Ohne die Blätter hätte ich nicht begonnen
Frédéric Brenner über seinen fotografischen Essay ZERHEILT
Frédéric Brenner erzählt bereits seit über 40 Jahren mit seinen Fotografien vom jüdischen Leben in aller Welt. Seit 2018 erkundet der international bekannte Fotograf nun Berlin als Bühne verschiedener Inszenierungen des Jüdischen. Sein fotografischer Essay ZERHEILT war vom 3. September 2021 bis 24. April 2022 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen (mehr über die Ausstellung).
Ohne die Blätter hätte ich nicht begonnen
Im Herbst 2016 zogen mich bei einem Spaziergang in Berlin raschelnde Blätter in ihren Bann. Es war, als ich gerade ziellos in einer Gegend umherlief, in der ich gar nicht sein wollte und in der ich womöglich auch nicht geblieben wäre, hätte ich nicht kürzlich auf einem Teebeutelanhänger den Sinnspruch „Lasse die Dinge zu Dir kommen“ gelesen. Die über den Bürgersteig wehenden vertrockneten Blätter waren die ersten Dinge, die auf mich zukamen; sie passten genau zu meinem Gemütszustand und einer aufkeimenden fotografischen Idee. Ich verbrachte von diesem Augenblick an jeden Tag Stunden damit, sie zu beobachten und zu fotografieren – ihre Struktur, ihre Farben, ihre Bewegungen, ihre unterschiedlichen Stadien der Zersetzung. Dem Verfall preisgegeben, erinnerten sie mich an die Kraft der Hingabe, des nicht mehr Hetzens, sondern Vertrauens, Loslassens, Zuhörens und schließlich Annehmens. Sie gaben damit den Ton für ein neues Projekt vor, auf das ich mich, ohne es zu wissen, bereits eingelassen hatte. Es war beinahe, als würden die Fotografien anfangen, mich aufzunehmen und nicht ich sie. Die Blätter begleiteten mich in Berlin die ganze Zeit, während ich mich durch mein Vorhaben treiben ließ. Sie führten mich zu dem ersten Porträt: einem Mann, der wie ein heruntergefallenes Blatt auf den Boden gesunken zu sein scheint.
Nach dreißig Jahren der Beschäftigung damit, wie Jüdinnen*Juden in der Diaspora mit einer mobilen Identität leben, und weiteren zehn Jahren, in denen ich die mit dem Land Israel verbundenen Verheißungen hinterfragte, entdeckte ich in Berlin ein neues und überraschendes Kapitel meiner Forschungs- und Entdeckungsreise zu den Dissonanzen des Judentums. Ein Jahr als Artist-in-Residence am Wissenschaftskolleg zu Berlin fühlte sich an, als wäre ich in ein Straßentheaterstück hineingestolpert, ein Erlösungsdrama, das in eines der berühmten Opernhäuser der Stadt passen würde, teils Moralitätenspiel, teils Maskenstück, teils Gedächtnistheater – alles dargeboten über einem Abgrund.
