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Charlotte Berend im Dialog mit Lovis Corinth

Über­legungen zu dem Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend

Gemälde: Eine junge Frau in einem blauen Kleid liegt auf einem Diwan und hält ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Rechts ist angeschnitten eine Vase mit Blumen angedeutet.

Charlotte Berend-Corinth, Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend, um 1930, Öl auf Leinwand, 50,8 × 81 cm, bez. u. r. (geritzt): „Ch BEREND“; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2009/267/0, Erwerbung: Auktion Galerie Bassenge, Aukt. 94, 28.11.2009, Los 7037a (in weiß lackiertem Holzrahmen). Provenienz laut Aukt.-Kat: „Aus dem Nachlass der Familie der Künstlerin; seitdem Privatbesitz Berlin“, Foto: Jens Ziehe

Das Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend, das sich seit 2009 in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin befindet, wirft seit langem Fragen auf. Bei näherer Betrachtung eröffnet es einen Blick auf Charlotte Berend (1880–1967) als Künstlerin in der lebens­langen Aus­einander­setzung zwischen ihrem eigenen Schaffen und dem Werk ihres Ehe­mannes Lovis Corinth (1858–1925).

Eine Variation der Lesenden

Das Gemälde ist eine Variation des 1911 gemalten Werks Die Lesende von Lovis Corinth. Die frappierenden Ähnlich­keiten weckten zunächst den Verdacht, es könne sich um eine bewusste Fälschung handeln. Dagegen sprechen jedoch das abweichende Format und die völlig andere Farb­gebung. Irritierend und erklärungs­bedürftig sind jedoch die Retusche links oben, wo Corinth sein Werk signiert hatte, und die auf recht linkische Weise eingeritzte Signatur „Ch BEREND“ rechts unten.

Diese Beob­achtungen werfen mehrere Fragen auf: nach dem Hergang der Bild­entstehung und der Revision der Signatur des Gemäldes, nach seiner Autor­schaft und seinem Zusammen­hang mit dem Gemälde Lovis Corinths, der Datierung, der Identität der Dar­gestellten und schließlich nach der künstlerischen Intention.

Während die Provenienz des Gemäldes die Autor­schaft Charlotte Berends bestätigen konnte und auch die ursprünglich angegebene Datierung „um 1930“ der Farbig­keit ihrer um diese Zeit ent­standenen Gemälde entspricht, bleibt die Frage nach der künstlerischen Intention hinter der Beinahe-Kopie ihres eigenen, durch ihren verstorbenen Ehemann gemalten Porträts.

Schwarz-Weiß-Version des Gemäldes einer auf einem Sofa liegend lesenden Frau

Lovis Corinth, Die Lesende / Frau Corinth lesend / Lesende Dame, 1911, Öl auf Leinwand, 50 × 70 cm, signiert o. l.: „Lovis Corinth 1911“. Beschreibung laut Werkverzeichnis: „Charlotte Corinth, in blau-weiß kariertem Kleid lesend auf einem in Blau und Weiß gemusterten Sofa, vor hellblauer Tapete. In St. Ulrich, Grödner Tal, gemalt“; verschollen, ehemals Sammlung Emil Kaim, Breslau

Aneignung und eigene Schöpfung

Die Entstehungs­jahre ihrer Variation der Lesenden waren für Charlotte Berend eine Phase der künstlerischen Selbstzweifel, der Experimente und Orientierungs­suche, die in ihren Werken, aber auch in ihrem Tagebuch und den auto­biografischen Erinnerungs­büchern an Lovis Corinth ihren Ausdruck fanden. Darin wechselt die erzählte Zeit zwischen der Gegen­wart der Autorin und Rück­blenden in die Vergangen­heit mit Lovis Corinth. Er ist ihr Sparrings­partner, Resonanz­raum und „Seelen­spiegel“.

Das Gemälde ist die bild­künstlerische Entsprechung dieser Texte, eine visuelle Formulierung dessen, was sie zur selben Zeit sprachlich zu fassen versuchte. Wie in ihren Tage­büchern und Doppel­biografien mischen sich auch in dem Gemälde Identifikation mit Selbst­behauptung, Erinnerung mit der Suche nach einer künstlerischen Zukunft, Appropriation mit eigener Schöpfung, changierend zwischen der Erinnerung an Lovis Corinth und ihrer eigenen Gegenwart als Künstlerin.

Charlotte Berend-Corinth

(1880–1967)
Mehr bei Wikipedia

Lovis Corinth

(1858–1925)
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Die Bekräftigung ihrer Autorschaft

Dennoch bleiben Fragen: Wie lassen sich die Retusche und die ein­geritzte Signatur erklären? Und wie wurde bei der dar­gestellten Person „Charlotte“ zu „Wilhelmine“?

Der weiße Rahmen und der für die Beschriftung auf der Rückseite verwendete Faser­stift deuten in die 1950er/60er Jahre. Zu dieser Zeit wandte sich Charlotte Berend verstärkt wieder ihren eigenen Arbeiten zu, um sie für Ausstellungen und Publikationen vorzu­bereiten. Vermutlich nahm sie auch ihr um 1930 entstandenes Gemälde wieder zur Hand und revidierte die Signatur – wobei nicht mehr festzu­stellen ist, wie die oben links angebrachte ursprünglich lautete.

Doch das Einritzen in die bereits gefirnisste Mal­schicht verrät eine Vehemenz, die im Verband mit der Flüchtigkeit, ja Hast, mit der die Retuschen links oben ausgeführt sind, auf eine emotional aufgewühlte Stimmung schließen lässt. Aber gerade im Zusammen­hang mit der Beseitigung der gemalten Signatur oben links erscheint der Eingriff in die Bild­oberfläche unten rechts wie eine ostentative, irreversible Bekräftigung ihrer Autorschaft.

Vom Modell zur Künstlerin

Ähnlich verhält es sich mit der Identifizierung der dar­gestellten Frau als ihrer Tochter Wilhelmine. Die Bezeichnung der Dargestellten als Charlotte Berend hätte das Gemälde zu einer reinen – wenn auch farblich abweichenden – Kopie des Werks von Lovis Corinth gemacht. Durch die Identifizierung als Wilhelmine wurde es hingegen zu einer schöpferischen Aneignung und damit zu einem eigen­ständigen Werk Charlotte Berends.

Das Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend kann als Zeugnis gedeutet werden für die Suche Charlotte Berends nach einer selbständigen künstlerischen Position in der lebens­langen Auseinander­setzung mit dem Schaffen Lovis Corinths: 1911 als sein Modell, 1930 in Nach­ahmung und zugleich Abgrenzung sowie um 1950/60 in der intensiven Beschäftigung mit seinem Werk und der erneuten Behauptung ihres eigenen Künstler­tums.

Inka Bertz, Kuratorin für Bildende Kunst

Holzrahmen eines Gemäldes von hinten mit der genannten Beschriftung und einem Draht zum Aufhängen des Bildes

Rückseite des Gemäldes Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend von Charlotte Berend-Corinth mit der hand­schriftlichen Beschriftung: „Charlotte Berend-Corinth“; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2009/267/0, Foto: Jens Ziehe

Zitierempfehlung:

Inka Bertz (2021), Charlotte Berend im Dialog mit Lovis Corinth. Über­legungen zu dem Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend.
URL: www.jmberlin.de/node/8413

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