Die unbedingte Lust an der Debatte
Interview mit Sharon Adler
Die Fotografin und Publizistin Sharon Adler wurde 1962 in Westberlin geboren und wuchs in Berlin, NRW, Holland und Israel auf. In der von ihr mitherausgegebenen Reihe Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven in Zusammenarbeit mit dem Deutschland Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung interviewt sie jüdische Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und Berufe. Die Gründerin und Herausgeberin von AVIVA-Berlin ist auch Vorstandsmitglied der Stiftung ZURÜCKGEBEN. Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft sowie Moderatorin des Jüdischen Quartetts und Trägerin des Berliner Frauenpreises. In unserem Interview spricht sie über ihre Motivationen, Visionen und ihr jüdisches Berlin.
Was ist in Berlin Ihr liebster Stadtteil?
Ich liebe Berlin als Ganzes! Wenn ich aber müsste, dann würde ich mich gleich für zwei Stadtteile entscheiden: Einmal für alles um den Südstern herum, die Admiralsbrücke, das Fraenkelufer, die Marheinekehalle, den Chamissoplatz, die Friedhöfe an der Bergmannstraße – Kreuzberg 61 ist auf jeden Fall mein Berlin: weil ich schon sehr, sehr lange in diesem Kiez lebe und weil er so eine gute Mischung zwischen Jung und Alt, zwischen Alteingesessen und Zugezogenen, zwischen Biografien unterschiedlicher Generationen und Herkünfte, vereint.
Aber „mein“ Berlin ist auch das alte Charlottenburg der 20er- und 30er-, aber auch der 70er-, 80er- und noch 90er-Jahre, mit dem ich viel Persönliches verbinde. Zum Beispiel mit dem Savignyplatz, der für mich untrennbar mit einem meiner Lieblingsgedichte verbunden ist: Von Mascha Kaléko im Exil in Amerika verfasst, endet es mit der Zeile „Mein Heimweh hieß Savignyplatz“. Für mich symbolisiert diese Gegend, genau wie Kreuzberg 61, die Schnittstelle zwischen Gestern und Heute und außerdem einen der Melting Pots Berlins. In Charlottenburg ist das allerdings noch viel mehr auf Jüdisches bezogen. Aber auch Kreuzberg verändert sich ja gerade rasant mit der Synagoge Fraenkelufer, diesem alten Ort, den besonders sehr viele jüdische junge Leute heute zu einem jungen Ort der Begegnung machen.
Dieses Jahr steht im Zeichen der Jubiläen 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland, bzw. 350 Jahre jüdisches Leben in Berlin. Was bedeuten Ihnen diese Daten?
Ich habe dabei tatsächlich ein kleines bisschen Bauchschmerzen. Warum? Weil das Jubiläum „1700 Jahre“ Jüdinnen und Juden von außen zugeschrieben wird. Es gilt damit ab dem Jahr, in dem sich Kaiser Konstantin überhaupt zu jüdischem Leben geäußert hat. Nun bin ich keine Historikerin oder Judaistin, aber es ist ja gar nicht gesagt, dass es nicht schon vor den 1700 Jahren jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gegeben haben kann. Dennoch bringt das Jubiläum auch Chancen: als ein Jahr, in dem jüdisches Leben ‒ und zwar ganz unterschiedliche Aspekte jüdischen Lebens ‒ bundesweit sichtbar gemacht werden, durch Ausstellungen, durch vielfältige Veranstaltungsformate.
Ich denke, das Jubiläum beinhaltet zwei Aspekte: den Aspekt des Feierns, des würdigen Feierns, und damit die Frage danach, wie Gedenkkultur und das jüdische Leben in der Gegenwart, das ja von der Vergangenheit nicht zu trennen ist, zusammen feierlich begangen werden können.
Der andere Aspekt ist die mit dem Jubiläum einhergehende Chance, auch auf Problemfelder aufmerksam zu machen, wie zum Beispiel auf Antisemitismus. Man könnte dieses Jubiläum ja genauso treffend mit „1700 Jahre Antisemitismus in Deutschland“ überschreiben!
