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VielSeitig: Jugendbücher

Lesenswerte Kinder- und Jugendbücher

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Die folgenden Jugendbücher halten wir für spannend und besonders lesenswert. Sie behandeln Themen wie kulturelle Vielfalt, Identitätssuche, Flucht- und Migrationserfahrungen, ohne dabei Vorurteile zu reproduzieren oder Menschen(gruppen) abzuwerten.

Ein Königreich für Eljuscha

Uri Orlev

Eljuscha bekommt zu seinem fünften Geburtstag von seinem Vater ein kleines Auto, das man seitlich mit einem Schlüssel aufziehen kann. Einige Tage später muss Eljuschas Familie vor der nahenden deutschen Wehrmacht aus dem gutbürgerlichen Leben mit eigenem Haus und Bediensteten fliehen. Auch das Spielzeugauto bleibt zurück. Der Vater, Polizist und über-zeugter Kommunist, verlässt seine Frau und die vier Kinder in Kiew, um als Soldat der Roten Armee in den Krieg zu ziehen. Vor dem Hintergrund historischer Ereignisse – vom Zweiten Weltkrieg bis zum ersten Arabisch-Israelischen Krieg – schildert Uri Orlev die Biografie eines polnisch-jüdischen Jungen.

Die Flucht der Familie führt in ein kleines kasachisches Dorf nahe Dschambul, dem heutigen Taraz. Eljuscha tut sich eine ihm völlig unbekannte Welt auf. „Es gibt überhaupt kein Geschäft. Es gibt dort nur das, was Sie selbst herstellen. Sie können Fladenbrot bei den Bauern kaufen, bis Sie anfangen, selbst welches zu backen“, sagt der kasachische Kutscher der Mutter bei ihrer Ankunft. Dieses muslimische Dorf wird Eljuschas Königreich. Er freundet sich mit Aklidschan an, lernt Kuhfladen zu trocknen, Fische aus dem Eis zu fischen und Kuckuck zu kochen.

Die Erlebnisse und der Alltag in der kasachischen Steppe sind bereits ausreichend Stoff für den eindrucksvollen Roman von Uri Orlev über die wahre Geschichte von Eli Pas-Posniak, der hier Eljuscha heißt. Die Geschichte setzt sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Kinderheim im schlesischen Bytom und schließlich mit der Trennung der Familie in Palästina fort. Auch diese Stationen in Eljuschas Leben und seine Eindrücke von Palästina schildert Uri Orlev aus der Sicht des mittlerweile Zehnjährigen spannend, bewegend und immer wieder vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus Kasachstan. Da die Geschichte aus der Perspektive eines Kindes geschrieben ist, lassen sich Migrationserfahrung, Heimatverlust, Freundschaft und Zugehörigkeit auch von jugendlichen Lesern heute nachempfinden.

Buchcover.

Ab 12 Jahren 288 Seiten Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler Beltz & Gelberg Weinheim/Basel 2011

Die Zeit der Wunder

Anne-Laure Bondoux

„Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit.“ Mit diesen Worten beginnt der Erzähler seine hochdramatische Geschichte und – so viel soll hier verraten sein – die sind nicht „die reine Wahrheit“. Blaise Fortune flieht, seit er denken kann, vor den Unruhen auf dem Kaukasus in den 1990er Jahren. Seine Begleiterin ist Gloria, die ihm erzählt, sie habe ihn als Baby aus einem entgleisten Zug gerettet, er sei Franzose und seine Mutter bei dem Unglück ums Leben gekommen. Gloria erzählt ihm Geschichten, um ihn zu beruhigen und um ihn nicht verzweifeln zu lassen an dem unsteten Leben unter ständiger Bedrohung. Ihre Geschichten sind märchenhafte Episoden aus einer Zeit vor der Flucht.

Dass nicht alle diese Geschichten wahr sind, erfährt Blaise, der in Wirklichkeit Koumaïl heißt, erst spät. Auf ihrer Flucht kommen die beiden immer irgendwo unter, schaffen es, oft mehr schlecht als recht, über die Runden zu kommen. Sie sammeln für einen Hungerlohn Nickeldrähte aus den Überresten einer Glühbirnenfabrik oder gehen in die größeren Städte, um zu betteln. Sie durchqueren mehrere Länder und passieren viele Grenzen. Ihr Ziel ist Frankreich, das Land der Menschenrechte, das Blaise/Koumaïl aus einem Atlas, den er immer bei sich trägt, bestens kennt.