Dass Berlin zu einer erlösungssüchtigen Stadt geworden ist – und dass der Jude in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfigur darstellt –, zeigt sich an der „Holocaustmahnmal-Epidemie“ in der Stadt und anderen Gedächtnispraktiken. Deutschland hat wie keine andere Nation in Europa eine bewundernswerte Vergangenheitsbewältigung betrieben, bei der Berlin, wo die Vernichtung der Jüdinnen*Juden geplant und organisiert wurde, im Mittelpunkt steht. Die jüdische Bevölkerung der Stadt ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich größer und diverser geworden. Neben den gebürtigen deutschen und den nach dem Krieg eingewanderten osteuropäischen Jüdinnen*Juden leben hier auch jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Anfang der 1990er-Jahre nach Berlin kamen, sowie israelische Jüdinnen*Juden, die seit der Jahrtausendwende zunehmend hierherziehen. Zudem wird das Judentum überall inszeniert und zelebriert, vom Theater über Klezmer bis zur jüdischen Küche, doch dieses „jüdische Revival“ fühlt sich oft weniger wie ein Akt der Heilung als vielmehr wie eine neue Form der Entstellung an – die der Dichter Paul Celan mit den Worten beschrieb: „Sie haben mich zerheilt!“
Das Bedürfnis der Deutschen, eine mit Schuld überladene Geschichte aufzuarbeiten, hat zu einem Übereifer geführt, die Leere zu füllen und zu repräsentieren, was nicht repräsentiert werden kann, weil diese Leerstelle einfach unerträglich ist. Sergej Lagodinsky, ein aus der Sowjetunion emigrierter jüdischer Gemeindevorsteher, formuliert es so: „Die Juden sind zu einer Projektions
fläche geworden, mit der die Deutschen ihre eigenen Dämonen zum Schweigen bringen wollen.“
Für manche Deutsche bedeutet sich selbst zu erlösen, dass sie sich mit den Juden versöhnen müssen, während es für andere bedeutete, zum Judentum zu konvertieren. „Es gibt eine Tendenz, sich mit den Opfern zu identifizieren“,
sagt Cilly Kugelmann, die ehemalige Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin. „Emotional wird man selbst zum Opfer und tilgt die Taten seiner Vorfahren.“
Für Elad Lapidot, einen in Berlin lebenden israelischen Philosophen, „sind die Protestanten des neunzehnten Jahrhunderts keine Antisemiten oder Philosemiten mehr. Sie sind Juden geworden. Sie haben die Andersheit eliminiert, indem sie selbst zum Anderen wurden.“
Es gibt in Berlin eine wachsende Zahl deutscher Christ*innen, die zum Judentum konvertiert sind; einige gingen sogar noch weiter, indem sie ordiniert wurden und eine neue Generation von Rabbiner*innen in Europa ausbilden, viele von ihnen ebenfalls konvertiert. So werden zwei der bedeutendsten Synagogen in Berlin von Konvertit*innen geleitet, und ein beträchtlicher Teil der Gemeindemitglieder ist ebenfalls erst kürzlich zum Judentum konvertiert. „Es ist furchtbar, alle lieben sie die Juden“,
sagt Irene Runge, eine deutsche Jüdin aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR).
Für Konvertit*innen, die sich zum Judentum bekennen, bedeutet das oft auch, sich zum Zionismus zu bekennen. Diejenigen, die weiterhin ein säkulares Leben führen, könnte man wohl eher als zum Zionismus Konvertierte bezeichnen. Doch wenn sie sich zu diesem Schritt entschließen, treffen ihre Träume von Harmonie auf Widersprüche. Der Zionismus war und ist bis zu einem gewissen Grad immer noch eine Reaktion auf Intoleranz und Verfolgung in Europa und anderswo, und gleichzeitig hat er sich heute zu einer Herausforderung für die Ideale des kosmopolitischen Multikulturalismus entwickelt. „Sie glauben, dass sie dem Kampf entkommen sind“, sagt Gesa Ederberg, Rabbinerin der Synagoge in der Oranienburger Straße und selbst Konvertitin, „und sie landen mitten in einem anderen Kampf.“
Gleichzeitig verzeichnet Berlin einen stetigen Zuzug von Israelis, von denen sich viele keinen Illusionen über den Zionismus mehr hingeben, was zu einem tiefgreifenden Paradox führt: Deutsche Zionist*innen und postzionistische Israelis träumen von der Rückkehr zu einem idealisierten Weimar.
