Jerusalem am Pruth
Czernowitz und die jüdische Literatur
Kaum ein anderer Ort setzt solche literarischen Assoziationen frei. Vor allem die jüdische Literatur hat Czernowitz und die Bukowina in die europäische Kulturlandschaft eingeschrieben. Doch ihre Geschichte ist auch geprägt von Brüchen und Verlusten.
Hat die Literatur diesen Ort, der viele Namen trägt – Czernowitz, Černivci, Cernăuți, Czerniowce, Černovcy –, langsam, aber stetig zu einer Fiktion werden lassen? 1988 musste der Osteuropahistoriker Karl Schlögel auf seiner Reise dorthin entschieden feststellen: „Czernowitz gibt es wirklich, nicht bloß als Topos der literarischen Welt.“ Und dennoch haben literarische Texte und Zuschreibungen die Wahrnehmung dieses Ortes und dieser Region in besonderem Maße geprägt. Die Beinamen der Stadt – „Jerusalem am Pruth“, „Klein-Wien“, „Schweiz des Ostens“, „das zweite Kanaan“ oder „jüdisches Eldorado Österreichs“ – tauchten keinesfalls erst in einer womöglich verklärenden geschichtlichen Retrospektive auf. Sie sind allesamt bereits zeitgenössisch entstanden, überwiegend in der Epoche der Habsburgermonarchie, der die multilinguale Bukowina als Kronland und Czernowitz als ihre Hauptstadt bis 1918 angehörten – in einer Ära, die der jüdischen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte garantierte und sie politisch und kulturell zur Entfaltung kommen ließ. Es sind natürlich auch Imaginationen eines „Ortes“ und doch scheint es, dass in der Gegenwart von Czernowitz bereits stets das Vergängliche mitgedacht werden soll, um es nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.
Der Blick auf die jüdische Literatur dieser Region eröffnet ein mannigfaltiges Spektrum von Texten in verschiedenen Sprachen. Es gibt zahlreiche jiddische Arbeiten, aber auch hebräische Werke, verfasst von Autoren, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel auswanderten, wie Aharon Appelfeld (1932–2018) oder Manfred Winkler (1922–2014). Der Großteil der Czernowitzer jüdischen Literatur entstand jedoch auf Deutsch, und die Lyrik und das Leben von Paul Celan (1920–1970), Rose Ausländer (1901–1988) oder Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942) haben bis heute neben der wissenschaftlichen Reflexion auch immer wieder ein hohes mediales Interesse hervorgerufen.
Es waren mehr als fünfzig Autorinnen und Autoren, die ab den 1930er-Jahren in den lokalen Zeitungen veröffentlichten, ihre Erstlingswerke herausbrachten und – abgekoppelt von Wiener Einflüssen – erstmals eine eigenständige, modernistische Bukowiner Literatur begründeten. Das oftmals beschriebene Inselphänomen „Bukowina“ und die Begrenzung des kommunikativen Raums beförderten in dieser kurzen Zeit vor dem Krieg dichterische Begegnungen, die mit der Ghettoisierung, den Deportationen und dem Tod zehntausender Bukowiner Jüdinnen und Juden in den Lagern Transnistriens und jenseits des Südlichen Bug in den Jahren 1941–1944 tragisch zu Ende gingen.
Die vergleichbaren kulturellen und sprachlichen Prägungen sowie die semantischen Erfahrungen in einem vielsprachigen Raum schufen an diesem Ort eine Literatur, deren Sujets und Motive eng mit der jüdischen Lebenswelt in der Stadt und im ländlichen Raum zusammenhingen und die auch eine chassidische Metaphorik oder ukrainische und rumänische Ausdrucksformen als künstlerisches Mittel umfassen konnten. Viele dieser damals noch jungen Autorinnen und Autoren wie Moses Rosenkranz (1904–2003), David Goldfeld (1904–1942), Alfred Kittner (1906–1991) oder Klara Blum (1904–1971) sollten mit ihren Gedichten in eine Mitte der 1930er-Jahre von Alfred Margul-Sperber (1898–1967) geplante Anthologie Die Buche aufgenommen werden. Das Czernowitzer Projekt scheiterte zwar und die Auswahl konnte erst rund 70 Jahre später in einem deutschen Verlag erscheinen, doch wäre ohne diese Sammlung und Margul-Sperber, der zeitlebens als Entdecker und Mentor mit allen heute bekannten oder auch unentdeckten jüdischen Autorinnen und Autoren aus der Bukowina im Austausch stand, die Literatugeschichtsschreibung dieser Region eine andere, eine unvollständige.
Wer sich nun auf die Suche nach den Gründen dieser enormen Dichte an jüdischer Literatur in deutscher Sprache begibt, in einem literarischen Raum mit dutzenden Zeitungen und Zeitschriften, die in den Kaffeehäusern der Stadt auslagen, geht zuerst zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit entwickelte sich Czernowitz am östlichen Rand der Habsburgermonarchie zu einer Stadt mit allen administrativen und kulturellen Attributen einer österreichischen k. u. k. Landesmetropole – allerdings fernab von Wien gelegen.