Die Zeit der Wunder erzählt – mit einigen überraschenden Wendungen – von zehn Jahren im Leben von Blaise/Koumaïl, der als Achtjähriger schon lange auf der Flucht und mit 18 in Frankreich wirklich und tatsächlich angekommen ist. Die Frage, die sich beim Lesen stellt und die das Buch so besonders macht, lautet: Was wäre, wenn ich zufälligerweise nicht hier, in Sicherheit, geboren wäre und in Frieden leben könnte? Wenn auch ich fliehen müsste?

Deckblatt des Buches

Ab 12 Jahren 192 Seiten Aus dem Französischen von Maja von Vogel Carlsen Verlag Hamburg 2011

Zimtküsse

Deniz Selek

In Sahras Leben läuft es gerade nicht so gut: Ihre Mutter hat sich verliebt – in eine Frau. Zwischen ihrer besten Freundin Katta und Karl funkt es – dabei ist doch Sahra in Karl verknallt. Dass in der Schule nichts klappt, ist unter diesen Umständen nachvollziehbar. Sahra wird alles zu viel. Sie fliegt nach Istanbul, zu ihrer Babaanne – ihrer Großmutter – und ihren Cousinen. In der großen, lauten und bunten Stadt am Bosporus, in der Sahra die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hat, kann sie ihre Sorgen zwar nicht ganz vergessen, findet aber viel Abwechslung. Dafür sorgen ihre beiden Cousinen, mit denen Sahra durch den Kapalı Çarşı, den großen Basar, und andere Teile der Stadt zieht. Ablenkung findet Sahra auch in Form eines kleinen Kätzchens, das im leer stehenden Haus nebenan lebt. Obwohl Sahra sich fest vorgenommen hatte, niemandem zu erzählen, dass ihre Ma ihren Baba mit einer Frau betrügt, vertraut sie sich doch ihrer Babaanne an. Hätte sie gewusst, was sie damit auslöst, hätte sie es nicht getan ... Zimtküsse ist eine flott erzählte Geschichte, die von Hannover nach Istanbul und wieder zurück tragisch und komisch zugleich ist. Jenen, die die Sprache nicht verstehen, werden türkische Begriffe im Anhang erklärt. Allen anderen werden wahrscheinlich nicht nur Worte, sondern auch viele Situationen bekannt vorkommen.

Schließlich verträgt sich Sahra wieder mit ihrer besten Freundin, die ihr gesteht: „Naja, du bist eben was Besonderes mit deinem Halbundhalb. Sprichst zwei Sprachen, hast ein zweites Land, wo du immer hin kannst und Freunde hast. Das ist fast wie zwei Leben. Deine Eltern sind korrekt, und jetzt macht deine Mutter auch noch so was. Also irgendwie ist das echt abgefahren. Dagegen komme ich mir stinklangweilig vor!“ „Du hast leicht reden, deine Mutter ist ja normal!“, sage ich, aber auf einmal ist da ein komisches kleines Stolzgefühl. Dann versöhnt sich Sahra auch mit ihrem Schicksal und merkt irgendwann, dass Tiago, der Nachbar von oben, gar nicht so nervig ist, wie sie anfangs dachte.

Deckblatt des Buches

Ab 12 Jahren 282 Seiten Fischer Schatzinsel Frankfurt am Main 2012

Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums

Benjamin Alire Sáenz

El Paso, Texas, ein Sommer Mitte der 1980er Jahre: Aristoteles Mendoza ist 15, gelangweilt und Nichtschwimmer. Ari – wie er von allen genannt wird – hat zwei erwachsene Schwestern, einen Bruder, der im Gefängnis sitzt und über den nicht gesprochen wird, sowie einen Vater, der über seine Erlebnisse im Vietnamkrieg schweigt. Ari ist ein Einzelgänger. „Wahrscheinlich hatte ich es ganz gut. Vielleicht liebten mich nicht alle, aber ich gehörte auch nicht zu denen, die von allen gehasst wurden. Ich konnte mich gut verteidigen, deshalb ließ man mich in Ruhe. Die meiste Zeit war ich unsichtbar. Ich glaube, mir gefiel das so. Und dann kam Dante.“

Als Ari sich an einem Sommertag im Nichtschwimmerbecken treiben lässt, spricht Dante ihn an, fragt, ob er ihm das Schwimmen beibringen solle. So lernt Ari schwimmen und findet in Dante einen guten Freund.

