23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
Hebräische Buchhandlung und Plattenfirma »Semer«
- Haus in der Almstadtstr. 10 im Jahr 2012 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Gelia Eisert
Das Gebäude in der Grenadierstraße 28, heute Almstadtstraße 10, in dem sich die »Hebräische Buchhandlung« von Hirsch Lewin befand, steht noch. In der Mitte des historischen Hauses ist ein Toreingang, rechts daneben lag das Geschäft.
Hirsch Lewin (1892–1958) aus Wilna wurde im Ersten Weltkrieg als Zivilgefangener zwangsweise nach Deutschland gebracht und musste in einer Lokomotivenfabrik arbeiten.
Nach dem Krieg wurde er entlassen und entschloss sich in Berlin zu bleiben. Er arbeitete zunächst in der Buchhandlung Gonzer in der Grenadierstraße 34, bis er 1930 seine eigene »Hebräische Buchhandlung« in der Grenadierstraße 28 eröffnete.
Die jüdische Kundschaft im Geschäft von Hirsch Lewin war bunt gemischt und für jeden gab es etwas im Sortiment: religiöse Bücher auf Hebräisch, Geschichts- und Kinderbücher, Gegenstände des religiösen Gebrauchs wie Gebetsmäntel oder Kerzen für den Schabbat und als Besonderheit: Schellackplatten. Umgangssprachen im Geschäft waren Jiddisch, Deutsch und Russisch.
Wolf Lewin bei der Eröffnung der Ausstellung im März 2012 über seine Kindheit im Scheunenviertel, das Plattengeschäft »Semer«, die »Kristallnacht« und die Flucht seiner Familie
- Wolf/Zeev Lewin (geb. 1927) in der Schule Siegmundshof der Gemeinde Adass Jisroel © Zeev Lewin, Ramat Gan
- Wolf/Zeev Lewin (geb. 1927) und Lilly Lewin (geb. 1925) mit Nachbarskindern im Hof der Grenadierstraße 28 (Wolf ganz links, Lilly ganz rechts), ca. 1935–1939,
© Zeev Lewin, Ramat Gan
Zeev Lewin beschreibt seine Kindheit im Berliner Scheunenviertel
»Wir lebten in einer kleinen Wohnung in der Berliner Grenadierstraße mitten im Scheunenviertel, dem bevorzugten Viertel der mittellosen jüdischen Emigranten aus Russland und Polen. Dort gab es Dutzende Stieblach (Betstuben), kleine Synagogen, koschere Bäckereien, Lebensmittelgeschäfte und Restaurants. Ein Großteil der Menschen auf der Straße trug traditionelle Kleidung, Kaftan und Streimel. Wenn die wenigen deutschen Geschäfte nicht gewesen wären, hätte man meinen können, man wäre in einer kleinen Stadt in Polen.«
Die Geschichte der Familie Lewin, aufgeschrieben von Zeev Lewin um 2000
- Rodla Lewin (1896–1967) mit ihren Kindern Wolf/Zeev (geb. 1927) und Rifka (1932–2010), ca.1932/33
© Zeev Lewin, Ramat Gan
Während des Novemberpogroms 1938 wurden Lewins Geschäft und seine Waren zerstört. Im September 1939 wurde Hirsch Lewin verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Mit der Auflage, Deutschland sofort zu verlassen, wurde er sechs Monate später entlassen.
Zuerst flüchtete Lewin in die Tschechoslowakei. Von dort aus versuchte er gemeinsam mit anderen jüdischen Flüchtlingen, auf einem Schiff nach Palästina zu gelangen. Vor der italienischen Küste sank dieses Schiff. Die Menschen an Bord konnten sich retten und wurden in Italien interniert.
Die restlichen Mitglieder der Familie Lewin blieben zunächst in Berlin. Die Familie traf sich erst 1944 in Palästina wieder. Dort stieg Hirsch Lewin mit Unterstützung seines Sohnes Zeev wieder in die Produktion von Schallplatten ein. Zeev Lewin führte das Unternehmen nach dem Tod seines Vaters 1958 erfolgreich weiter.
Erinnerungen von Zeev Lewin
»Der erste Laden in der Grenadierstraße 28 war eigentlich ein Teil der Parterre-Wohnung, in der wir wohnten. Hier wurden ich und meine ältere Schwester Lilly und meine jüngere Schwester Rifka geboren. Im Jahr 1930 zogen wir in eine größere Wohnung und meine Eltern eröffneten ein viel größeres Geschäft im selben Haus. Es war in einige Räume aufgeteilt, in denen eine große Auswahl von Büchern, Antiquariat, Judaica und Schallplatten zu finden war. […] Lilly und ich kannten natürlich alle jiddischen und hebräischen Schlager und sangen sie immer wieder.
