23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
Jüdisches Volksheim
- Die heutige Max-Beer-Str. 5 (früher Dragonerstr. 10) im Frühjahr 2012 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Gelia Eisert
Die vor der Wiedervereinigung zur DDR gehörende Dragonerstraße in Berlin-Mitte erhielt erst 1951 ihren heutigen Namen Max-Beer-Straße. Mit der Umbenennung sollte an den österreichisch-jüdischen Publizisten, Sozialisten und Historiker Max Beer erinnert werden.
Das heute denkmalgeschützte Haus in der Dragonerstraße 10/Max-Beer-Straße 5 beherbergte früher einmal das Jüdische Volksheim. Die von Siegfried Lehmann gegründete Einrichtung diente mittellosen osteuropäischen Juden im Scheunenviertel als Treffpunkt und Begegnungsraum. Die Eröffnung fand am 18. Mai 1916 statt.
Das Konzept des Jüdischen Volksheims orientierte sich an der englischen »Settlementbewegung«. Die sozialreformerische Leitidee dieser Bewegung bestand darin, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen bürgerlicher und proletarischer Herkunft einander begegnen, sich durch gemeinsames Arbeiten und Leben kennen lernen und voneinander lernen sollten, um so soziale Barrieren zu überwinden.
Ziel des Jüdischen Volksheims war es, zunächst in Berlin und dann auch in anderen deutschen Städten »Jüdische Settlements« (»jüdische Siedlungen«) zu gründen. Diese sollten in sozial benachteiligten Vierteln nicht einfach Armenhilfe betreiben, sondern eine Art Volkshochschule für Migranten und deutsche Juden, Kinder und Erwachsene sein.
In Vortragsveranstaltungen und gemeinsamen Abenden wurde das Gemeinschaftsgefühl betont. Auch soziale und sozialistische Ideen gehörten zu den Visionen des Volksheims.
Der Pädagoge Siegfried Lehmann/Salomon Lehnert (1892–1952), einer der Gründer des Volksheims, vertrat die Ansicht, dass deutsche Juden im Umgang mit osteuropäischen Juden ihr Wissen über das Judentum vermehren könnten, während man die Migranten auf diesem Wege in die deutsche Gesellschaft integrieren könne.
In mehreren Artikeln legte Siegfried Lehmann seine Thesen dar
»Wir geben zu, dass wir den in Deutschland wohnenden Ostjuden nicht Vermittler von jüdischen Werten sein können, die […] in der Tradition liegen […]; wir können nur danach streben, in Deutschland ihnen und uns ein Heim zu schaffen, in dem diese Werte dem einwandernden Ostjuden lebendig bleiben und uns lebendig werden können. Die ostjüdischen Kinder werden von uns […] die Freude an der Sonne und an den Blumen, Liebe zur Schönheit und Geradheit lernen, wir von den Ostjuden Reste religiöser Innerlichkeit und die in der jüdischen Vergangenheit entstandenen Werte. Eine jüdische Volkskultur in Deutschland, von einer intellektuellen Oberschicht gepflegt, wird stets ein künstliches, […] Erzeugnis sein, solange wir nicht an der Quelle schöpfen und diese Volkskultur in Gemeinschaft mit ihren wirklichen Trägern erleben. […]. Ein jiddisches Volkslied, […] von deutschen Jungen in einem deutschen Walde gesungen, lässt uns nicht einmal die jüdische Seele ahnen, aus der das Volkslied erwachsen ist […]. Es wird bei uns leicht zur sentimentalen Maskerade werden. Wir wollen zu den Menschen gehen, die allein ein jüdisches Lied singen können, weil Melodie und Inhalt noch selbstverständlicher Ausdruck ihrer Seele ist.«
Aus: Salomon Lehnert (i.e. Siegfried Lehmann), Jüdische Volksarbeit, in: Der Jude 1, Heft 2 (Mai 1916)
Salomon Lehnert über Jüdische Volksarbeit in »Der Jude« im Mai 1916
Die Ideen des Jüdischen Volksheimes waren unter den deutschen Juden nicht unumstritten.