Manche sagen, Israelis ziehe es nur nach Berlin, weil es eine bezahlbarere Version von Tel Aviv sei. Doch es ist offensichtlich, dass viele von ihnen Israel deshalb verlassen, weil sie hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Zukunft des Landes alle Hoffnung verloren haben und nicht zu Kompliz*innen einer Regierung werden wollen, die ihrer Ansicht nach ein anderes Volk, nämlich das palästinensische, unterdrückt. „Die jungen Israelis haben das Gefühl, dass ihnen etwas in ihrem Leben genommen wurde, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hätten“, sagt der Historiker Dan Diner. „Sie sind hier, um nach etwas zu suchen, das von einer Ideologie verdrängt und unter
drückt wurde, die den Diaspora-Juden erlösen und einen neuen Juden schaffen wollte.“ Dass in Berlin eine nennens
werte Zahl von Palästinenser*innen lebt – Geflüchtete aus Israel, dem Libanon, Syrien und manchmal auch aus allen drei Ländern –, macht die Geschichte noch komplizierter und bringt die Begriffe von Opfer und Täter, von Versöhnung und Erlösung durcheinander. „Mit Juden verbindet die Deutschen eine wunder
bare Geschichte: Liebe – Schoa – Erlösung“, sagt Yossi Bartal, ein Israeli, der in Berlin eine Plattform für den israelisch-palästinensischen Dialog gegründet hat. „Palästinenser*innen sind eine Störgröße.“ Viele Israelis bleiben gegen
über dem Land, das sie verlassen haben, ambivalent, aber ebenso gegenüber dem Land, in dem sie sich nieder
gelassen haben, weil sie befürchten, dass sie immer nur Figuren im Stück von jemand anderem bleiben werden – Juden für Deutsche statt deutsche Juden. Und so wird Berlin zu einem weiteren Laboratorium für „den neuen Juden“.
Diese sich überschneidenden Vektoren sozialer und emotionaler Traumata haben Berlin in einen Brutkasten für Paradoxien und Dissonanzen verwandelt, in dem Gruppen und Individuen versuchen, einer überfrachteten Geschichte zu entkommen und sich in einer offenen Gesellschaft, die ein Nebeneinander aller Narrative erlaubt, neu zu erfinden: der australische Opernregisseur, der sich selbst als „schwules jüdisches Känguru“
bezeichnet und sich zur Aufgabe macht, „den Finger tief in die deutsche Wunde zu legen“
; die Palästinenserin, die mit einem israelischen Pass, einem Symbol für die Katastrophe ihrer Familie, nach Deutschland einwandert; der israelische Philosoph, der sich rühmt, Teil der „ersten Alija“ von Israel nach Deutschland gewesen zu sein, und für den die eigentliche Situation des Juden die eines Fremden ist; der deutsche christliche Konvertit, der Rabbiner wird und das erste Institut für jüdische Theologie im Nachkriegsdeutschland gründet; die israelische Psychoanalytikerin, die sich für das marokkanische Erbe ihrer Mutter schämt und stattdessen mit den aschkenasischen Wurzeln ihres Vaters identifiziert, sich aber nach ihrem Umzug nach Berlin und der Heirat mit einem deutschen Christen der inneren Täterin stellt und ihre arabische Identität annimmt; die deutsche Jüdin, deren Eltern aus Nazi-Deutschland nach New York flohen und die nach dem Krieg zurückkehrt, um den sozialistischen Traum der DDR zu verwirklichen, Stasi-Agentin wird und jetzt Redakteurin der lokalen Zeitschrift Chabad ist; die New Yorkerin, die sich in Berlin niederlässt und mir als Lieblings-Holocaustüberlebende der deutschen Gesellschaft vorgestellt wird.
Im Balanceakt zwischen deutscher Erlösung und jüdischer Neufindung erlebt Berlin einen historischen Augenblick, doch bedeutet das den Anfang oder das Ende von etwas? Verlieren die Juden für die Deutschen bereits ihre symbolische Funktion? Haben Jüdinnen*Juden gerade in dem Augenblick von Deutschland zu träumen gewagt, in dem die Welt anfing, sich von der Erinnerung an die Schoa abzuwenden und in einem neuen Rausch des ethnischen und religiösen Hasses zu versinken? Erleben wir, wie manche behaupten, einen Abgesang, einen Schwanengesang – einen Schwanengesang ohne Dekadenz? Sicher ist, dass die Fragen, die Berlin aufwirft, weit über seine Grenzen hinaus ausstrahlen. Berlin ist heute Sinnbild für etwas Größeres, eine Art Theatrum Mundi, ein universelles Drama der Andersheit, das hier in Berlin eine besondere Eindringlichkeit und Spannung entwickelt.
