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Beargwöhnt und heraus­gehoben: Jüdin­nen*Juden in der DDR

Die Geschichte der Jüdin­nen*Juden in der DDR beginnt nicht erst mit der Gründung des Staates am 7. Oktober 1949. Vielmehr wurden schon seit Mai 1945 die Weichen gestellt für die spätere Teilung in Ost und West, den Kalten Krieg, die stalinistischen Säuberungen und die Bedingungen jüdischen Lebens im Osten. Gleich­zeitig gab es in diesen Jahren Ansätze für einen anderen Gang der Geschichte, andere Möglich­keiten, die nicht verwirklicht wurden.

Der Versuch eines Neu­beginns jüdischen Lebens fand unter wider­sprüchlichen Bedingungen statt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa

Eine äußerst hetero­gene Gruppe von über­lebenden Jüdin­nen*Juden fand sich nach dem Ende von Krieg und Verfolgung sowohl in der sowjetischen als auch den drei anderen Besatzungs­zonen des zerstörten, zer­stückelten Täter-Landes zusammen. Sie waren aus den Vernichtungs­lagern befreit worden, hatten in den Armeen der Alliierten gekämpft oder kehrten aus dem Exil zurück, sie hatten im Unter­grund über­lebt oder waren von ihren nicht­jüdischen Ehe­partner*innen geschützt worden. Ein Teil von ihnen betrachtete den Aufent­halt in Deutschland zunächst nur als Zwischen­station auf dem Weg nach Palästina oder in die USA. Zahl­reiche andere kamen ganz bewusst nach Deutschland zurück, weil sie hofften, dort eine neue Gesell­schaft mitge­stalten zu können.

Ein wichtiger Ziel- und Knoten­punkt für den Rück- und Zustrom der Über­lebenden und Re­migrant*innen war Berlin, das von den vier Besatzungs­mächten verwaltet wurde. Die neu konstituierte Berliner Jüdische Gemeinde hatte ihren Sitz im sowjetischen Sektor in der Oranien­burger Straße. Ihr erster kommis­sarischer Vor­sitzender, Erich Nelhans, gehörte zu der damals innerhalb der Gemeinde dominierenden Gruppe, die jüdisches Leben in Deutschland nach der Schoa nicht mehr für möglich hielt und sich für die Über­siedlung nach Palästina und den Aufbau eines jüdischen Staates einsetzte.

Eine braune Ledertruhe.

Reisetruhe von Josef und Lizzi Zimmering, 1930er- bis 1940er-Jahre: Sie überlebten die Verfolgung durch die Nazis im Exil. Josef Zimmering (1911–1995) übernahm nach der Gründung der DDR wichtige Funktionen im Staat; Leih­gabe der Familie Zimmering, Foto: Roman März

Nelhans kümmerte sich auch um die Holocaust-Über­lebenden aus Ost­europa, die zu Zehn­tausenden vor dem polnischen Nachkriegs­antisemitismus in Richtung Westen flohen. Viele von ihnen meldeten sich bei der Jüdischen Gemeinde im sowjetischen Sektor von Berlin, von wo sie in die amerikanischen und französischen Sektoren weiter­geleitet wurden, in denen Lager für Displaced Persons eingerichtet worden waren. Nelhans geriet ins Visier des sowjetischen Geheim­dienstes, nachdem er jüdischen Rot­armisten zur Flucht in den Westen ver­holfen hatte. Er wurde im März 1948 in seiner Ost­berliner Wohnung verhaftet und von einem sowjetischen Militär­gericht zu 25 Jahren Lager­haft verurteilt. 1950 starb er im mord­winischen DubrawLag.

Bereits im Sommer und Herbst 1945 konstituierten sich auch in einigen anderen Städten in der sowjetischen Besatzungs­zone (SBZ) jüdische Gemeinden. Initiiert wurden sie zumeist von Jüdin­nen*Juden, die durch ihre nicht­jüdischen Ehe­partner*innen vor der Deportation bewahrt worden waren. Zu ihnen gesellten sich in den folgenden Wochen und Monaten Über­lebende aus den Lagern und Ghettos, Flüchtlinge aus Ost­europa sowie aus dem Versteck Aufge­tauchte. Die Zahl der Mitglieder in diesen ersten Gemeinden in Leipzig und Zwickau, Dresden, Chemnitz, Erfurt und Magdeburg wuchs zunächst rasch an und verminderte sich spätestens seit 1949 in ähnlichem Tempo. Kleinere Gemeinden zum Beispiel in Plauen, Mühl­hausen, Eisenach und Jena lösten sich zwischen 1948 und 1953 wieder auf.