Dante ist der selbstsichere der beiden Freunde, er scheint vor nichts Angst zu haben. Er kann sich gut artikulieren, ist ausgeglichen, offen, intelligent. Seine Eltern lieben ihn und er liebt seine Eltern. Ari mag und braucht Regeln, sie helfen ihm: Regeln, die andere für ihn aufstellen, an die er sich zu halten hat – wie etwa, dass man sich vor dem Schwimmen duschen muss –, und solche, die er aufstellt und an die sich seine Familie und Dante halten müssen. Doch es gibt auch unausgesprochene Regeln – dass man den Vater nicht nach seinen Kriegserlebnissen fragt, dass nicht über den Bruder gesprochen werden darf. Diese Regeln stellt Ari immer mehr in Frage. Die Freundschaft mit Dante und das Vertrauen, das er ihm entgegenbringt, machen Ari langsam zu einem zufriedeneren Menschen. Und nach vielen dramatischen Ereignissen – darunter ein Unfall, ein Umzug nach Chicago, eine Rückkehr, etliche Küsse und Schlägereien – gelingt es auch Ari, seinen Platz in der Welt zu finden und offen mit denen zu sprechen, die ihn lieben.

Deckblatt des Buches

Ab 14 Jahren 384 Seiten Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit Thienemann Verlag Stuttgart 2014

Wie ein unsichtbares Band

Inés Garland

Alma lebt mit ihren Eltern in einem noblen Wohnviertel in Buenos Aires, die Wochenenden verbringt die Familie auf einer Insel im Fluss. Carmen und Marito sind in Almas Alter, sie leben auf der Insel, in einer kleinen Hütte, gemeinsam mit vier Onkeln und Doña Ángela, ihrer Oma. Solange sie Kinder sind, spielen soziale Unterschiede zwischen ihnen keine Rolle. Sie spielen gemeinsam, bauen ein Baumhaus, spionieren den Nachbarn nach und Doña Ángela kocht ihnen Tortas fritas in ihrer kleinen Küche, deren Fußboden bis zu den Oberschenkeln überschwemmt wird, wenn es regnet.

Wie groß die sozialen Unterschiede sind, versteht die wohlbehütete Alma nicht. Als ein Freund von Marito stirbt, möchte sie mehr erfahren: „›Wie ist es passiert?‹, fragte ich. ›Er ist an Chagas gestorben.‹ Es war das erste Mal, dass ich dieses Wort hörte, und es war mir peinlich, dass ich nicht wusste, wovon Marito redete. Es muss mir anzusehen gewesen sein. ›Das ist eine Arme-Leute-Krankheit‹, fügte er hinzu.“

Auch die politischen Veränderungen im März 1976 spielen für Alma zunächst keine große Rolle. Marito, der sich – wie seine Schwester – politisch engagiert, will Alma erklären, was die Militärdiktatur für sie alle bedeutet. Alma fühlt sich bevormundet und missverstanden, und als sie zu ahnen beginnt, ist es für die Menschen, die ihr am meisten bedeuten, schon zu spät.

Alma erzählt von einer Zeit, in der es scheinbar keine Unterschiede zwischen ihnen gab. Sie erzählt von ihrer Freundschaft zu Carmen, und von ihrem Verrat ihrer eigenen Privilegien wegen. Sie beschreibt ihre Liebe zu Marito, wie sie mit ihm schwimmen geht, wie es dunkel wird, wie sie sich berühren. Die nunmehr erwachsene Erzählerin versucht, sich an jeden intensiven Moment ihrer Kindheit mit ihren Freunden zu erinnern, ihn in einer langsamen Beschreibung festzuhalten, von wo er dann doch fortgerissen wird, ruhig, aber kraftvoll, wie das Wasser des Flusses, welches unaufhörlich fließt.

