Diagonale der Vielfalt
Die Berliner Lindenstraße zwischen Vergangenheit und Zukunft
Stephan Becker
Im kaiserlichen Berlin galt die Arbeiterbewegung noch als „gemeingefährliche Bestrebung“, als dort um 1900 das erste Gewerkschaftshaus entstand. Das Gebäude steht noch heute, am Engeldamm, in der Luisenstadt, jenem Teil Kreuzbergs, der gleich hinter dem Jüdischen Museum Berlin beginnt. Gestiftet wurde es von Leo Arons, dem Spross einer großbürgerlichen jüdischen Familie, erfolgreicher Wissenschaftler und Pionier der Sozialdemokratie. In seiner Person kreuzen sich historische Entwicklungslinien, die noch immer die Umgebung prägen – und die sich vor dem Jüdischen Museum, in dem sich sein Nachlass heute befindet, auch unmittelbar räumlich erfahren lassen: Der diagonale Verlauf der Lindenstraße ergab sich aus dem Zusammentreffen der repräsentativen Friedrichstadt mit ihrer strengen Nord-Süd-Ausrichtung und der ungeordneteren Luisenstadt östlich davon, deren Arbeiterquartiere in oft informeller Bauweise entlang der Landstraße Richtung Köpenick im Südosten entstanden waren. Diese Nahtstelle steht jedoch nicht nur für die Vergangenheit der Gegend – auch ihre Zukunft entscheidet sich hier. Aber dazu gleich mehr.
Bürgertum trifft auf Arbeiterschaft
Mit der Friedrichstadt wurde ab 1688 das Zentrum Berlins stark erweitert. Die strenge Regulierung der Bautätigkeit war nicht nur dem barocken ästhetischen Programm des Königs geschuldet: Die Ansiedlung war staatlich gefördert, wobei sich neben französischen Glaubensflüchtlingen insbesondere Adelige und Vermögende niederlassen sollten. Mit dem Karree des Pariser Platzes, dem Achteck des Leipziger Platzes und dem Rondell des heutigen Mehringplatzes entstanden an den Toren der Zollmauer repräsentative Freianlagen. Und schmückende Palais wie der heutige Altbau des Jüdischen Museums Berlin, der ab 1735 verschiedene juristische Institutionen beherbergte, wurden sehr bewusst gesetzt: Formal gehörte es zur Luisenstadt, aber vom Gendarmenmarkt aus in Richtung Süden gesehen, war es als Blickpunkt am Ende der Markgrafenstraße gedacht.
Die benachbarte Luisenstadt entwickelte sich hingegen vor allem auf Initiative kleiner Gewerbetreibender, die man ganz nach Belieben bauen ließ. Auch arme Zuwanderer auf der Suche nach Arbeit fanden hier ihren Platz. Mit der gründerzeitlichen Überformung Berlins glichen sich die Bezirke zwar an, aber die sozialen Unterschiede blieben: Bürgertum, Verwaltung und Handel in der Friedrichstadt trafen auf Arbeiterschaft, Hinterhof-Fabrik und Heimarbeit in der Luisenstadt. Zugleich entstanden verbindende Orte – so wurde das Hallesche Tor zum wichtigen Verkehrsknotenpunkt, die Friedrichstraße verwandelte sich in eine Geschäfts- und Vergnügungsmeile und das Berliner Zeitungsviertel etablierte sich, an das heute noch das Springer-Hochhaus und das Gebäude der taz schräg gegenüber erinnern.
Vom Zeitungsviertel zum Internet-Quartier?
Die linke Tageszeitung und der große Medienkonzern sind nicht nur Überbleibsel einer vergangenen Zeit, sondern gestalten bis heute die Gegend. Am nördlichen Ende der Lindenstraße plant Springer seinen „digital Hub“, ein riesiges Gebäude entworfen von Rem Koolhaas, in dem alle Online-Aktivitäten gebündelt werden sollen. Und an der nahen Friedrichstraße plant ihrerseits die taz einen Neubau – auch das ein Vorhaben, das von einer erfolgreichen Anpassung an die Erfordernisse der Gegenwart zeugt. Zusammen mit dem GSW-Hochhaus an der Rudi-Dutschke-Straße, das demnächst von einem großen Startup bezogen werden soll, würde das Zeitungsviertel auf einen Schlag zum Internet-Quartier.
