Charlotte Berend im Dialog mit Lovis Corinth
Überlegungen zu dem Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend
Das Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend, das sich seit 2009 in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin befindet, wirft seit langem Fragen auf. Bei näherer Betrachtung eröffnet es einen Blick auf Charlotte Berend (1880–1967) als Künstlerin in der lebenslangen Auseinandersetzung zwischen ihrem eigenen Schaffen und dem Werk ihres Ehemannes Lovis Corinth (1858–1925).
Eine Variation der Lesenden
Das Gemälde ist eine Variation des 1911 gemalten Werks Die Lesende von Lovis Corinth. Die frappierenden Ähnlichkeiten weckten zunächst den Verdacht, es könne sich um eine bewusste Fälschung handeln. Dagegen sprechen jedoch das abweichende Format und die völlig andere Farbgebung. Irritierend und erklärungsbedürftig sind jedoch die Retusche links oben, wo Corinth sein Werk signiert hatte, und die auf recht linkische Weise eingeritzte Signatur „Ch BEREND“ rechts unten.
Diese Beobachtungen werfen mehrere Fragen auf: nach dem Hergang der Bildentstehung und der Revision der Signatur des Gemäldes, nach seiner Autorschaft und seinem Zusammenhang mit dem Gemälde Lovis Corinths, der Datierung, der Identität der Dargestellten und schließlich nach der künstlerischen Intention.
Während die Provenienz des Gemäldes die Autorschaft Charlotte Berends bestätigen konnte und auch die ursprünglich angegebene Datierung „um 1930“ der Farbigkeit ihrer um diese Zeit entstandenen Gemälde entspricht, bleibt die Frage nach der künstlerischen Intention hinter der Beinahe-Kopie ihres eigenen, durch ihren verstorbenen Ehemann gemalten Porträts.
Aneignung und eigene Schöpfung
Die Entstehungsjahre ihrer Variation der Lesenden waren für Charlotte Berend eine Phase der künstlerischen Selbstzweifel, der Experimente und Orientierungssuche, die in ihren Werken, aber auch in ihrem Tagebuch und den autobiografischen Erinnerungsbüchern an Lovis Corinth ihren Ausdruck fanden. Darin wechselt die erzählte Zeit zwischen der Gegenwart der Autorin und Rückblenden in die Vergangenheit mit Lovis Corinth. Er ist ihr Sparringspartner, Resonanzraum und „Seelenspiegel“.
Das Gemälde ist die bildkünstlerische Entsprechung dieser Texte, eine visuelle Formulierung dessen, was sie zur selben Zeit sprachlich zu fassen versuchte. Wie in ihren Tagebüchern und Doppelbiografien mischen sich auch in dem Gemälde Identifikation mit Selbstbehauptung, Erinnerung mit der Suche nach einer künstlerischen Zukunft, Appropriation mit eigener Schöpfung, changierend zwischen der Erinnerung an Lovis Corinth und ihrer eigenen Gegenwart als Künstlerin.
Die Bekräftigung ihrer Autorschaft
Dennoch bleiben Fragen: Wie lassen sich die Retusche und die eingeritzte Signatur erklären? Und wie wurde bei der dargestellten Person „Charlotte“ zu „Wilhelmine“?
Der weiße Rahmen und der für die Beschriftung auf der Rückseite verwendete Faserstift deuten in die 1950er/60er Jahre. Zu dieser Zeit wandte sich Charlotte Berend verstärkt wieder ihren eigenen Arbeiten zu, um sie für Ausstellungen und Publikationen vorzubereiten. Vermutlich nahm sie auch ihr um 1930 entstandenes Gemälde wieder zur Hand und revidierte die Signatur – wobei nicht mehr festzustellen ist, wie die oben links angebrachte ursprünglich lautete.
Doch das Einritzen in die bereits gefirnisste Malschicht verrät eine Vehemenz, die im Verband mit der Flüchtigkeit, ja Hast, mit der die Retuschen links oben ausgeführt sind, auf eine emotional aufgewühlte Stimmung schließen lässt. Aber gerade im Zusammenhang mit der Beseitigung der gemalten Signatur oben links erscheint der Eingriff in die Bildoberfläche unten rechts wie eine ostentative, irreversible Bekräftigung ihrer Autorschaft.
Vom Modell zur Künstlerin
Ähnlich verhält es sich mit der Identifizierung der dargestellten Frau als ihrer Tochter Wilhelmine. Die Bezeichnung der Dargestellten als Charlotte Berend hätte das Gemälde zu einer reinen – wenn auch farblich abweichenden – Kopie des Werks von Lovis Corinth gemacht. Durch die Identifizierung als Wilhelmine wurde es hingegen zu einer schöpferischen Aneignung und damit zu einem eigenständigen Werk Charlotte Berends.
Das Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend kann als Zeugnis gedeutet werden für die Suche Charlotte Berends nach einer selbständigen künstlerischen Position in der lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Schaffen Lovis Corinths: 1911 als sein Modell, 1930 in Nachahmung und zugleich Abgrenzung sowie um 1950/60 in der intensiven Beschäftigung mit seinem Werk und der erneuten Behauptung ihres eigenen Künstlertums.
Inka Bertz, Kuratorin für Bildende Kunst
Zitierempfehlung:
Inka Bertz (2021), Charlotte Berend im Dialog mit Lovis Corinth. Überlegungen zu dem Gemälde Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend.
URL: www.jmberlin.de/node/8413