Deckblatt des Buches

Ab 14 Jahren aus dem argentinischen Spanisch von Ilse Layer Fischer KJB Frankfurt am Main 2013

Nathan und seine Kinder

Mirjam Pressler

Rechas Vater, den alle Nathan den Weisen nennen, ist geschäftlich unterwegs, als sein Haus brennt. Wie durch ein Wunder wird Recha von einem Tempelritter aus den Flammen gerettet, der kurz zuvor als einziger von Sultan Saladin begnadigt worden ist. Recha und der Tempelritter verlieben sich ineinander. Doch diese Liebe hat – weil die Protagonisten unterschiedlichen Religionen angehören – kaum eine Chance. Vor dem historischen Hintergrund der Kreuzzüge treffen in dieser Geschichte Juden, Christen und Muslime immer wieder aufeinander. Mirjam Presslers Roman ist inhaltlich eng an Lessings Drama Nathan der Weise angelehnt. Hier wie dort bittet Saladin den Juden Nathan um eine Antwort auf die Frage, die ihm in Jerusalem als Zentrum dreier großer Weltreligionen die wichtigste zu sein scheint: „Sag mir, welcher Glaube ist der richtige?“ Nathan antwortet mit einer Parabel über drei Ringe, die jeweils eine Religion verkörpern und die selbst ihr Schöpfer nicht mehr unterscheiden kann. Aber während Lessings Drama mit einer Versöhnung der Religionen endet, ist diese in Presslers Roman nur ein Wunschtraum von Nathan: „Ich habe einen Traum, dass sich selbst diese Stadt eines Tages in eine Oase der Freiheit und der Gerechtigkeit verwandeln wird.“ Seine Stimme senkte sich, wurde leiser. „Aber es ist nur ein Traum. Die Wirklichkeit ist eine andere.“ Mirjam Pressler hat einen spannenden und einfühlsamen Roman über das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Religionen geschrieben. Weil der Roman aus mehreren Perspektiven erzählt ist, erfährt der Lesende nicht nur viel über die Figuren und ihre Motivationen, sondern auch über die historische Zeit der Handlung: Jerusalem unter der Verwaltung von Saladin, die Bedeutung der religiösen Orte, Kriege und Kreuzzüge. Nathan und seine Kinder ist ein höchstaktueller, nachdenklich stimmender Roman über den Umgang mit erfahrenem Leid und die Frage, wie Menschen mit unterschiedlichen Religionen friedlich miteinander leben können.

Deckblatt des Buches

Ab 14 Jahren 248 Seiten Beltz & Gelberg Weinheim/Basel 2008

Krieg 
Stell dir vor, er wäre hier

Janne Teller (Text) 
Helle Vibeke Jensen (Bild)

In diesem kleinen Buch im Reisepassformat wird in eindringlichen Sätzen ein Krieg in Deutschland beschrieben, der heute in drei Jahren stattfindet. Die EU ist zusammengebrochen, weil Deutschland nicht länger zahlen wollte, Menschen werden gefoltert. Der 14-jährige Protagonist, der mit „du“ angeredet wird, entkommt mit seiner Familie. Sie werden schließlich in einem Flüchtlingslager in Ägypten aufgenommen – willkommen sind sie dort nicht.

„Auf wohin? Gibt es keine Antwort. Eure Familie ist zu einer Zahl geworden. Fünf! Es gibt kein Land, das weitere fünf Flüchtlinge haben will. Flüchtlinge, die die Sprache nicht beherrschen, die nicht wissen, wie man sich in einer klassischen Kulturgesellschaft benimmt, dass man seinen Nachbarn respektiert, den Gast höher stellt als sich selbst und die Tugend einer Frau achtet.“

Die Situation, in der sich die Familie über mehrere Jahre befindet, ist trost- und hoffnungslos. Das Leben und Ankommen im neuen Land gelingt den einzelnen Familienmitgliedern unterschiedlich gut. Eine zweite Generation wächst heran, deren „erste Sprache Arabisch [ist], und auch wenn sie Christen sind, kennen sie den Koran besser als die Bibel.“

Janne Teller hat das Buch 2001 geschrieben, als in ihrer Heimat Dänemark die Einwanderungsgesetze geändert wurden und sich der Ton Migrantinnen und Migranten gegenüber verschärfte. Als der Text zehn Jahre später auf Deutsch erschien, verlegte die Autorin den Krieg nach Deutschland. Die Illustratorin Helle Vibeke Jensen zeichnet mit wenigen Strichen Bilder von Krieg, Angst, Gewalt. Viele Fragen wirft das Buch auf: Was würden wir tun, wenn wir unsere Heimat verlassen müssten? Wie wollen wir, dass mit uns als Flüchtlingen umgegangen wird, und wie wollen wir mit Flüchtlingen umgehen? Wie stellen wir uns das Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft vor, wie wünschen wir es uns? Wie wollen wir leben?