Und man müsste meiner Meinung nach auch einen Blick darauf werfen, was es eigentlich heißt, dass immer wieder von dem neu „erblühten“ jüdischen Leben gesprochen wird. Dann müsste man kritisieren, wie wenig das Augenmerk auf die Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion gelegt wird. Das gleiche gilt für andere Themen, wie die Nicht-Anerkennung von Schul- oder universitären Abschlüssen oder Altersarmut bei ehemaligen sogenannten „Kontingentflüchtlingen“ oder die Ghettorenten. Diese Themen müssen viel mehr in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden. So könnte man auch dem immer noch bestehenden Klischee zum Beispiel des „reichen Juden“ entgegenwirken.
Sie interviewen für die Reihe Jüdinnen in Deutschland nach 1945 Frauen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen, religiösen Ausrichtungen, Herkünften und Altersgruppen: Gibt es etwas, was diese Frauen trotz aller Unterschiede eint?
Unbedingt. Und zwar eint sie trotz aller Unterschiede immer das Trauma der Shoah. Wie es Hetty Berg in meinem Interview für die Reihe Jüdinnen in Deutschland nach 1945 beschrieben hat: „Auch wenn man nicht über die Shoah gesprochen hat, war sie immer anwesend.“ Tatsächlich hat jede der von mir porträtierten und interviewten Frauen eigene, biografische Shoah-Erfahrungen, und sie beschäftigen sich in ihrer Arbeit alle mit der Shoah, auch die dritte Generationen von jungen Jüdinnen und Juden in Deutschland nach 1945, wie z.B. die Künstlerin Ella Ponizovsky Bergelson. Das ist eine sehr komplexe Geschichte, denn einerseits möchten Jüdinnen und Juden nicht nur auf die Shoah reduziert werden, andererseits ist die Shoah als fester Bestandteil in der Familie immer vorhanden. Das ist etwas, das in jedem Interview Eingang findet, auch wenn die Frage nicht explizit danach gestellt wurde. Nicht umsonst lautet der Untertitel der Reihe: Erinnerungen, Brüche, Perspektiven …
Und das andere Thema, das diese Frauen alle in irgendeiner Art und Weise miteinander verbindet ‒ Vorsicht, Klischeefalle! ‒ das ist die Lust am Dialog, die Lust an der Analyse, diese unbedingte Lust an der Debatte. Wenn man die alle zu einer Panel-Diskussion einladen würde, dann wäre das eine sehr lebhafte Veranstaltung, die auch wirklich ein jüdisches weibliches Leben in Deutschland abbilden würde!
Das Online-Magazin AVIVA verzeichnet die Rubrik Jüdisches Leben. Was ist für Sie jüdisches Leben in Berlin heute? Hat sich das in den letzten Jahren verändert?
Das ist eine abendfüllende Frage. Ich habe AVIVA ja 1999/2000 als Online-Magazin für Frauen gegründet, und wollte eigentlich mit dieser Rubrik keine „Ghettoisierung“ schaffen, sondern jüdisches Leben als selbstverständlichen Teil in allen anderen Rubriken wie Kunst, Kultur, Literatur, Politik, Public Affairs mit eingliedern. Aber um eine bessere Nutzbarkeit für die Leser*innen zu schaffen, hat sich die Rubrik Jüdisches Leben parallel zu den anderen Rubriken, aber auch gleichzeitig integrativ entwickelt. So ein Portal verändert sich ja laufend.
Wichtig war es mir, überhaupt jüdisches Leben abzubilden. Mir waren damals in den jüdischen Medien die Frauen nicht ausreichend abgebildet, ganz zu schweigen von queer Jewish life; und in allen anderen Medien wurden Jüdinnen, wenn überhaupt, ausschließlich mit der Shoah in Verbindung gebracht. Jüdinnen waren dann immer nur ein Exotikum. Vor allem wurde nur über Jüdinnen geschrieben; es gab nur wenige jüdische Redakteurinnen, die in den (nichtjüdischen) Medien über jüdische Themen geschrieben haben.
Was die Veränderung betrifft, die das jüdische Berlin durchlaufen hat … Wenn wir das letzte Jahrhundert betrachten, die 20er- und 30er-Jahre, war Berlin damals schon ein Melting Pot, verstärkt durch jüdische Kulturen vor allem aus dem osteuropäischen Raum. Und heute, einhundert Jahre später, ist Berlin schon wieder ein Anziehungspunkt, vor allem für Israelis, die hierher kommen, um hier zu leben, zu arbeiten und zu gestalten. Literatur, bildende Kunst, Theater, Film, Performances. Das ist etwas, was jetzt durch das Themenjahr tatsächlich sichtbarer wird. Das gab es auch schon in den 70er- und 80er-Jahren, aber jetzt ist das eine ganz andere und viel jüngere Generation. Sie gibt der Stadt wieder ein neues Gesicht.