[...] Nach langjähriger schwerer Arbeit ging das Geschäft in den früheren dreißiger Jahren gut. Meine Eltern bekamen endlich den Erfolg zu spüren. Umso größer waren ihre Enttäuschung und ihr Leid, als die Nazis alle ihre Errungenschaften zerstörten. Es geschah allmählich, zuerst von Jahr zu Jahr immer schwerere Einschränkungen, bis zum totalen Ruin in der Kristallnacht. […]
Früh am Tag des Pogroms rief ein guter Freund meines Vaters an […] und drängte meinen Vater sofort die Sicherheit seiner Wohnung im Westen aufzusuchen. Vater und ich blieben den ganzen Tag dort und ich sah meinen Vater weinen. Am Abend fuhr ich zurück und sah schon von der Ecke Münzstraße die hohen Flammen vor allen jüdischen Geschäften. Vor unserem Laden wurden unzählige Bücher, Schallplatten und Möbel auf dem riesigen Scheiterhaufen verbrannt.
[...] Wir waren glücklich, als wir uns im Juli 1944 alle vereint im damaligen Palästina wieder trafen. Wir sind die einzige Familie in unserem Bekanntenkreis aus Berlin, die vollzählig den Krieg überlebte.«
Zeev Lewin in einer Rede im Centrum Judaicum am 5. November 2001
- Hirsch Lewin, geboren 1892 in Wilna, 1958 in Israel verstorben, hier ca. 1923 © Zeev Lewin, Ramat Gan
- Hirsch Lewin im März 1941 © Zeev Lewin, Ramat Gan
- Wolf/Zeev Lewin (geb. 1927) in der Schule Siegmundshof der Gemeinde Adass Jisroel © Zeev Lewin, Ramat Gan
1932 gründete Hirsch Lewin die Schallplattenfirma »Semer«, die bis ca. 1937 Schellackplatten veröffentlichte. Das Wort »Semer« ist hebräisch und bedeutet Gesang.
Das »Semer«-Programm war äußerst vielfältig und reichte von jiddischen Schlagern und Volksliedern über Opernarien bis hin zu kantoraler Musik. Gesungen wurde auf Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Russisch und Italienisch.
»Semer« gab nicht nur bereits existierende, sondern auch selbst produzierte Aufnahmen heraus, wie z.B. solche vom Sänger Israel Bakon. Der aus Westgalizien stammende junge Kantor sang für »Semer« kantorale Stück, jiddische Volkslieder und einen zionistischen Song auf Jiddisch ein.
Zeev Lewin über »Semer«
»Anfangs wurden die Schallplatten aus Amerika importiert, später begann mein Vater, mit jungen Talenten aufzunehmen und schuf die Marke Semer, die mit der Zeit ein beachtliches Angebot umfasste. Das Unternehmen war erfolgreich und Schallplattenaufnahmen wurden zu seinem Hauptgeschäft. Einige dieser Aufnahmen wurden gerettet, weil ein Koffer mit Originalaufnahmen von einem Freund meines Vaters, dem die Auswanderung gelang, in die Staaten mitgenommen werden konnte.«
Die Geschichte der Familie Lewin, aufgeschrieben von Zeev Lewin um 2000
Das jiddische Volkslied »Leybke fort keyn Amerike« (deutsch: Lebka fährt nach Amerika), gesungen von Pinkas Lavender, erzählt von der Auswanderung nach Amerika – eine seit den 1880er Jahren in osteuropäisch-jüdischen Familien häufige Erfahrung. Der Familienvater und Ehemann, der in Amerika ein neues Leben beginnt, vergisst seine Familie in Europa. Das erste und einzige Lebenszeichen von ihm ist ein Brief, in dem er die Scheidung fordert, weil er in Amerika wieder heiraten möchte.
Zeev Lewin über »Leybke fort keyn Amerike«
»Wir Kinder kannten alle jiddischen Lieder. Unser Schlager war ›Leipke fuhrt ken Amerika‹ und wir sangen jedes Wort mit. Die Aufnahmen wurden im Studio gemacht, dirigiert von Arno Nadel, Schabtai Petruschka und vielen anderen. Dann wurden die Platten bei der Firma Lindstroem gepresst und auch nach Polen und Amerika verschickt. Wir haben noch einen Brief von Lindstroem aus dem Jahre 1946 in dem sie berichten, dass das Werk ausgebombt wurde und leider alle Matritzen vernichtet sind.«
Zeev Lewin im Jahr 2012
- Pinkas Lavender: Lebka fährt nach Amerika, am Flügel begleitet von Max Janowski, aufgenommen ca. 1931
© Sammlung Rainer Lotz
Pinkas Lavender: Lebka fährt nach Amerika, am Flügel begleitet von Max Janowski, aufgenommen ca. 1931
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