Deckblatt des Buches

Ab 14 Jahren 60 Seiten Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler Carl Hanser Verlag München 2011

Plötzlich war ich im Schatten 
Mein Leben als Illegale in Deutschland

Ela Aslan (mit Veronika Vattrodt)

„Ich bin zehn Jahre alt und ich mag mein Leben“, sagt Ela, kurz bevor ihre Welt aus den Fugen gerät. Bis dahin lebt sie mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in der Türkei, ist Klassenbeste und träumt davon, in Istanbul Architektur zu studieren. Doch weil sich ihr Vater als Kurde politisch engagiert, muss die Familie Hals über Kopf nach Deutschland fliehen – und Ela zunächst bei den Großeltern in der Türkei bleiben, denn es gibt nur vier Flugtickets und Ela ist die Älteste der drei Geschwister. Erst ein Jahr später kann Ela ihrer Familie folgen, doch die Freude über das Wiedersehen ist kurz: Elas Mutter muss operiert werden und Ela die Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen.

„Die Woche ohne Mama war der reine Horror. Plötzlich musste ich alles erledigen: kochen, putzen, einkaufen. Das Einkaufen im Supermarkt war das Schlimmste. Ich konnte weder die Beschriftungen lesen, noch kannte ich das Geld im Portemonnaie oder verstand die Kassiererin.“

Ela Aslan gibt es wirklich, sie hat ihre Geschichte gemeinsam mit der Journalistin Veronika Vattrodt aufgeschrieben und erzählt, wie sie mit zwölf Jahren zur Managerin der Familie werden muss: Sie lernt schnell Deutsch und dolmetscht bei Elternsprechtagen, bei Behörden und beim Arzt. Sie erlebt, wie ihre Eltern überfordert sind und ihr Vater einen Herzinfarkt bekommt – eine Folge von Stress wegen der drohenden Abschiebung –, und dass sie selbst, als der Asylantrag der Familie abgelehnt wird, plötzlich eine ›Illegale‹ ist. Ela schämt sich, weil die Familie auf die Hilfe anderer angewiesen ist, weil sie abgetragene Kleidung anziehen muss und weil sie schließlich zu sechst im Kirchenasyl in einer Einzimmerwohnung leben. Ela erzählt nicht nur von Angst und Unsicherheit, sondern auch von ihrer Wut auf den Vater, den sie verantwortlich dafür macht, dass die Familie nicht mehr in die Türkei zurückkehren kann – und verdeutlicht, was es heißt, wenn die eigene Welt zusammenbricht und man plötzlich kein Mensch mehr ist, sondern nur noch unerwünscht und ›illegal‹.

Deckblatt des Buches

Ab 14 Jahren 176 Seiten Arena Verlag Würzburg 2012

Zusammen werden wir leuchten

Lisa Williamson

Für Teenager ist es unmöglich, mit ihren Eltern zu sprechen. Vor allem dann, wenn es um ein Geheimnis geht, das die eigene Identität betrifft, den eigenen Körper. Das erlebt auch David, einer der beiden Protagonist*innen. Das Leben an der Schule spielt eine mindestens ebenso große Rolle wie das Familienleben; hier trifft sich der Außenseiter David mit seinen beiden besten Freund*innen, die wissen, dass er transgender ist. Hier begegnet David auch Leo, der, anders als der behütete David, aus einem heruntergekommenen Stadtteil und einer zerrissenen Familie stammt. Beide erzählen abwechselnd die Geschichte ihrer mühsam entstehenden Freundschaft – die vor allem eines verbindet: Leo ist, wie sich erst gegen Ende des Buches herausstellt, als Mädchen geboren worden.

