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Vom Sammeln und Erzählen

Interview mit Julia Friedrich

Seit dem 1. März ist Julia Friedrich am Jüdischen Museum Berlin (JMB) die neue Sammlungs­direktorin. Sie studierte Kunst­geschichte und Jüdische Studien in Berlin, Pots­dam und Venedig und pro­movierte 2008 über Gerhard Rich­ters Graue Bilder. Von 2006 bis 2022 leitete sie die Grafischen Samm­lung am Museum Ludwig in Köln.

Liebe Frau Friedrich, Sie waren 17 Jahre lang am Museum Ludwig in Köln tätig. Was werden Sie ver­missen?

Köln liegt im Rhein­land, und hier war ich immer unter­wegs, vor allem um Aus­stel­lungen in der Gegend an­zusehen. Die Museums­dichte ist sehr hoch, das Niveau, auf dem künstle­risch und kurato­risch gearbeitet wird, auch. Brüssel, Amster­dam und Paris sind nur wenige Zug­stunden ent­fernt. Diese An­bind­ung wird mir fehlen.

„Eine Beschäftigung mit der jüdischen Perspektive, mit jüdischen Themen und Diskursen scheint mir da naheliegend und sehr ergiebig zu sein.“

Gibt es etwas, worauf Sie sich in Berlin besonders freuen?

Die breiten Straßen, der weite Himmel! Aber für mich ist der Um­zug nach Berlin auch eine Rück­kehr. Ich bin hier auf­gewachsen, habe hier studiert. Ich freue mich darauf, nach Hause zu kommen.

Sie haben Kunst­geschichte und Jüdische Studien studiert, leiteten die Grafische Samm­lung des Museum Ludwig und kura­tierten dort verschiedene Aus­stel­lungen, zuletzt Der geteilte Picasso. Was moti­viert Sie, sich jetzt wieder explizit jüdischen Themen zuzu­wenden?

Die Aus­stel­lungen, die ich zuletzt gemacht habe, hatten einen zeit­ge­schicht­lichen Aspekt. In der Otto-Freund­lich-Retro­spektive ging es um einen Künst­ler, der mit abstrakter Malerei politisch wirken wollte und 1943 als Jude ermordet wurde. Günter Peter Straschek hat in seiner WDR-Serie Film­emi­gra­tion aus Nazi­deutsch­land das Exil von Film­schaffenden aus Deutsch­land und Öster­reich unter­sucht, die meisten von ihnen waren Juden. Die Picasso-Aus­stel­lung handelt davon, wie sich die Deutschen in der Nach­kriegs­zeit sein Werk an­geeignet haben. Die Schoa ist deshalb ein Aus­gangs­punkt. Wir zeigen etwa das Besucher­buch von Auschwitz, in das sich Picasso ein­getragen hat, und weisen nach, dass Werke, in denen Picasso NS-Ver­brechen ver­arbeitete, in der BRD und in der DDR denk­bar unter­schiedlich auf­gefasst wurden. Ich denke, wer sich in Deutsch­land mit der Kunst des 20. Jahr­hunderts be­schäftigt, stößt un­weiger­lich auf dieses Thema, samt seiner großen Vor- und Nach­geschichte. Nehmen Sie die Debatte um die documenta, an der ich mich beteiligt habe. Eine Beschäfti­gung mit der jüdischen Per­spektive, mit jüdischen Themen und Dis­kursen scheint mir da nahe­liegend und sehr ergiebig zu sein.

Porträtfoto einer lächelnden Frau, die einen leuchtend blauen Pullover und eine schwarze Hose trägt: Sie schaut direkt in die Kamera, ihre Hände stecken locker in den Hosentaschen.

Julia Friedrich im Glashof des Museums, 2022; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Yves Sucksdorff

Sie haben am Museum Ludwig dafür gesorgt, dass die Her­kunft von Objekten systematisch unter­sucht wird. Die Provenienz­forschung ist ein Feld, das in einem jüdischen Museum einen eigenen Stellen­wert besitzt – welche besonderen Frage­stellungen sehen Sie hier?

Ich denke, es ist ein Unter­schied, ob ein jüdisches Museum seinen Bestand auf Raub­kunst unter­sucht oder eine nicht-jüdische Institution, die neben einem materiellen auch das symbolische Erbe der deutschen Mehr­heits­gesell­schaft angetreten hat. Ein jüdisches Museum, das seinen Auftrag ernst nimmt, solidarisiert sich mit den Opfern. Das ent­bindet nicht von einer genauen Prüfung jedes Falls. Aber es ver­pflichtet dazu, die Formel von der „fairen und gerechten Lösung“ ernst zu nehmen. Anders als sonst ver­handeln hier nicht die Erben der Räuber mit den Erben der Be­raubten. Das er­möglicht einen anderen Um­gang, der seinerseits viel­leicht nicht-jüdische Institutionen beein­flusst. Hier fragen wir: Wie konnte das passieren? Und nicht: Müssen wir das zurück­geben?

„Wenn das Publikum eine Samm­lung nicht in Gebrauch nimmt, das Gezeigte nicht auf seine eigenen Ver­hältnisse bezieht, lohnt sich das Sammeln kaum.“

Sie über­nehmen als Sammlungs­direktorin am JMB die Ver­antwortung für Archiv, Bibliothek, alle Samm­lungen sowie die Bereiche Restaurierung und Sammlungs­management. Was erwarten Sie als größte Heraus­forderung?