Der Religionsphilosoph Gershom Scholem (1897–1982) beschrieb die Aktivisten des Volksheims als »fast ausschließlich mehr oder weniger nationaljüdisch eingestellte Westjuden, die zum Zionismus tendierten, aber über jüdische Dinge nur recht embryonale Kenntnisse hatten«.
Scholem stand dem »Kultus der Ostjuden«, der seiner Meinung nach im Volksheim entstanden war, kritisch gegenüber. Statt einer unreflektierten Aneignung vermeintlich jüdischer Werte mit »solchem Unfug und literarischem Geschwätz« empfahl Scholem den Aktivisten, Hebräisch zu lernen und die Quellen zu lesen. Seine Auseinandersetzung mit Siegfried Lehmann/Salomon Lehnert führte schließlich zum Bruch mit dem Volksheim.
Gershom Scholem über das Jüdische Volksheim
»Als ich im September 1917 zum ersten Mal ins Volksheim kam, bot sich mir ein seltsames Bild. Die Helfer und Besucher saßen auf den Stühlen; am Boden höchst malerisch um Gertrude, die Röcke hochästhetisch drapiert, saßen die jungen Mädchen […]. Siegfried Lehmann las aus Franz Werfels Dichtungen, und ich höre noch in meiner Erinnerung das ›Gespräch an der Mauer des Paradieses‹, das sicher nicht zu seinen schlechtesten Gedichten gehörte. Aber ich war schockiert. Was mich umgab, war eine Atmosphäre ästhetischer Ekstase, wohl das letzte, was zu finden ich hergekommen war. […]
Inzwischen ging ich nochmal hin, und wieder missfiel mir die Atmosphäre und eine durchaus ernsthaft gemeinte Diskussion über die mir her als Witz erscheinende Frage, ob man in den Räumen des Volksheims eine Reproduktion eines berühmten Gemäldes der Jungfrau Maria aufhängen könne. Und das in einem Heim, in dem Kinder armer, aber strikt orthodoxer ostjüdischer Familien, deren Eltern nachmitags dorthin kommen würden, um sie abzuholen, den Tag verbringen sollten.«
Aus: Gershom Scholem, Jugenderinnerungen. Frankfurt am Main 1994, S. 83–85
Gustav Landauer (1870–1919), Theoretiker des Anarchismus und Politiker der Münchner Räterepublik, schreibt über das Jüdische Volksheim in einem Brief an seine Tochter.
Gustav Landauer an seine Tochter Charlotte
»19. Mai 1916, Meine Liebe Lotte!! […] Gestern ist das Jüdische Volksheim in der Dragonerstraße eröffnet worden, und ich habe da zur Eröffnung in einer in sich geschlossenen Form meinen Schlußvortrag über Sozialismus gehalten. Es war eine große Menge Menschen gekommen und in drei oder vier nicht zu großen Zimmern drängten sich an die 200 Menschen. Ein paar junge Leute habe da mit verhältnismäßig geringen Mitteln etwas Reizendes geschaffen. Die Wohnung ist ganz entzückend ausgestattet, wohltuend, traulich und ernst zugleich. Es sollen da Studenten, Kaufleute, Arbeiter beiderlei Geschlechts zusammenkommen, zu belehrenden Gesprächen und Vorlesungen; Mütter werden beraten, ein Kinderhort ist da, und zwei Stuben werden als Werkstätten für Tischlerei usw. eingerichtet, was gerade für die Juden, die aus dem Osten kommen und oft nichts als Hausierer und dergleichen gelernt haben, sehr wertvoll ist.«
Aus: Gustav Landauer, An Charlotte Landauer, in: Gustav Landauer.Sein Lebensgang in Briefen (hg. v. Martin Buber), Frankfurt/Main 1929, S. 136f.
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