Der taz-Neubau ist außerdem Teil eines Bauvorhabens, das nicht nur für das Viertel, sondern sogar für die gesamte Stadt wegweisend sein könnte. Dank bürgerschaftlicher Initiative entsteht direkt gegenüber des Jüdischen Museums ein neues Quartier, das von einem politischen Paradigmenwechsel kündet. Auf dem Grundstück befand sich früher der zentrale Blumengroßmarkt, dessen alte Halle nach einem Umbau von Daniel Libeskind heute die W. Michael Blumenthal Akademie beherbergt. Anstatt jedoch das restliche Areal zum Höchstgebot an beliebige Investoren zu verkaufen, entschied sich die städtische Großmarkt-Gesellschaft für ein alternatives Vergabeverfahren: Insbesondere Projekte mit einer guten sozialen und kreativen Mischung wurden berücksichtigt, weshalb hier bald ein lebendiges Viertel entstehen dürfte. Statt Spekulation also Experiment, und dass zu den ersten Bewohnern auch ein Urenkel von Leo Arons gehören wird, ist nicht nur eine interessante Pointe, sondern erzählt auch viel von der jüngeren Geschichte des Bezirks.
„Kreuzberger Mischung“
Der Architekt und Gastronom Julian Arons lebt und arbeitet im östlichen Teil der Luisenstadt, wo sich seit den 1970er Jahren eine neue „Kreuzberger Mischung“ aus migrantischem Leben und Alternativkultur entwickelt hat, ein Begriff mit dem die Stadtplaner die historische Kreuzberger Funktionsmischung der Gründerzeit wieder aufleben ließen. Mit dem erfolgreichen Protest gegen den Abriss ganzer Altbauquartiere im Zuge einer Autobahnplanung, deren Trasse auch über das Gelände des Jüdischen Museums Berlin geführt hätte, entstanden durch die Besetzung der bereits leer stehenden Häuser zahlreiche soziale Biotope, die bis heute den Charakter des Viertels prägen. Die damaligen Wohn- und Lebensexperimente können auch als Vorläufer für Projekte wie jenes am Blumengroßmarkt gesehen werden. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) 1987, deren Vorbereitung acht Jahre zuvor begonnen hatte, fanden solche Ideen nämlich Anklang in der offiziellen Politik. So wurden nördlich des Jüdischen Museums zwischen Linden-, Oranien- und Alter Jakobstraße zahlreiche Wohnbauten errichtet, die deutlich mit dem Paradigma einer autogerechten und aufgelockerten Stadt brachen, das seit dem Krieg gegolten hatte. Unter dem Stichwort einer kritischen Rekonstruktion wurden die historischen Straßenfluchten mit zurückhaltender zeitgenössischer Architektur ergänzt. Neue Gebäudearten wie die sogenannte Stadtvilla, ein freistehendes Mehrfamilienhaus, vervollständigten das Angebot, mit dem vor allem Familien zurück in die Stadt geholt werden sollten.
Dass es rund um das Jüdische Museum überhaupt so viele Freiflächen gab, war eine Folge des Krieges: Aufgrund ihrer Nähe zum Regierungsviertel wurde die südliche Friedrichstadt durch Luftangriffe stark zerstört. Wo einst extrem dicht bebaute Straßenblöcke standen, herrschte nun eine innerstädtische Leere, die eher an den Stadtrand denken ließ. Allerdings befand sich gerade der Blumengroßmarkt mit seinen riesigen Park- und Rangierflächen nicht auf einer Bombenbrache. Schon im 19. Jahrhundert hatte es hier eine große Markthalle gegeben, um die Lebensmittel zu verkaufen, die über das Hallesche Tor in die Stadt gelangten.
Siegeszug der Moderne
In ihrer Funktionalität war die Gegend um das Jüdische Museum Berlin damit schon immer deutlich vielfältiger als ein gewöhnliches Stadtquartier, wovon auch heute noch das einstige Kaiserliche Patentamt und das Haus des Deutschen Metallarbeiterverbandes zeugen. Erst in den 1950er und 60er Jahren wurde jedoch der Größensprung vom einzelnen Grundstück zum ganzen Block zum städtebaulichen Normalfall. Mit dem Siegeszug der Moderne wurden hier die Straßen nicht mehr Gebäude für Gebäude von einzelnen Bauherren errichtet, sondern größere Gebiete von Wohnungsbaugesellschaften einheitlich überbaut – wie zunächst bei der sogenannten Spring-Siedlung östlich des Jüdischen Museums, die 1962 fertiggestellt wurde und deren Name an die amerikanischen Unterstützer erinnert. Bis 1974 folgte dann der Wiederaufbau des Rondells am Halleschen Tor nach Plänen von Hans Scharoun und später Werner Düttmann, wobei der einstige Belle-Alliance-Platz unter seinem heutigen Namen Mehringplatz mit einer stattlichen Hochhausbebauung komplett überformt wurde.