Hier wurde ich wie auch anderswo daran erinnert, dass das größte Drama – und die intensivsten Kämpfe – in der Intimität zu finden sind; und Fotografie ist letztlich die Kunst, das zu erforschen, was Fernando Pessoa „die weitläufige Kolonie unseres Seins“
nannte. Der amerikanische Fotograf Edward Weston drückte es so aus: „Was könnte intimer sein als die Nah
aufnahme eines Objekts oder sich bei der Arbeit an einem Porträt in absoluter Über
einstimmung mit den Gefühlen eines Menschen zu befinden?“
Und je näher jemand an einen anderen Menschen herankommt, desto stärker entledigen sich beide der Illusion eines singulären Selbst und entdecken die Vielheit; wahre Intimität ist kein Triumph über Entfremdung, sondern die Entdeckung der vielen Fremden im eigenen Inneren. Das Entfremdet-Sein zu wagen, anstatt an Fiktionen festzuhalten, an Erzählungen, die wir ersonnen haben, um das Unerträgliche zu überbrücken, die dissonante, sich ständig verändernde Wirklichkeit innen und außen, die Bruchstücke, die nie wieder zusammengefügt werden können – das ist die einzige Erlösung, das einzige Zerheilt.
Die Vergangenheit, die Geister, Opfer und Täter, Exil und Migration, Andersheit, Gleichheit, Umkehrung, Bekehrung, Erlösung, Aneignung, Gedenken, Feier, Performance, Identität, Angst, Territorium, Trompe lʼœil, Unterhaltung, Tyrannei der Repräsentation, Kommerzialisierung, Fragmentierung, Verwirrung, Auflösung, Chaos und, natürlich, die Blätter … Wie kann man all dem gerecht werden und trotzdem der Versuchung widerstehen, einen Sinn darin zu finden? Ich habe versucht, mich mit meiner Kamera durch diese Konstellation von ungelösten Spannungen und sich auflösenden Grenzen zu bewegen – in Erzählungen einzutauchen, ohne einer von ihnen verpflichtet zu sein, mich auf Gespräche einzulassen, die in den Fotografien und Texten ihren Widerhall finden – aber vor allem die Einladung anzunehmen, dem „Gemurmel des Unsichtbaren“ zu lauschen und zu wagen, mich in die Leere zu versenken.
Frédéric Brenner ist bekannt für seine fotografische Erforschung von Sehnsucht, Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein. Sein bekanntestes Werk Diaspora, Homelands in Exile ist Resultat einer 25-jährigen Recherche in über 40 Ländern, um ein visuelles Gedächtnis jüdischer Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Er lebt und arbeitet in Berlin und Jerusalem.
Dieser Text stammt aus der Publikation ZERHEILT; erschienen bei Hatje Cantz, August 2021.
Zitierempfehlung:
Frédéric Brenner (2021), Ohne die Blätter hätte ich nicht begonnen. Frédéric Brenner über seinen fotografischen Essay ZERHEILT.
URL: www.jmberlin.de/node/8081
Alle Angebote zur Ausstellung Frédéric Brenner – ZERHEILT
- Über die Ausstellung
- Frédéric Brenner – ZERHEILT – 3. Sep 2021 bis 24. Apr 2022
- Publikationen
- Frédéric Brenner: ZERHEILT – 2021, auf Englisch, Buch zur Ausstellung
- Begleitprogramm
- Chewruta: Zerheilen – Eine Einladung zum gemeinsamen Lernen
- Siehe auch
- Frédéric Brenner, Fotograf
- Digitale Angebote
- Aktuelle Seite: Ohne die Blätter hätte ich nicht begonnen – Essay von Frédéric Brenner über ZERHEILT, 2021
- Inszenierungen des Jüdischen – Video-Mitschnitt des Künstlergesprächs mit Frédéric Brenner, 2022, auf Englisch
- ZERHEILT – Die Protagonist*innen vor ihren Porträts – Fotos und Interviews zu jüdischem Leben in Berlin, 2021/22
- Chewruta zum Thema Gedächtnis/Ort – Video-Mitschnitt, mit Yemima Hadad, Netanel Olhoeft, Dekel Peretz und Barbara Steiner, 2021
- Chewruta zum Thema Anderssein – Video-Mitschnitt, mit Liad Hussein Kantorowicz, Benyamin Reich, Irene Runge und Adam Joachim Goldmann, 2021
- Chewruta zum Thema Heimat/Diaspora – Video-Mitschnitt, mit Akiva Weingarten, Sonia Simmenauer, Elad Lapidot, und Aviva Ronnefeld, 2022