Was waren Displaced Persons?

Displaced Persons, Menschen, die nach dem Zweiten Welt­krieg außerhalb ihres Herkunfts­landes gestrandet waren, darunter in west­lichen Besatzungs­zonen ca. eine Viertel­millionen Jüdinnen*Juden

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Neubeginn

Der Versuch eines Neu­beginns jüdischen Lebens fand unter wider­sprüchlichen Bedingungen statt. Die sowjetische Militär­administration und die meisten Länder­regierungen unter­stützten die Wieder- bzw. Neu­gründung der Gemeinden und bemühten sich um die Versorgung der über­lebenden Rück­kehrer*innen und Zu­wanderer*innen mit dem Aller­nötigsten (ein Dach über dem Kopf, Kleidung, gesund­heitliche Betreuung und zusätzliche Lebens­mittel­rationen), während in der Bevölkerung ebenso wie in lokalen Behörden der Anti­semitismus nach wie vor virulent war.

Um die Unterstützung ihrer Mitglieder zu bewältigen, arbeiteten die Gemeinde­vertreter*innen eng mit den örtlichen Aus­schüssen für die Opfer des Faschismus (OdF) zusammen. In den OdF-Ausschüssen, die mehr­heitlich von aus der Haft befreiten politischen Häftlingen gegründet worden waren, hatte es im Sommer 1945 zunächst Wider­stände gegeben, Holocaust-Überlebende als „Opfer des Faschismus“ anzu­erkennen, mit der Begründung, sie hätten zwar „Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft“.1 Bereits wenige Monate später, im Oktober 1945, wurde diese Ein­stellung auf der Leipziger Tagung der OdF-Ausschüsse aus allen Teilen der SBZ korrigiert. Der Meinungs­umschwung war vor allem dem Engagement von Julius Meyer und Heinz Galinski zu verdanken, die im Berliner OdF-Haupt­ausschuss darauf­hin die Abteilung „Opfer der Nürnberger Gesetz­gebung“ gründeten.

Dringend benötigte Hilfe für die Über­lebenden kam auch vom „Joint Distribution Committee“ (kurz Joint genannt), einer jüdisch-amerikanischen Hilfs­organisation, deren Lebens­mittel­spenden und Hilfe­leistungen über die jüdischen Gemeinden verteilt wurden, seit 1947 auch in der SBZ.

1947/48 wurde in allen vier Besatzungs­zonen die Vereinigung der Verfolgten des Nazi­regimes (VVN) gegründet, die sich anfangs als über­parteiliche Interessen­vertreterin aller Verfolgten verstand. Unter den Mitgliedern der Vereinigung bildeten die jüdischen NS-Verfolgten eine große Gruppe, in Berlin waren sie sogar in der Mehrheit. Obwohl in der VVN die Unter­scheidung zwischen „Kämpfern“ und „Opfern“ ein Streit­punkt blieb, funktionierte die Zusammen­arbeit zwischen VVN und Jüdischen Gemeinden zunächst gut, nicht zuletzt, weil führende Repräsen­tant*innen der Jüdischen Gemeinden häufig zugleich Funktionen in der Vereinigung innehatten.

Buchcover, dessen eine Hälfte ein älteres Familienfoto vor dem Frankfurter Tor in Berlin zeigt, die andere Hälfte den Buchtitel: Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.

Katalog zur Ausstellung Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR, in dem u.a. eine aus­führlichere Fassung des vorliegenden Essays zu finden ist

Kalter Krieg

Bereits 1948 war die Chance auf ein gemein­sames Handeln der vier Besatzungs­mächte in Deutschland bei der Über­windung des national­sozialistischen Erbes sichtbar vorbei. Der Kalte Krieg und die Gründung von BRD und DDR setzte neue macht­politische Prioritäten, an denen die ohne­hin fragilen anti­faschistischen Bündnisse zerbrachen.

