23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
Familie Kahan
- Schlüterstraße 36 im März 2012 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Gelia Eisert
Den Stadtbezirk Charlottenburg, in dem sich auch die Schlüterstraße befindet, nannte der Berliner Volksmund in den 1920er Jahren »Charlottengrad«. Denn in Folge der Oktoberrevolution und des russischen Bürgerkriegs erlebten Charlottenburg und Berlin einen starken Zuzug von Russen, die sich rund um den Kurfürstendamm niederließen.
Zu dieser Zeit befanden sich unter den mehr als 100.000 russischen Emigranten in etwa 10.000 russische Juden in Berlin. Unter diesen waren auch wohlhabende Migranten wie die große Familie von Chaim und Malka Kahan. Sie konnten Teile ihres Vermögens in die Emigration mitnehmen und in Berlin neu investieren.
Die Familie Kahan stand der neo-orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel nahe. In ihrer weitläufigen Wohnung in der Schlüterstraße 36/37 hielten sie eigene Gottesdienste ab, an denen zum Schabbat und an jüdischen Feiertagen bis zu einhundert Personen teilnahmen. Schwiegersohn Jonas Rosenberg war ausgebildeter Kantor und leitete den Gottesdienst. Mittellose Flüchtlinge aus Osteuropa waren ebenso willkommen wie Literaten, Politiker und Künstler.
Dvora Rosenfeld, geb. 1914 in Jekaterinoslaw, flüchtete mit ihren Eltern vor russischer Revolution und Bürgerkrieg.
Nach zwei Jahren in Berlin wanderte die Familie nach Palästina aus. Dvora lebt in Tel Aviv und erinnert sich an die Berliner Jahre.
Chaim Nachumowitsch Kahan (1850–1916) kam im russischen Ölgeschäft zu Wohlstand. Er besaß Ölfelder und Raffinerien in Baku und Saratow und gründete Filialen in Jekaterinoslaw, Charkow, Warschau und St. Petersburg.
Nach dem Ersten Weltkrieg fasste die Familie Kahan in Berlin wirtschaftlich erneut Fuß. Hier gründeten Chaim Kahans Söhne die NITAG (Naphta-Industrie- und Tankanlagen AG), die Mitte der 1920er Jahre zu den großen Ölimporteuren in Deutschland zählte. Neben Tankanlagen in Wilhelmshaven und Hamburg, Köln und Hannover bauten sie ein überregionales Tankstellennetz auf. Seit 1924 gab es auch eine Filiale in Palästina.
Nach der Weltwirtschaftskrise und unter dem Druck der Nationalsozialisten verkauften die Kahans ihre Firmenanteile und emigrierten nach Palästina oder in die USA.
- Die Ölraffinerie von Chaim Kahan lag im Industriegebiet von Saratow (Russland). Schiffe brachten das Öl auf der Wolga flussaufwärts. Hier wurde es verarbeitet, auf Schienen verladen und bis nach Sibirien transportiert © Familie Haimi-Cohen
- Das Porträt von Hermann Struck (1876–1944) zeigt Chaim Kahan kurz vor seinem Tod 1916. Als überaus erfolgreicher Unternehmer hatte er sich am Aufschwung der russischen Ölindustrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts beteiligt. © Tel Aviv, Giza Haimi-Cohen
- Nitag-Visitenkarte, um 1924 © Tanhum Cohen-Mintz, Tel-Aviv
- Hier sitzt die Familie von Baruch (1866–1936), dem ältesten Sohn von Chaim und Malka Kahan, zusammen und freut sich über Familienzuwachs. Im Hintergrund ist ein Wandteppich aus den Bezalel-Werkstätten in Jeusalem zu erkennen, der sich leider nicht mehr im Besitz der Familie befindet. 1927 © Familie Haimi-Cohen
- Der silberne Elefant ist Teil eines Tafelaufsatzes, nach dem Vorbild fürstlicher Tafeln der Renaissance. Auf seinem Rücken wachte einst die Figur eines Chinesen über Essig und Öl, Salz und Pfeffer. Wien, um 1860 © Familie Ettinger-Rosenfeld
Als »Plat de Menage« rollte der Elefant über den langen Esstisch der Familie Ettinger in Uman. Mit der Hochzeit von David Ettinger und Rahel Kahan übersiedelte der Elefant 1909 nach Jekaterinoslaw. 1923, während der schwierigen Flucht über Moskau nach Berlin, war auch der Elefant im Gepäck der Ettingers versteckt. In Berlin blieb er allerdings unausgepackt, denn für den Zionisten David Ettinger war das Ziel Palästina. Heute lebt der Elefant mit der nächsten Generation in Tel Aviv.
Statement der Wissenschaftlerin Verena Dohrn
»Das Berliner Zimmer in der Wohnung Schlüterstrasse 36, erstes Obergeschoss links, in Berlin-Charlottenburg, wo die Familie des Ölimporteurs Chaim Kahan von 1913 bis 1933 residierte, ist der Ort, an dem mich die Geschichte der osteuropäisch-jüdischen Migranten in Berlin besonders berührte. Es diente der Familie als Synagoge. An Feiertagen versammelten sich dort bis zu hundert Personen, darunter so Prominente wie Salman Schasar, später Präsident Israels. Aber das Berliner Zimmer diente noch anderen Zwecken. Zu Schabbes war es auch Nachtasyl für Rabbiner aus dem östlichen Europa, die in der Schlüterstraße 36 zu Gast waren. Sie sollen dort auf Tischen geschlafen haben. Im Alltag war es das Herrenzimmer. Zuweilen verwandelte sich das Zimmer in einen Salon, wo Migranten und deutsche Juden zu geselligen Veranstaltungen zusammentrafen. Außer Familienüberlieferungen bürgt die anderthalb Meter hohe Nussbaumtäfelung ringsherum an den Wänden bis auf den heutigen Tag für diese Geschichte.«
Verena Dohrn ist Koordinatorin des Projekts »Charlottengrad und Scheunenviertel« an der FU Berlin
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