpeiniger aus Straubing“ und „Jud Selz der Bauernwürger von Straubing“ erschienen, die Otto Selz und andere Juden als Betrüger und Wucherer diffamierten.

Otto Selz ließ diese Verleumdungen nicht auf sich sitzen und erstattete Strafanzeige. Mit Erfolg. Das Land­gericht Regensburg erließ im Januar 1933 eine einstweilige Verfügung gegen Julius Streicher, Heraus­geber des Hetz­blattes Der Stürmer sowie NSDAP-Gau­leiter von Franken, und gegen drei seiner Mitarbeiter. Hierin wurde ihnen untersagt, Otto Selz als Betrüger und Wucherer zu verunglimpfen. Zudem ordnete das Gericht an, dass der Wortlaut der einst­weiligen Verfügung prominent auf der Titel­seite des Blattes abzudrucken sei. Dem wurde in der Ausgabe vom Februar 1933 Folge geleistet.

Wenige Wochen später, am 15. März 1933, wurde Otto Selz ermordet. Seine Leiche wurde noch am selben Tag in einem Waldstück am Drei­faltig­keits­berg bei Weng aufgefunden, doch die Ermittlungen wurden rasch eingestellt und die Täter blieben auf freiem Fuß.

Titelblatt der Hetzschrift „Der Stürmer“. Unter anderem zu sehen sind eine antisemitische und rassistische Karikatur und am unteren Rand der Seite der von Heinrich von Treitschke geprägte antisemitische Claim „Die Juden sind unser Unglück!“

Titelseite des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer mit der Überschrift „Jud Selz der Bauernwürger von Straubing“, November 1932

Todesanzeige mit Nachruf aus einer Zeitung

Nachruf des Kindermädchens der Familie Selz, Straubinger Tagblatt vom 16. März 1933; mit freundlicher Genehmigung durch das Straubinger Tagblatt

Transkription des Nachrufs

Nachruf!

Ruchlose Mörder raubten von Frau und Kindern den besten, edelsten Mann

Herrn Otto Selz

marterten ihn grausam und töteten ihn feig.

Nicht sein Tod – sein Leiden ist zu beweinen. Solange ich ein offenes Auge hab, werde ich in Ehrfurcht und dankbarer Liebe an ihn denken.

Rosa Steiner

Nach 1945 wurden die Ermittlungen im Mord­fall Selz wieder aufgenommen. Die neuen Ermittlungen brachten zwar keine Täter vor Gericht, jedoch stellte die Ober­staats­anwaltschaft 1961 abschließend fest:

„Es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich um eine von hohen Funktionären der NSDAP eingeleitete und durchgeführte Aktion handelte und dass Selz getötet wurde, weil er Jude war und sich bei Streichers ‚Stürmer‘ verhasst gemacht hatte […].“

Ob Julius Streicher den Mord an Otto Selz persönlich in Auftrag gegeben hatte und wer die Tat beging, konnte hingegen nicht mehr festgestellt werden.

Sabrina Akermann

Zitierempfehlung:

Sabrina Akermann (2020), Ein Bericht von Alfred Binswanger.
URL: www.jmberlin.de/node/7421

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