Während die VVN in der Bundes­republik 1950 als „radikale Organisation“ eingestuft und vom Verfassungs­schutz beobachtet wurde, besaß die Organisation in der DDR bis zu ihrer erzwungenen Auflösung 1953 ein großes politisches und moralisches Gewicht: Die Ost-VVN stellte Abgeordnete, unterhielt Kur­heime, gab mehrere Zeit­schriften heraus und verfügte über einen Buch­verlag. Unter anderem nahm sie Einfluss auf die Aus­arbeitung eines Wieder­gutmachungs­gesetzes. Dieses enthielt Klauseln für eine besondere Renten­regelung, bevorzugte Gesundheits­versorgung, eine bevorzugte Versorgung mit Wohn- und Gewerbe­raum, Hausrat und knappen Konsum­gütern, jedoch keine für Rück­erstattung geraubten Eigen­tums oder materielle Ent­schädigungen.

Die anfangs postulierte Über­parteilich­keit der VVN bestand bald nur noch auf dem Papier. Seit 1948 erlangte die SED nach und nach die Kontrolle über die leitenden Gremien der Vereinigung und begann deren Tätigkeit dem neuen Freund-Feind-Denken des Kalten Krieges unter­zuordnen.

Foto von einer Frau mit Kind an der Hand, daneben ein Jugendlicher mit den sogenannten Arbeiterpalästen in der Stalinallee im Hintergrund.

Alice Zadek mit ihrer Tochter Ruth und ihrem Neffen David Hopp auf der Stalin­allee (Karl-Marx-Allee), Berlin ca. 1956; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Ruth Zadek, Foto: Gerhard Zadek. Gerhard (1919–2005) und Alice Zadek (1921–2005) kehrten 1947 aus dem britischen Exil nach Berlin zurück. In der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR waren die Zadeks von Anfang an in das politische System eingebunden. Als Westemigranten verloren sie jedoch 1953 ihre Funktionen und Ämter.

Der Slánský-Prozess und seine Folgen

Spätestens seit dem stalinistischen Schau­prozess gegen Rudolf Slánský Ende 1952 in Prag, der eine eindeutig anti­semitische Färbung hatte, standen die Jüdin­nen*Juden in der DDR unter doppeltem Druck: Auf der einen Seite mussten sie sich gegen die fort­dauernde und sogar wieder anwachsende Feind­seligkeit großer Teile der Bevölkerung wehren, auf der anderen Seite waren sie dem stalinistischen Anti­semitismus aus der Sowjetunion ausgesetzt.

In einer Atmosphäre der anti­semitischen Hetze in den Medien sowie willkür­licher Maßnahmen örtlicher Behörden gegen anerkannte Verfolgungs­opfer setzte sich die Flucht­welle bis in den Herbst 1953 fort.

Nachdem Julius Meyer, SED-Mitglied und Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, 1953 in Vernehmungen gegenüber der sowjetischen Kontroll­kommission sowie der Kontroll­kommission der SED auf­gefordert worden war, die Listen der Empfänger*innen von Joint-Paketen auszu­händigen und den Dach­verband zu einer öffentlichen Distanzierung vom Joint sowie zu einer Verurteilung des Zionismus zu bewegen, fuhr Meyer nach Leipzig, Dresden und Erfurt, um die führenden DDR-Gemeinde­vertreter vor den drohenden Verfolgungen zu warnen. Günter Singer, Helmut Salo Looser, Leo Löwenkopf, Fritz Grunsfeld und Leo Eisen­städt flohen noch am gleichen Tag nach West­berlin. Andere Gemeinde­mitglieder folgten. In einer Atmosphäre der anti­semitischen Hetze in den Medien und unter dem Eindruck polizeilicher Durc­hsuchungen von Gemeinde­büros sowie willkür­licher Maßnahmen örtlicher Behörden gegen anerkannte Verfolgungs­opfer setzte sich die Flucht­welle bis in den Herbst 1953 fort.

Von den Verdächtigungen und Verfolgungen waren auch Partei- und Staats­funktionäre jüdischer Herkunft betroffen, die keinen Kontakt zur Gemeinde unterhielten.

Zerfall der Gemeinden

Die Ereignisse der Jahre 1948 bis 1953 und ihre Folgen prägten bis 1989 das Leben der Jüdinnen*Juden in der DDR. Die meisten Gemeinden hatten ihre Vorstände verloren, ihnen fehlten Rabbiner, Kantoren und Vorbeter. Die Zahl ihrer Mitglieder hatte sich dramatisch verringert, nicht nur aufgrund der Flucht­bewegungen. Viele SED-Mitglieder waren aus Angst vor Repressalien aus der Religions­gemeinschaft ausgetreten. In Berlin zerfiel die Gemeinde endgültig in einen Ost- und einen Westteil. Nach Stalins Tod gab es zwar keine gezielte anti­semitische Verfolgung mehr, doch die geäußerten Vorwürfe und Verdächtigungen wurden offiziell niemals zurück­genommen und lebten unter­schwellig fort – als Angst auf der einen und als Ressentiment auf der anderen Seite.