„Prächtig liegt die Stadt auf ragender Höhe. Wer da einfährt, dem ist seltsam zu Mute: er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden sind. Und will er wissen, wer dies Wunder vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: sie ist die deutsche.“
Diese Wahrnehmung Karl Emil Franzos’ (1848–1904) aus dem Jahr 1875, die die vielschichtigen und transkulturellen Einflüsse an einem Ort außer Acht lässt, an dem Juden, Deutsche, Ukrainer, Rumänen und Polen mit großen Bevölkerungsgruppen beheimatet waren, wirkt nicht nur aus heutiger Sicht eindimensional. Dennoch weist sie auf ein entscheidendes Motiv im jüdischen Bildungsprozess jener Zeit hin, nicht nur in Czernowitz, sondern in weiten Teilen der Monarchie: Deutsch galt in vielen jüdischen Familien als Sprache des gesellschaftlichen Aufstiegs, als Ausstieg aus dem Ghetto, als entscheidender Teil von Akkulturation und Assimilation.
Doch war sie keineswegs nur Mittel zum Zweck, Deutsch wurde als Kultursprache hoch geschätzt, das klassische Erziehungs- und Bildungsideal durch die Werke Goethes, Schillers, Heines oder Hölderlins in den Wohnstuben vermittelt, auch wenn sich die Vor- und Nachkriegsjugend dann auch den modernistischen Strömungen Rilkes, Trakls oder Benns zuwandte und den begnadeten Sprachmeister Karl Kraus hymnisch verehrte. Diesem bürgerlichen Milieu entstammten die meisten der jüdischen Intellektuellen und Kulturschaffenden in den 1920er- und 30er-Jahren in Czernowitz, abgesehen von einigen Autorinnen und Autoren, deren räumliche und familiäre Herkünfte tief in der jiddischsprachigen Welt wurzelten. Dazu zählten der früh emigrierte Itzik Manger (1901–1969), die nach 1918 aus Bessarabien eingewanderten Elieser Steinbarg (1880–1932) und Mosche Altman (1890–1981) oder auch Josef Burg, der 1912 in einem kleinen Ort in den bukowinischen Waldkarpaten geboren worden war und als einer der letzten auf Jiddisch schreibenden Schriftsteller 2009 in Czernowitz starb.
Vielleicht liegt die Faszination für eine Literaturlandschaft, die oftmals als eine „versunkene“ apostrophiert wird, als ein „poetisches Atlantis“, paradoxerweise darin, dass sie nach 1945 gar nicht unterging, nachdem der geografische Raum als Produktionsort ihrer Literatur verschwunden war. Vielmehr wurde diese „Landschaft“ neu geschaffen und erweitert durch die Czernowitzer Exilantinnen und Exilanten in Israel, Deutschland, USA, Rumänien oder Frankreich, wobei nun die Erfahrungen als Überlebende, als Ortssuchende und als Erinnernde in ihr dichterisches Werk eingingen. Die lyrische Bewältigung der Traumata wurde zu einem Leitmotiv wie auch das An-Denken an eine „mythisch-mystische Sphäre“ (Rose Ausländer) vor der einbrechenden Tragödie. Nun weiterhin in der Muttersprache zu dichten, die auch die „Sprache der Mörder“ war, konnte zu inneren Konflikten führen, die für einige erst nach Jahren zu überwinden waren. Paul Celan begab sich auf die Suche nach einer hermetischen und „graueren Sprache“ seiner Lyrik, verzweifelnd an einer rein ästhetischen Betrachtung seiner Gedichte durch den deutschen Literaturbetrieb, insbesondere der „Todesfuge“.
Die eingangs genannten Labels der Stadt wirken seltsamerweise selbst heute nicht antiquiert. Sie haben die dramatischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts überdauert, die an diesem Ort stets epochal verliefen. Mit den Übergängen von Österreich-Ungarn zu Rumänien und ab 1944 des nördlichen Teils der Bukowina zur Sowjetunion verschoben sich Grenzen, entstanden auch neue Herrschaftsnarrative. Seit 1991 ist Czernowitz/Černivci eine ukrainische Stadt, in der das historische und literarische Erbe nicht nur erinnert, sondern in transkulturellen Projekten auf die Gegenwart und Zukunft bezogen wird. An diesem geografisch und auch immateriell europäischen Ort wird der gegenwärtige russische Krieg gegen die Ukraine daher nicht nur als physische Bedrohung angesehen, sondern als Angriff auf die elementaren liberalen und geistigen Werte.
Dr. Markus Winkler ist wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Geschichte der Bukowina und die deutsch-jüdische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 2020 leitete er das digitale Forschungsprojekt „Die Vermessung der Ghettos. Grodno – Czernowitz – Chișinău“.
Dieser Artikel erschien zuerst im JMB Journal Nr. 24.
Zitierempfehlung:
Markus Winkler (2022), Jerusalem am Pruth. Czernowitz und die jüdische Literatur.
URL: www.jmberlin.de/node/9621