23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
Talmud Thora Ez Chaim
- Verkauf religiöser Bücher im Hauseingang der Grenadierstraße 31 (um 1928) © Eichwalde, Ernst-Thormann-Bildarchiv
Wer heute in die Almstadtstraße in Berlin-Mitte kommt, findet kaum noch Spuren davon, wofür diese Straße in den 1920er Jahren stand: Damals noch Grenadierstraße genannt, befand sich hier das religiöse und kulturelle Zentrum der polnisch- bzw. galizisch-jüdischen Zuwanderer. Wer als osteuropäisch-jüdischer Migrant nach Berlin kam, hatte meist schon von dieser Straße als einer geeigneten Anlaufstelle in der fremden neuen Stadt gehört.
Allein in der Grenadierstraße waren 19 Betstuben und Synagogenvereine untergebracht. Im Haus Nr. 31 befanden sich gleich vier Betstuben, das »Radomsker«, »Stutziner« und »Kalischer Shtibl« sowie der seit 1922 bestehende »Beit Midrasch Meradomsk« und die 1918 gegründete Talmud Torah Schule »Ez Chaim«.
Statement der Wissenschaftlerin Anne-Christin Saß
Grenadierstraße? Keine Tafel, kein Erinnerungszeichen - nichts in der Almstadtstraße im trendigen Bezirk Mitte deutet darauf hin, dass sich hier die »Hauptstraße« der osteuropäisch-jüdischen Migranten in Berlin befand. Die Leere an diesem Ort, der früheren Grenadierstraße, verdeutlicht für mich am stärksten das gewaltsame Ende der Migrationsgeschichte osteuropäischer Juden nach Berlin.
Anne-Christin Saß ist Mitarbeiterin des Projekts »Charlottengrad und Scheunenviertel« an der FU Berlin
In der Grenadierstraße trafen sich orthodoxe Migranten, um der Tradition ihrer Herkunftsorte gemäß zu beten. Die im 1. Stock der Nummer 31 untergebrachte Talmud Thora-Schule, unterrichtete Kinder jüdischen Glaubens in hebräischer Schrift und Lehre, bereitete männliche Jugendliche auf das höhere Tora-Studium vor und gewährte armen Schulkindern unentgeltlich Kleidung, Essen und Unterhalt.
Mit ihren nahezu 500 Mitgliedern und 130 Schülern, die 1925 den Unterricht besuchten, gehörte die Talmud Tora zu einem der größten Vereine im Scheunenviertel. Schon Anfang der 1920er Jahre erwarb die Talmud Thora dieses Haus. Dies kann als ein Indiz dafür gelten, dass der Verein für sich und seine Mitglieder eine Zukunft in Berlin sah.
- Obstgeschäft im Haus der Talmud Tora Ez Chaim (1929) © Ullstein
- Teilansicht der Fassade in der Grenadierstraße 31: Schild des »Hotel Adler« und die Aufschrift »Bet Hamidrasch Agudat Israel« (jüdische Betstube) in hebräischer Schrift, aufgenommen um 1935 © AKG
Joseph Lautmann (1916–2005) wurde in einem orthodoxen Elternhaus im Scheunenviertel geboren. Seine Eltern stammten aus Kongresspolen und waren schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland gekommen. In einem Gespräch mit Kerstin Campbell erinnert sich Joseph Lautmann an seine Talmud Thora Schule und den Alltag in der Grenadierstraße in den 1920er Jahren.
Josef Lautmann (1916-2005) interviewt von Kerstin Campbell, Berlin 2000
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