Mit der erzwungenen Auflösung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, an deren Stelle das Zentralkomitee der SED ein „Komitee der Anti­faschistischen Widerstands­kämpfer“ installierte, hatten die über­lebenden Jüdin­nen*Juden ebenso wie viele andere Verfolgten­gruppen keine politische Stimme mehr. Die jüdischen Gemeinden konnten diese Lücke nicht füllen, sie blieben im Wesent­lichen auf die Ausübung des religiösen Kultus beschränkt.

Aufgrund der geringen Zahl ihrer Mitglieder, aber vor allem wegen der gescheiterten Wieder­gut­machung waren die jüdischen Gemeinden finanziell völlig abhängig von staatlichen Geldern.

Die DDR-Erinnerungs­politik

In den offiziellen Gedenk­veranstaltungen spielte das Thema der Verfolgung und Ermordung der Jüdin­nen*Juden bis etwa zur Mitte der 1980er-Jahre nur eine geringe Rolle; im Zentrum der staatlichen Erinnerungs­politik stand der kommunistische Wider­stand. Dabei waren die national­sozialistischen Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungs­lagern kein Tabu-Thema. In den Schul­büchern waren Fotos der Leichen­berge von Bergen-Belsen abgebildet, der massen­hafte Mord in den Gas­kammern wurde benannt, allerdings weitgehend ohne auf den anti­semitischen Hinter­grund einzugehen. Statt­dessen wurden die Opfer allgemein als „Häftlinge aus allen Ländern Europas“ bezeichnet oder sie wurden ebenso pauschal dem Wider­stand zugeschrieben.2

Armbinde mit der französischen Flagge und einem roten Lothringer Kreuz.

Dora Davidsohn (1913–1999) arbeitete in der Emigration in Frankreich für die Kommunistische Partei. Nach ihrer Flucht aus der Internierung als „feindliche Ausländerin“ schloss sie sich der Résistance an. Mehr über sie und ihren ersten Mann Alfred Benjamin erfahren Sie in einem Video auf unserer Website. Résistance-Armbinde von Dora Benjamin, geb. Davidsohn, Frankreich, ca. 1942–1945; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Peter Schaul, Foto: Roman März

Im Zentrum der staatlichen Erinnerungs­politik stand der kommunistische Wider­stand. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre jedoch kündigten sich Ver­änderungen dieses einges­pielten Rituals an.

Das Gedenken an den 9. November 1938 blieb viele Jahre lang vor­nehmlich auf Veranstaltungen innerhalb der jüdischen Gemeinden beschränkt, meist begleitet von einer kurzen Zeitungs­notiz mit einer Gruß­botschaft des SED-Zentral­komitees.

In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre jedoch kündigten sich Veränderungen dieses einges­pielten Rituals an, deren Höhe­punkt schließlich im Jahr 1988 der große offizielle Gedenk­aufwand anlässlich des 50. Jahres­tags des Pogroms bildete: Die Mitglieder des SED-Polit­büros, alle mit Kippot auf den Köpfen, umringt von Fernseh­kameras und Blitz­lichtern legten Kränze auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee nieder, um am folgenden Tag den symbolischen Grund­stein für den Wieder­aufbau der zerstörten Neuen Synagoge in der Oranien­burger Straße in die Erde zu senken. Ohne Zweifel standen hinter dieser Wende vor allem außen­politische und ökonomische Interessen im Hinblick auf die Beziehungen der DDR zu den USA. Doch die Staats- und Partei­führung reagierte damit auch auf eine sich verändernde Situation im Innern, wo engagierte Ver­treter*innen einer in der DDR aufge­wachsenen Generation die anti­faschistische Erziehung ernst nahmen und die Ignoranz und Acht­losigkeit gegen­über den Spuren einstigen jüdischen Lebens in ihrem Umfeld nicht mehr hin­nehmen wollten. Ihre Initiativen, um zerstörte und verwahr­loste Begräbnis­stätten wieder­herzu­richten und/oder lokale jüdische Geschichte zu erforschen, trafen plötzlich in den Behörden auf Interesse und wurden sogar gefördert.