Anders als in Alex Ginos George, einem Roman für Kinder ab zehn, ebenfalls empfehlenswert, ebenfalls zum Thema Transgender, der aber leider nicht auf (Geschlechter-) Klischees verzichtet, bedeutet bei Lisa Williamson Mädchensein nicht die Reduktion auf rosafarbene Äußerlichkeiten und Gefallenwollen, das Jungesein nicht Wettbewerb und Coolness. Ihr ebenso kluger wie spannender Roman macht Mut, über die oft übliche Verleugnung von Gefühlen nach außen hin nachzudenken – und zeigt, dass Familien oft stärker sind, als Teenager ahnen.

Deckblatt des Buches

Ab 14 Jahren 384 Seiten Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig Fischer Kinder- und Jugendtaschenbuch Frankfurt am Main 2015

Der Friseur von Harare

Tendai Huchu

Vimbai ist die Starfriseurin von Harare, denn sie beherrscht eine besondere Kunst. Sie gibt ihren schwarzen Kundinnen mit Haarschnitten aus amerikanischen Glamourmagazinen das Gefühl, „weiß zu sein“. Illusionen wie diese sind viel wert in Simbabwe, denn im Land herrschen Armut und Arbeitslosigkeit. Vimbai stammt aus einem Township. Dank ihres Bruders, der in England Geld für die Familie verdient, wohnt sie in einem kleinen Haus und kann sich eine Haushälterin leisten. Dennoch weiß sie nicht immer, wie sie die Rechnungen oder die Schule für ihr Kind bezahlen soll. Als alleinstehende Frau, die mit ihrer Familie zerstritten ist, hat sie es schwer.

Vimbais Leben wird durch Dumisani, ein Ausnahmetalent im Umgang mit den Frauen und ihren Haaren, gehörig durcheinander gebracht. Bald ist er der Starfriseur. Vimbai ist am Boden zerstört, ihr Traum von einem eigenen Friseursalon rückt in weite Ferne. Trotzdem freunden sie sich an. Dumisani zieht sogar bei ihr ein, damit beide finanziell besser über die Runden kommen. Irgendwann führt er sie in seine Familie ein und sie spielt seine Freundin. Eigentlich ist er reich, weiß Vimbai nun, jedoch ebenfalls mit seiner Familie zerstritten. Seinem Geheimnis kommt sie erst auf die Spur, als sie sich in ihn verliebt hat und ihm eifersüchtig nachspioniert.

Tendai Huchu erzählt mit einer überraschenden Leichtigkeit eine berührende Geschichte von Hoffnung und Liebe, von Vertrauen und Verrat, von Normalität und Abweichung. Vimbai und Dumisani, die beiden Helden des Romans, könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie prallen fast aufeinander und helfen sich notgedrungen. Können sie sich jedoch auch ineinander verlieben? Diese Geschichte fragt danach, was denn ›normale‹ Liebe zwischen den Geschlechtern heißt und warum Homosexualität als ›anders‹ und ›falsch‹ gewaltsam ausgegrenzt wird. In der kleinen Welt des Friseursalons werden die Probleme eines ganzen Landes wie in einem Brennglas eingefangen. Selbst wer nichts für Frisuren übrig hat, erfährt sehr viel von der Gegenwart Simbabwes.

Deckblatt des Buches

Ab 16 Jahren 280 Seiten Aus dem Englischen von Jutta Himmelreich Peter Hammer Verlag Wuppertal 2011

Das Leben der Wörter

Brigitte Giraud

Nadia ist in Algerien geboren und lebt nun in einer Vorstadt von Lyon in Frankreich. Zu ihrer Familie gehören ihr Vater, ihre Schwester, ihr Halbbruder und „die Frau, die nicht meine Mutter ist“. An ihre leibliche Mutter kann sich Nadia nicht erinnern, sie weiß nicht, was mit ihr passiert ist, nur, dass es etwas mit dem Algerienkrieg zu tun hat. Die Schule ist für sie zunächst ein Ort der Zuflucht, an dem alles seinen Platz hat und es auf alles eine Antwort gibt: Der Montblanc ist genau 4807m hoch, neun mal neun macht 81, Wasser kocht bei 100 Grad und die Chinesen essen Reis. Nadia fühlt sich wohl, denn in der Schule ist es ganz anders als zuhause: Dort gibt es keine klaren Regeln und keine eindeutigen Antworten, sondern manchmal Streit und vor allem Schweigen über die Vergangenheit, über Algerien, über die Mutter und über die Depression der Schwester.

