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Rückseite eines vergilbten Zettels in extremem Querformat. Einige Buchstaben des Schreibmaschinentextes der Vorderseite sind als spiegelverkehrter Abdruck sichtbar, außerdem eine handschriftliche Notiz

Der „Lauf­zettel“ von Erich Sime­nauer

Die Grundlage für willkürliche Verhaftungen während der NS-Zeit bildete die Verordnung zum „Schutz von Volk und Staat“, die am 28. Februar 1933 fast sämtliche Grund­rechte aufhob und die will­kürliche Ver­folgung und Ver­haftung von Personen er­möglichte.

Zur Vollstreckung dieser „Schutzhaft“ hatte im März 1933 die Ein­richtung von Konzentrations­lagern im gesamten Reichs­gebiet begonnen. Hierfür dienten unter anderem still­gelegte Fabriken, Kasernen, SA-Sturm­lokale und Gefängnisse. Im Gegen­satz zu den Gefängnissen der Justiz konnten in den so genannten „wilden Konzentrations­lagern“ Personen ohne rechts­kräftiges Urteil und ohne Begrenzung der Haft­dauer eingeliefert werden.

In Berlin-Kreuzberg wurde am 1. April 1933 der Chirurg und Psycho­analytiker Prof. Dr. Erich Simenauer an seinem Arbeits­platz im Urban-Kranken­haus von der SA verhaftet und in das SA-Gefängnis in der General-Pape-Straße verschleppt. Dort erhielt er die Gefangenen­nummer 235, die auf einem „Lauf­zettel“ notiert wurde, den er bei sich tragen musste.

Schwarz-Weiß-Foto: Erich Simenauer steht als zweiter von links in einer Gruppe von vier Personen, rechts neben ihm steht eine Frau, die kess in die Kamera schaut, alle tragen weiße Kittel. Keiner der anderen Abgebildeten ist namentlich bekannt.

Erich Simenauer (1901–1988, 2. v. l.) mit Kolleg*innen aus dem Krankenhaus Am Urban, Berlin, 15. Februar 1928; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. FOT 90/6/1, Schenkung von Agnes Wergin. Weitere Dokumente und Fotos zu Erich Simenauer finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Vergilbter Zettel in extremem Querformat. Darauf sieht man bereits etwas verblichenen Text, teils handschriftlich, teils von einer Schreibmaschine geschrieben

Vorderseite des Laufzettels für Erich Simenauer (1901–1988) mit der Gefangenennummer 235, Berlin 1. April 1933; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. DOK 89/29/41, Schenkung von Agnes Wergin, Foto: Jens Ziehe

Unter den SA-Männern, die Simenauer bewachten, befand sich zufällig ein ehe­maliger Patient, Simenauer hatte ihm kurz zuvor den Blind­darm ent­fernt. Möglicherweise wollte sich der SA-Mann erkennt­lich zeigen und notierte auf die Rück­seite des Lauf­zettels den Ver­merk „Nicht miß­handeln“.

Rückseite eines vergilbten Zettels in extremem Querformat. Einige Buchstaben des Schreibmaschinentextes der Vorderseite sind als spiegelverkehrter Abdruck sichtbar, außerdem eine handschriftliche Notiz

Rückseite des Laufzettels für Erich Simenauer (1901–1988) mit dem handschriftlichen Vermerk „Nicht mißhandeln“, Berlin 1. April 1933; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. DOK 89/29/41, Schenkung von Agnes Wergin, Foto: Jens Ziehe

In der folgenden Nacht verging sich die SA in einer Gewalt­orgie an den Gefangenen. Als Erich Simenauer an der Reihe war, hielt er der SA-Wachmann­schaft seinen Lauf­zettel mit diesem Ver­merk entgegen und wurde dadurch verschont. In einem Interview Anfang der 1980er Jahre erinnerte er:

„Rechts und links von mir wurden einige Leute mit Knüppeln so lange geschlagen, bis sie tot waren, es war entsetzlich. Wenn sie sie wenigstens erschossen hätten, aber sie haben sie zu Tode geknüppelt! Mir hat dieser Zettel das Leben gerettet.“

Nach vier Wochen Haft wurde Simenauer schließ­lich „vorläufig“ entlassen und floh noch im Früh­sommer 1933 gemeinsam mit seiner Frau nach Zypern.

Das „wilde KZ“ in den Keller­räumen der Kasernen­anlage in der General-Pape-Straße existierte bis Dezember 1933. Neben Jüdinnen*Juden befanden sich vor allem Mitglieder und Funktionär*innen der KPD, SPD sowie Gewerkschafter*innen und ungewöhnlich viele Frauen unter den heute etwa 500 namentlich bekannten Opfern.

Sabrina Akermann

Zitierempfehlung:

Sabrina Akermann (2020), Der „Lauf­zettel“ von Erich Sime­nauer.
URL: www.jmberlin.de/node/7341

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