Schwarz-weiß Fotografie der Fassade der neuen Synagoge in der Oranienburger Straße.

Aufnahme aus der Fotoserie der Neuen Synagoge in der Oranien­burger Straße, 1987, Berlin; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Mathias Brauner

Jenseits der Schmal­­spur der staat­lichen Erinnerungs­­politik gab es in der DDR aller­dings viele andere Zugänge zur Geschichte des Holocaust.

Jenseits der Schmal­spur der staatlichen Erinnerungs­politik gab es in der DDR allerdings bereits lange vor dem späten Kurs­wechsel der 1980er-Jahre viele andere Zugänge zur Geschichte des Holocaust. Die Rede ist von Romanen, auto­biografischen Berichten, Theater­stücken und Filmen. Exemplarisch sei hier Die Ermittlung von Peter Weiß erwähnt, eine dokumen­tarische Bühnen­collage über den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main, die am 19. Oktober 1965 in einer Ring-Urauf­führung gleich­zeitig in fünfzehn west- und ost­deutschen Theatern urauf­geführt wurde. Der weit­gehend auto­biografische Roman Die Bilder des Zeugen Schattmann des Schrift­stellers und Auschwitz-Über­lebenden Peter Edel erschien 1969 und lief einige Jahre später auch als Mehr­teiler im Fernsehen. 1975 kam der Film Jakob der Lügner in die Kinos und wurde zwei Jahre später sogar für einen Oscar nominiert.

Jüdischsein jenseits der Gemeinden

Ein Text über Jüdinnen*Juden in der DDR kann sich nicht auf die Mitglieder der jüdischen Gemeinden beschränken, sondern muss den Blick ebenso auf die weitaus größere Gruppe der Holocaust-Über­lebenden richten, die aus jüdischen Familien stammten, sich jedoch von der Religion und Tradition ihrer Vor­fahren entfernt hatten. Viele von ihnen hatten sich bereits vor 1933 der Arbeiter­bewegung ange­schlossen und waren Mitglieder der KPD geworden. Ihre Loyalität galt der Sowjetischen Besatzungs­macht und der Kom­munistischen Partei, in deren Macht­bereich sie auf gute Lebens- und Arbeits­bedingungen hoffen konnten.

Sie waren Schrift­steller*innen, Schau­spieler*innen und Regis­seur*innen, Sänger*innen, Kom­ponist*innen und bildende Künst­ler*innen. Sie über­nahmen die Leitung neuge­gründeter Verlage, Rundfunk­anstalten und Zeitungen, wurden auf Lehr­stühle an den Uni­versitäten berufen, wurden Betriebs­direktor*innen oder hatten Funktionen im Partei- und Staats­apparat inne.

Vielleicht war es gerade die Erfahrung der eigenen Verfolgung während der NS-Zeit, die Trauer um die ermordeten Angehörigen, die sie auf wenig bewusste Weise an das sozialistische Projekt banden.

Während der Phase der stalinistischen Säuberungen hatten viele von ihnen Vorwürfe, Ver­dächtigungen und zumindest berufliche Zurück­setzungen hingenommen. Und vielleicht war es gerade die Erfahrung der eigenen Verfolgung während der NS-Zeit, die Trauer um die ermordeten Angehörigen, die sie auf wenig bewusste Weise an das sozialistische Projekt banden. Mit ihrer Kreativität, der fachlichen Kompetenz und Welt­läufigkeit spielten diese Frauen und Männer eine wichtige Rolle beim Wieder­aufbau des kulturellen Lebens und neuer politischer Strukturen. Zu den Bekanntesten unter ihnen gehörten Anna Seghers, Lea Grundig, Arnold Zweig, Alfred Kantorowicz, Stefan Hermlin, Ernst-Herrmann Meyer, Alexander Abusch, Albert Norden, die Brüder Hanns und Gerhart Eisler.