Und die Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind einfach auch eine ganz wichtige Stimme. Deren Zuzug war für die Jüdischen Gemeinden eine Herausforderung, weil sie über Nacht die Mehrheit der Gemeindemitglieder stellten, zumal die meisten weder jüdisch sozialisiert waren, noch Deutsch sprachen! Aber dadurch gibt es auch heute eine neue sichtbare Vielfalt jüdischen Lebens. Und das sollte sichtbar gemacht werden, wenn über Jüdisches Leben gesprochen wird. Wird es aber nicht. Die Alteingesessenen waren hauptsächlich Shoah-Überlebende; und die „sowjetischen“ Jüdinnen und Juden haben ganz andere NS-Erfahrungen. Sie sahen sich nicht als Opfer, sondern als Sieger. Das hat das jüdische Berlin stark verändert.
Wenn Sie eine Ausstellung im JMB kuratieren würden – was würden Sie zeigen?
Mir wäre wichtig, die Arbeiten und das Wirken von Frauen zu zeigen, denn bekanntermaßen ist der Frauenanteil in den Schausammlungen im zeitgenössischen Bereich oder in Einzelausstellungen von zeitgenössischer Kunst noch immer sehr gering.
Ich würde mich beispielsweise freuen, die Werke der Stipendiatinnen der Stiftung Zurückgeben zu zeigen. Die Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft, bei der ich seit 2013 ehrenamtlich im Vorstand arbeite, gibt es seit 1994, und sie konnte in den letzten Jahren eine Vielzahl an Arbeiten fördern. Es wäre großartig, diese Bandbreite jüdischer Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Musikerinnen und Wissenschaftlerinnen in der einen oder anderen Form sichtbar zu machen.
Meine Fotos von den Interviewpartnerinnen, die im Rahmen des Projekts Jüdinnen nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven entstehen, würde ich natürlich auch gerne ausstellen. Die Fotos sind keine cleanen oder inszenierten Studioaufnahmen, sondern eher reportageartig aufgenommen, größtenteils mit natürlichem Licht. Sie könnten flankiert werden von Auszügen aus den Interviews mit den biographischen Daten und Lebensstationen der Frauen.
Und dann könnte ich mir vorstellen, eine Ausstellung mit Arbeiten der Künstlerin Shlomit Lehavi zu kuratieren. Durch ihre erste Ausstellung im Jahr 2012 in Berlin, die Installation Time Sifter, haben wir uns kennengelernt und ich bin stolz darauf, mit ihr verheiratet zu sein.
Also: Mehr Werke von Frauen – kurzgefasst. Das könnte doch eine große Sammelausstellung sein, bestehend aus den genannten Bereichen Jüdinnen nach 1945, Stiftung Zurückgeben und Arbeiten von Shlomit Lehavi. Und allein dafür bräuchten wir mindestens drei Räume im Museum.
Was sind die Herausforderungen der Stiftung Zurückgeben? Und vielleicht zugleich die Gründe für ihre Notwendigkeit?
Die größte Schwierigkeit oder Herausforderung in der Arbeit der Stiftung ist, Spenden einzuwerben. Denn es ist einfacher, Menschen davon zu überzeugen, für den Tier- oder Naturschutz zu spenden. Da erklärt sich die Spende von selbst. Eine Zuwendung an die Stiftung Zurückgeben ist schon wegen des Titels erklärungsbedürftig. Denn mit einer solchen Spende ist immer auch eine Auseinandersetzung nichtjüdischer Menschen mit der eigenen Familienbiografie verbunden. „Klar“, werden fast alle sagen, „klar bin ich gegen Antisemitismus, klar bin ich dafür, dass Werke aus ehemals jüdischen Besitzt restituiert werden müssen.“ Aber wenn es darum geht, dass man in der eigenen Biografie schaut, ist leider noch nicht ganz so viel passiert. Dabei ist es der Stiftung wichtig, dass es nicht um Schuldzuweisung geht, sondern um eine aktive Auseinandersetzung.