Im Schatten der Mauer
Es war insbesondere die lockere Fügung dieser städtebaulichen Fragmente der Moderne, die den Planern der IBA nicht nur ideologisch, sondern auch in ihren räumlichen Eigenschaften als bekämpfenswert erschienen. Leere und Offenheit sollten verschwinden, weshalb zunächst auch für die verbliebenen freien Grundstücke der Umgebung eine dichte Blockrandbebauung vorgesehen war. Doch selbst die Befürworter einer umfassenden Stadtreparatur konnten sich nicht ganz der besonderen Atmosphäre entziehen, die hier noch Mitte der 1980er Jahre geherrscht haben muss. Im Schatten der Mauer blühte eine merkwürdig provisorische Stadtlandschaft aus historischen Hinterlassenschaften, verwunschenen Kriegsbrachen und mächtigen neuen Hochhäusern, deren utopisches Moment längst einer dystopischen Konnotation gewichen war. Dieser Zustand verschwand mit den letzten Brachen, doch als domestizierte Variationen entstanden ungewöhnliche Freiräume und Passagen wie der Theodor-Wolff-Park oder die E.T.A.-Hoffmann-Promenade am südlichen Ende der Friedrichstraße. Noch heute eröffnen diese nicht nur Perspektiven auf Hinterhöfe und Brandmauern – ihre Gestaltung mit steinernen Stufen, niedrigen Mauern und strengen Arkaden lässt auch ganz unmittelbar an die Ruinen Italiens oder Griechenlands denken.
Dank dieser systematischen Überlagerung von Alt und Neu ist die Gegend ein gutes Beispiel für die Überwindung der architektonischen Dogmen des 20. Jahrhunderts. Dazu passt, dass sich auch das neue Quartier auf dem ehemaligen Blumengroßmarkt einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. Das gilt hinsichtlich seiner räumlichen Konfiguration, die ein epochenübergreifendes Spannungsfeld entstehen lässt, das gilt aber auch für seine Nutzung, denn neben Wohnungen, Gewerberäumen und Ateliers sind auch Projekträume und kulturelle Angebote geplant, die sich an die gesamte Nachbarschaft richten.
Ort des Dialogs
Einen Ort des Dialogs wünschen sich die Verantwortlichen, den es dringend braucht. Aktuell gleicht die Gegend nämlich eher einem Insel-Archipel aus autonomen Stadtfragmenten, deren Bewohnerinnen und Bewohner, getrennt von breiten Straßen und grünen Parks, meist unter sich bleiben. Eine solche Struktur sorgt zwar für Vielfalt, fruchtbar wird diese jedoch nur dann, wenn sich die Menschen besser kennenlernen. Gelingt dies, wäre es ein Anknüpfen an alte Traditionen: Von Anfang an trafen in der Lindenstraße schließlich sehr unterschiedliche Lebenswelten aufeinander – weshalb man ihren diagonalen Verlauf heute als wichtiges Symbol verstehen kann.
Der Autor
Stephan Becker, 1978 in Rheinfelden geboren, studierte in Berlin Architektur mit Schwerpunkt Theorie und Stadt. Zunächst arbeitete er als Architekt, jetzt an Buchprojekten, Ausstellungen und städtebaulichen Initiativen. Er schreibt Beiträge für Zeitungen, Fachzeitschriften wie taz, ARCH+ oder Bauwelt und Bücher und ist seit 2013 Architekturredakt€ bei BauNetz.
Der Text ist auch im JMB-Journal 14 zum Thema Architektur erschienen.
Zitierempfehlung:
Stephan Becker (2016), Diagonale der Vielfalt. Die Berliner Lindenstraße zwischen Vergangenheit und Zukunft.
URL: www.jmberlin.de/node/3980