Als eine Ausnahme-Persönlich­keit galt Jürgen Kuczynski, der sich ebenso als Wissen­schaftler wie als Partei­soldat verstand. Nach drei Jahren illegaler Arbeit für die KPD in Deutschland war er 1936 nach Groß­britannien emigriert und kehrte 1945 in der Uniform eines Obersten der US-Armee nach Berlin zurück. Einige Jahre später gehörte er zu den Gründern der Akademie der Wissen­schaften. Das von ihm geleitete Institut für Wirtschafts­geschichte war ein Ort, an dem für die Verhältnisse in der DDR relativ frei geforscht werden konnte. Der inter­national angesehene Wissen­schaftler gehörte zu den Beratern von Erich Honecker. In der gelenkten DDR-Öffentlich­keit trat er immer wieder mit un­dogmatischen Ideen und ungewöhn­lichen Initiativen hervor.

Eine andere Aus­nahme-Persönlichkeit war die Sängerin und Tänzerin Lin Jaldati; aufge­wachsen in einer armen jüdischen Familie in Amsterdam, wurde sie 1936 Mitglied der Kom­munistischen Partei der Nieder­lande. Die Über­lebende von Auschwitz und Bergen-Belsen siedelte 1952 zusammen mit ihrem Ehemann, dem Pianisten und deutschen Emigranten Eberhard Rebling, in die DDR über. Dort war sie bis in die 1980er-Jahre hinein die einzige Künstlerin, die mit großem Erfolg jiddische Lieder sang.

Haltungen zu Israel

Die SED-Führung zählte eigentlich nur Mitglieder der Gemeinden als Jüdinnen*Juden. Aber zu bestimmten Anlässen bediente sie sich für ihre Propaganda­zwecke auch der jüdischen Herkunft der vielen „anderen“. Zum Beispiel 1961, als die aus jüdischen Familien stammenden Journalisten Max Kahane, Gerhard Leo und Kurt Goldstein als Sonder­korrespon­denten zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem entsandt wurden, mit dem speziellen Auftrag, auf die NS-Vergangen­heit des Bonner Staats­sekretärs Hans Globke auf­merksam zu machen. Im Juni 1967, einen Tag nach dem Beginn des Sechstage­krieges zwischen Israel und den arabischen Nachbar­staaten, beschloss das SED-Politbüro – vermutlich, um möglichen Anti­semitismus-Vorwürfen vorzu­beugen – „Stellung­nahmen von jüdischen DDR-Bürgern zu ver­öffentlichen, in denen sie ihre Empörung über die Israel-Aggression und das Komplott Israel-Washington-Bonn zum Ausdruck bringen“ sollten.3 Doch wie der damit beauftragte Albert Norden irritiert (oder empört?) an Walter Ulbricht berichtete, lehnten zahlreiche der Ange­sprochenen ein solches Ansinnen ab. Letztlich gehörte keiner der Unter­zeichner der am 9. Juni 1967 im Neuen Deutschland publizierten Erklärung einer jüdischen Gemeinde an. Allerdings wandten sich Gemeinde­funktionäre vor allem im Verlauf der 1980er-Jahre zunehmend selbst­bewusst gegen anti­semitische Ent­gleisungen in der DDR-Bericht­erstattung über Israel und den Nahost-Konflikt.

Die israel­feindliche Politik der DDR hatte zur Folge, dass den jüdischen Gemeinden der Kontakt zu inter­nationalen jüdischen Verbänden weit­gehend versperrt blieb.

Die israel­feindliche Politik der DDR hatte zur Folge, dass den jüdischen Gemeinden der Kontakt zu inter­nationalen jüdischen Verbänden weit­gehend versperrt blieb. Erst 1986 durften Abgesandte des Dach­verbandes zum ersten Mal eine Tagung des Jüdischen Welt­kongresses in Jerusalem besuchen. Schon zuvor hatten die jüdischen Gemeinden nach Jahren eines eher abge­schotteten Daseins begonnen, ihre Fühler ins „innere Außen“, das heißt, in die DDR-Gesell­schaft zu strecken. In Berlin und Leipzig luden sie seit Beginn der 1980er-Jahre regel­mäßig zu Konzerten, Lesungen und Vorträgen ein. Etwa zur gleichen Zeit gründeten sich in einigen größeren Städten Arbeits­gemeinschaften für christlich-jüdischen Dialog.

Nachwuchs für die Gemeinden?