Und es geht, wenn wir um Spenden oder Zustiftungen bitten, um eine Ehrung des Wirkens jüdischer Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Frauenrechtlerinnen in Deutschland bis zu ihrer erzwungenen Migration, Flucht oder Deportation. Geprägt wurde der Name der Stiftung durch Marguerite Marcus, die eine der jüdischen Frauen war, die sich Anfang der 90er-Jahre mit ihrer Gründung beschäftigt haben. Im Angedenken an die Frauen, die es nicht mehr gab.
Warum Frauen? Gerade Frauen fehlt durch die zerstörten wirtschaftlichen Existenzen in den jüdischen Familien die Unterstützung durch Familienstrukturen, es fehlt der familiäre Support, der finanzielle Rückhalt. Die Stiftung Zurückgeben möchte heute auch ein Bewusstsein und eine Aufmerksamkeit dafür schaffen, dass viele Menschen während der NS-Zeit profitiert haben und dass das bis heute Nachwirkungen hat: Auch in der Dritten Generation hat man ein ganz anderes Standing, wenn der Groß- oder Urgroßvater eine Arztpraxis für einen Appel und ein Ei (salopp ausgedrückt) übernommen hat mit all dem instrumentellen Bestand; ganze Existenzen wurden damals auf öffentlichen Auktionen verscherbelt.
Die jüdischen Menschen dagegen, die aus dem Exil oder den Lagern zurückkehrten und sich bewusst dafür entschieden haben, in Deutschland zu leben, ob in Ost und West, standen vor den Trümmern ihrer Existenzen und mussten sie wieder aufbauen. Und von wegen Wiedergutmachung: Das war eine ganz entwürdigende Situation, die die Menschen da traf. Es musste ja bis auf jeden Pfennig nachgewiesen werden, was wo enteignet wurde, das dauerte alles Jahrzehnte oder wurde sowieso nie ausgezahlt. Und diese Diskrepanz reicht bis in heutige Generationen hinein.
Sie haben im Rahmen der Ausstellung Die ganze Wahrheit 2013 sechs Mal quasi als „lebendes Exponat“ teilgenommen, als Jew in the Box, eine nicht unumstrittene Aktion. Was waren dabei Ihre beeindruckendsten Erfahrungen? Würden Sie heute wieder daran teilnehmen? Was würden Sie wohl heute gefragt werden?
Also erstmal muss ich sagen, die Ausstellung war sehr gut, provokativ gemeint und genauso umgesetzt! Ich würde wieder daran teilnehmen, auf jeden Fall! Meine prägendste Erfahrung war die erste Frage, die mir überhaupt gestellt wurde. Sie kam von einem Ehepaar, beide zwischen 50 und 60, und der Mann sagte allen Ernstes: „Was ich schon immer mal wissen wollte: warum haben Juden denn so viel Einfluss?“ Ich dachte erst, der macht einen Scherz und will ein Gespräch darüber anfangen, wie es überhaupt zu solchen Klischeebildern komme, aber nein. Er meinte das total ernst. Nach dem ersten Schreck habe ich zurückgefragt, wo denn seiner Meinung nach dieser große Einfluss bestehe. Und, ohne dass er mich kannte oder wusste, was ich beruflich mache, hat er geantwortet: „in den Medien.“ Ich muss echt sagen, das fand ich schon schockierend.
Eigentlich befinden sich alle jüdischen Menschen im Alltag immerzu in so einer, wenn auch unsichtbaren, Box: Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass wir uns zu Israel äußern sollen und zu Expert*innen zu allen möglichen Themen, die das Judentum betreffen, werden müssen. Da ist die Box im JMB eigentlich eine Metapher für alle jüdischen Menschen in Deutschland.
Eine andere Frage war: Sind Kamele koscher? Ich wusste es in diesem Moment nicht! Es kamen kluge Fragen, von Menschen unterschiedlichsten Alters und Herkunft, die sich vorbereitet hatten oder auch nicht, die neugierig waren auf jüdisches Leben in allen Bereichen, auf jüdische Themen. Das gab ein gutes Bild von dem, was viele nichtjüdischen Menschen an Nichtwissen über das Judentum haben. Und gleichzeitig wurde klar, dass jüdische Menschen keine Expertinnen oder Experten sein müssen zu jedem jüdischen Thema.