Nadia kommt in die Pubertät, sie verliebt sich und findet Freundinnen, mit denen sie ihre Freizeit verbringt, aber nicht über ihre Sorgen sprechen kann. Und schon bald erweist sich auch die scheinbar so geordnete Welt der Schule als trügerisch. Eine andere Weltsicht hat dort keinen Platz: „Ich lerne, dass man lügen kann, ohne es gewollt zu haben. Ich lerne, dass man ich schreiben kann, auch wenn man gar nicht von sich selbst spricht.“ Die Schule offenbart sich auch als ein Ort der Gewalt. Und irgendwann merkt Nadia, dass sie in der Schule sehr viel lernt, aber nichts, was mit ihrem persönlichen Schicksal zu tun hat, denn der Algerienkrieg wird in der Schule und der französischen Gesellschaft tabuisiert.

Fast wie beiläufig beschreibt Brigitte Giraud Nadias Beobachtungen in der Schule und zuhause, und gerade diese Beiläufigkeit entlarvt die Schule als ein System, in dem nur stupides Pauken und sinnentleertes Faktenwissen von Bedeutung sind. Die poetische Sprache, in der Nadias Kindheit und Jugend erzählt werden, und die dadurch erzeugte melancholische Stimmung sind das Faszinierende an Das Leben der Wörter.

Deckblatt des Buches

Ab 16 Jahren 138 Seiten Aus dem Französischen von Anne Braun S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2007

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Saša Stanišič

Krieg kommt nicht mit einem Knall daher, Krieg schleicht sich an. Während eines Festmahls steht er im Raum, verkleidet als Verbot „Zigeunermusik“ zu spielen. Und damit ist er auch mitten in der Familie, einer Familie, in der es Künstler und Zauberer gibt, eine Urgroßmutter, die Sheriff ist, und eine Tante Taifun, die „eine deutsche Autobahn schnell“ spricht. Fast ebenso rasant erzählt der junge Aleksandar seine Geschichten, die bevölkert sind von Freunden und Nachbarn, Fischen und Pferden, der Drina. Seine überbordende Fabulierlust scheint gegen den immer näher rückenden Bürgerkrieg anzureden, gegen das Zusammenbrechen seiner Welt. Schließlich aber ist der Krieg da, mitten im bosnischen Višegrad, nicht mehr leise, sondern laut, mit Soldaten und Artillerie. Die Familie zieht in den Keller. Später kann sie nach Deutschland entkommen.

Als wäre in dem neuen Land die Fabulierlust gestorben, erfährt der Leser von Aleksandars neuem Leben im Ruhrgebiet nur in knappen Briefen an das Waisenmädchen Asija. Zehn Jahre später, 2002, fährt er ins ehemalige Jugoslawien, um Asija zu suchen; Deutsch ist ihm da schon vertrauter als Bosnisch und er ist fremd geworden in der früheren Heimat. Der Blick des nun Erwachsenen offenbart das Grauen des Krieges, die Zerstörung des Landes und vor allem die Hilflosigkeit des Erzählers. Die Absurdität des Konflikts, der dem Bürgerkrieg zugrunde liegt, findet ihren Höhepunkt in 
einem Spiel: Während des Krieges treten die verfeindeten Parteien beim Fußball in einer Gefechtspause gegeneinander an. Man kennt sich aus der Schule, aus der Stadt, hat als Kind bereits zusammen gespielt. Doch was freundschaftlich beginnt, wird auf Befehl eines Generals zum Spiel um Leben und Tod – bis beide Mannschaften das Spiel boykottieren.

Saša Stanišičs Roman beschreibt, wie die Normalität eines Lebens kippen kann, wie absurd die Kategorisierung von Menschen ist, und wie schnell man seine Heimat verliert. Er erzählt aber auch davon, dass es weitergehen kann.

Deckblatt des Buches

Ab 16 Jahren 320 Seiten Luchterhand Literaturverlag München 2006

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