In den 1980er-Jahren zählten die jüdischen Gemeinden der DDR insgesamt noch etwa vierhundert Mitglieder. Knapp zwei­hundert davon gehörten zur Ost-Berliner Gemeinde. Der dortige Vorstand unter der Leitung von Dr. Peter Kirchner unter­nahm im Jahr 1986 einen unge­wöhnlichen Schritt, um den Prozess der Über­alterung und Schrumpfung zu stoppen. Er lud viele der mittler­weile erwachsenen „Kinder“ aus den säkularen jüdisch-kommunistischen Familien zu einer Veranstaltung in die Gemeinde ein. Die Resonanz war beein­druckend. Die Initiative traf auf ein gewachsenes Interesse seitens der zweiten Generation, mehr über die eigenen Wurzeln zu erfahren, über Wert­vorstellungen, Traditionen und Rituale, von denen sich ihre Eltern oder Groß­eltern bereits vor langer Zeit abge­wandt hatten. Es bildete sich die Gruppe „Wir für uns“, deren Mitglieder durchaus an Gottes­diensten, Festen oder am Hebräisch-Unter­richt teil­nahmen; doch nur ein kleiner Teil von ihnen entschloss sich in den folgenden Jahren zu einem Eintritt in die Gemeinde. Die Mehrheit wünschte sich eher einen losen Zusammen­halt, Diskussionen, Vorträge, kulturelle Ver­anstaltungen – im Grunde so etwas wie einen Jüdischen Kultur­verein. Der durfte sich jedoch erst im Jahr 1990 gründen. Da war die DDR schon fast am Ende.

Annette Leo, freie Historikerin und Publizistin

Dieser Text ist eine stark gekürzte Fassung ihres Beitrags zum Ausstellungs­katalog Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.

Eine Menora mit elektrischen Glühbirnen und einem Kabel.

Menora, ca. 1975–1989, VEB Wohn­raum­leuchten Berlin; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung Jüdischer Kultur­verein Berlin e.V., Foto: Roman März.


  1. Deutsche Volkszeitung, 1.7.1945, zit. nach Elke Reuter/Detlef Hansel: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953, Berlin 1997, S. 80f. Vermutlich handelt es sich um ein Zitat von Ottomar Geschke, des ersten Vorsitzenden des Berliner OdF-Hauptausschusses und späterem Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. ↩︎
  2. Vgl. Stefan Küchler: DDR-Geschichtsbilder. Zur Interpretation des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht der DDR, in: Internationale Schulbuchforschung 1(2000), Bd. 22, S. 42-44. ↩︎
  3. Protokoll Nr. 7/67 der Politbürositzung am 7.6.1967, Anlage 1; SAPMO, DY 30/J IV2/2/1 117, zit. nach Ulrike Offenberg: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945 bis 1990, Berlin 1998, S. 201. ↩︎

Zitierempfehlung:

Annette Leo (2023), Beargwöhnt und heraus­gehoben: Jüdin­nen*Juden in der DDR .
URL: www.jmberlin.de/node/10076

Gestaltete Grafik mit übereinanderliegenden Fotos und roten Quadraten, das oberste Foto zeigt eine Frau mit Kind an der Hand, daneben ein Jugendlicher, im Hintergrund die sogenannten Arbeiterpalästen in der Stalinallee.

Alle Angebote zur Ausstellung Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR

Über die Ausstellung
Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR – 8. Sep 2023 bis 14. Jan 2024
Publikationen
Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR – Katalog zur Ausstellung, deutsche Ausgabe, 2023
Another Country. Jewish in the GDR – Katalog zur Ausstellung, englische Ausgabe, 2023
Digitale Angebote
Stimmen aus der DDR – zwölf filmische Kurzinterviews mit jüdischen Perspektiven auf das Leben und das politische System, 2023
Komm, wir fliegen übers Brandenburger Tor! – Ein Dokumentarfilm von Esther Zimmering
Aktuelle Seite: Bearg­wöhnt und heraus­­gehoben: Jüdin­­nen*Juden in der DDR – Hinter­grund­artikel von Annette Leo, 2023
Jüdisch in der DDR. Ein Roadtrip mit Marion und Lena Brasch – ein Podcast von Deutschlandfunk Kultur in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin, sechs Folgen, 2023
Jüdische Lokal­geschichte der DDR – Informationen über die Gemeinden in Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig, Magdeburg, Chemnitz und Schwerin auf Jewish Places
Stadt­spaziergang Berlin-Ost – mit Jewish Places von der Neuen Synagoge bis zur koscheren Fleischerei, Schul­beteiligungs­projekt 2022/23
Soundtrack zur Ausstellung – auf Spotify
Siehe auch
Deutsche Demokratische Republik

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