Ich vermute, wenn die Ausstellung heute stattfinden würde, würden leider die gleichen Fragen kommen. Gleichzeitig glaube ich, dass jüdisches Leben seitdem viel mehr Eingang gefunden hat in die öffentliche Wahrnehmung, im öffentlichen Raum, durch viele Initiativen, die entstanden sind, aber auch durch viele Online-Formate, z.B. das Jüdische Quartett, das von Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung initiiert wurde, und das ich moderiere: Dort debattieren vier jüdische Frauen über Gesellschaft, Politik, Fremdzuschreibung, Selbstbestimmung, über Religion, Literatur und Philosophie. Das ist ein super Format. Damit erreichen wir ein Publikum, das Judentum bisher nur mit Shoah und Antisemitismus in Verbindung gebracht hat. Oder mit Männern mit Kippa und Schläfenlocken.
Viele meiner Projekte sind durchaus Reaktionen auf Antisemitismus, wie das ebenfalls von der Amadeu Antonio Stiftung geförderte Foto- und Interviewprojekt JETZT ERST RECHT! – STOP ANTISEMITISMUS, das ich nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019 ins Leben gerufen habe, um die Antisemitismus-Erfahrungen von Jüdinnen und Juden und deren Perspektiven und Strategien abseits der Statistiken abzubilden. Es gibt sehr viele Schnittmengen in meiner Arbeit und ich versuche immer, Themen und Menschen miteinander zu verbinden.
Unter dem Titel Wir lassen uns nicht trennen hat AVIVA den offenen Brief verschiedener jüdisch-muslimischer Organisationen und Bündnisse veröffentlicht, Bündnisse, die sich gegen anti-muslimischen Rassismus und Antisemitismus gleichermaßen aussprechen. Was bedeutet Ihnen persönlich dieser Brief und was erhoffen Sie sich davon?
Ich erhoffe mir von jeder Art und Weise von Dialog eine Wirkung und habe mich sehr gefreut, dass es hier ein Miteinander und kein Gegeneinander gab. Ich wünsche mir einen weiteren Fortbestand jüdischer und muslimischer Initiativen, die sich miteinander verbünden. Und ich würde hoffen, dass in den Medien in Deutschland mehr über solche Initiativen berichtet wird, z.B. auch über Women Wage Peace, das ist ein Zusammenschluss jüdischer-israelischer Frauen und arabisch-israelischer Frauen, die zusammen in Israel für Frieden demonstrieren.
Ich selbst habe im Jahr 2014 das Projekt Schalom Aleikum. Als Freundin hinzufügen ins Leben gerufen, ein Dialogprojekt zwischen jüdischen und muslimischen Frauen. Dafür habe ich unterschiedliche Frauen miteinander gematcht, zwei Künstlerinnen, zwei Wissenschaftlerinnen, zwei Abiturientinnen, zwei Pädagoginnen, zwei Künstlerinnen. Ich habe versucht, im Kleinen einen Dialog anzustoßen. Jetzt, im Jahr 2021, besteht immer noch Kontakt zwischen einigen Frauen und es haben sich sogar Freundschaften entwickelt, das freut mich sehr.
Der Brief kam genau zur richtigen Zeit. Es wäre schön gewesen, wenn der Brief in jeder deutschen Tageszeitung abgedruckt gewesen wäre.
Sie sind in Westberlin aufgewachsen. Was hat Sie besonders geprägt? Wie haben Sie die Wende erlebt?
Die Wende habe ich mit einem zwiespältigen Gefühl wahrgenommen. Weil ich die Möglichkeit eines Wiedererstarkens eines deutschnationalen Gefühls im Blick hatte, nicht nur durch die vielen wehenden Deutschlandfahnen.
So viele – vor allem deutsche – Fahnen kann ich immer ganz schlecht aushalten, da bekomme ich immer ein mulmiges Gefühl, dieses nationalistische Gebaren sehe ich auch bei Fußball-WMs oder ähnlichem skeptisch.
Die Menschen, die im Osten groß geworden sind, haben ja direkt mitbekommen, wie sich dieser Ruf „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind EIN Volk“ gewandelt hat und waren davon auch alarmiert.
Ich habe die Wende damals so erlebt, dass jüdische oder auch migrantische Perspektiven – bzw. Befürchtungen – auf die Öffnung der innerdeutschen Grenzen nicht abgebildet wurden. Das sehe ich auch heute noch so.
Das Interview führten Katharina Wulffius und Marie Naumann, Juni 2021
Zitierempfehlung:
Katharina Wulffius, Marie Naumann (2021), Die unbedingte Lust an der Debatte. Interview mit Sharon Adler.
URL: www.jmberlin.de/node/8079