Das ist jetzt noch schwer zu sagen. Ich habe ja gerade erst ange­fangen. Aber ich freue mich sehr darauf, mit den Kolleg*innen gemein­sam zu über­legen, wie die Bestände noch mehr Sicht­barkeit bekommen können, wie wir sie noch deut­licher zum Sprechen bringen können. Wenn das Publikum eine Samm­lung nicht in Gebrauch nimmt, das Gezeigte nicht auf seine eigenen Ver­hältnisse bezieht, lohnt sich das Sammeln kaum. Für die größte Heraus­forderung halte ich deshalb, so zu sammeln und das Gesammelte so zu zeigen, dass sich eine Viel­zahl von Öffnungen ergibt, von Anknüpfungs­punkten. Und zwar jetzt und in Zukunft und ohne dass wir diesen Prozess genau steuern könnten oder wollten. Die Besucher*innen, möglichst alle, sollten eine Chance bekommen, eine Beziehung zum Gezeigten her­zu­stellen. Die Heraus­forderungen werden ganz konkret sein und immer wieder darin bestehen, Sammlungs­bestände, die von einer bestimmten Situation, einer bestimmten Gruppe von Menschen erzählen, für alle nutz­bar zu machen.

Das JMB hat über die Jahre seines Bestehens eine um­fassende Samm­lung auf­gebaut. Darunter finden sich auch Objekte und Zeug­nisse zu aktuellen Er­eignissen, wie die Foto­grafien zu Pessach in Corona-Zeiten, die das JMB über einen Samm­lungs­auf­ruf er­halten hat und die auf unserer Web­site präsentiert werden. Was bedeutet für Sie Sammeln in der heutigen Zeit?

Es ist immer schwierig, aktuell zu sammeln. Der zeit­liche Abstand hilft doch sehr, das Aussage­kräftige zu erkennen. Aber manch­mal hat man die Zeit einfach nicht, da muss man dann ein Risiko ein­gehen. Kürz­lich sah ich einen TV-Bericht über eine Restauratorin im Rheinischen Landes­museum Bonn, die eine Schaufel aus der Eifel-Flut präparierte. Liebe­voll festigte sie jede ver­krustete Schlamm­scholle, damit die Schaufel auch in 100 Jahren noch von der Flut künden kann. Das hatte etwas Tragi­komisches. Lohnt sich der Auf­wand? Ich glaube schon. Aber ich habe keine Ahnung, was die Menschen in 100 Jahren mit dieser Schaufel anfangen werden.

Das JMB Journal vom April 2022 trägt den Titel Traditionen: Welchen Stellen­wert hat im­materielles Kultur­gut für ein Museum?

Für ein jüdisches Museum wohl einen sehr großen, denn im Juden­tum hat doch gerade das im­materielle Erbe über Jahr­tausende Zusammen­hang gestiftet. Die Dauer­aus­stel­lung des JMB spiegelt das wider. Ich freue mich darauf, mit den Kolleg*innen weiter darüber nach­zu­denken, was man sammeln, was man zeigen kann.

„Ohne Digitali­sierung kommen wir nirgends mehr hin. Sie ist nicht Selbst­zweck, sondern ein Werk­zeug, ein überaus nütz­liches.“

Das JMB arbeitet an einer neuen Digital­strategie. Welche Heraus­forderungen und Chancen sehen Sie für Museen im Zusammen­hang mit der Digitali­sierung?

Ohne Digitali­sierung kommen wir nirgends mehr hin. Sie ist nicht Selbst­zweck, sondern ein Werk­zeug, ein überaus nütz­liches. Insofern sollten wir alles daran­setzen, eine ver­nünftige Stra­tegie im Hinter­grund zu ent­wickeln. Mit dem Ziel, Wissen zu er­schließen, klug aufzu­bereiten und damit Men­schen in der ganzen Welt zu erreichen. Auch solche, die sich eine Reise nach Berlin nicht leisten können oder die sich viel­leicht noch nicht über die Schwelle eines ver­meintlichen Hoch­kultur­tempels trauen.

Welche Art von Aus­stel­lungen wünschen Sie sich am JMB?

Ich komme aus einem Kunst­museum, und daher schätze ich Aus­stel­lungen, die einen künst­le­rischen Blick einnehmen. Damit meine ich nicht nur, dass Künst­ler*innen zu Aus­stel­lungen ein­geladen werden. Sondern auch, dass Exponate einen Eigen­wert behaupten, also nicht in ihrer Ver­mittlung auf­gehen, in dem, was sie er­klären sollen. Für wichtiger als die Er­klärung – oder den Sinn oder das Narrativ – halte ich die An­regung, selbst eine Er­klärung zu finden. Wenn Sie so wollen: das Akti­vie­rende. Dafür muss aber etwas offen bleiben. Ich wünsche mir einen leichten, experi­mentellen Um­gang, der auch mal Fehler erlaubt, dafür aber diese Offen­heit vermittelt.

Zitierempfehlung:

JMB (2022), Vom Sammeln und Erzählen. Interview mit Julia Friedrich.
URL: www.jmberlin.de/node/8635

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