Laudatio zur Verleihung des Dagesh-Kunstpreises 2023 an Maya Schweizer
Sehr geehrte Gäste,
liebes Dagesh-Team, liebe Freunde des Jüdischen Museums,
liebe Maya,
„Ich hatte Durst
Und ich entzifferte Keilschrift
Dann flogen plötzlich die Tauben des Heiligen Geistes über den Platz davon –
Und auch meine Hände flogen davon, rauschend wie Albatrosse
Und dies waren die letzten Bilder des letzten Tages
Der allerletzten Reise
Und des Meeres.“1
Das schrieb der Schweizer Dichter Blaise Cendrars in seinem Gedicht „Prose du Transsibérien“ vor ziemlich genau 110 Jahren. Ich las das Gedicht an meinem Schreibtisch mit Blick auf den Friedhof – ein oft vergessener Erinnerungsort – und dachte an das neueste Werk von Maya Schweizer, der Preisträgerin des heutigen Abends. Es ist ein Film, der aufblitzt und bei einem bleibt. Wie nah sind doch Cendrars vergangene Beschreibungen an Schweizers Film über zukünftige Erinnerungen.
Alle Angebote zur Ausstellung Maya Schweizer: Sans histoire
- Über die Ausstellung
- Maya Schweizer: Sans histoire – Ausstellung zum Dagesh-Kunstpreis 2023, mit Texten zu den ausgestellten Werken, 5. Mai bis 27. Aug 2023
- Begleitprogramm
- Artist talk – Shelley Harten im Gespräch mit Maya Schweizer, 6. Jul 2023
- Digitale Angebote
- Aktuelle Seite: Laudatio zur Verleihung des Dagesh-Kunstpreises 2023 an Maya Schweizer – von der Kuratorin Shelley Harten, 4. Mai 2023
- Siehe auch
- Maya Schweizer – Website der Künstlerin, auf Englisch
- The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts – Dagesh-Kunstpreis 2021
- Open, Closed, Open – Dagesh-Kunstpreis 2019
Sans histoire – so lautet der Titel der im Rahmen des Dagesh-Kunstpreises entstandenen Videoarbeit wie auch der Ausstellung hier im Jüdischen Museum Berlin. „Ohne Geschichte“ – und doch erzählt die Künstlerin bei einem ersten Treffen nach Verkündung des Preises von einem Roman: Die Schriftstellerin Annie Ernaux beschreibt in ihrer Autobiografie Les Années ohne Verwendung des Personalpronomens „ich“ ihr Leben anhand von Fotos, die nicht im Buch abgebildet werden. Nüchtern bemerkt sie:
„Alle Bilder werden verschwinden. … All die schummrigen Bilder der ersten Jahre, mit einem Sommersonntag als hellem Fleck, all die Träume, in denen die toten Eltern wieder leben oder man eine fremde Landstraße entlangläuft. … Reale oder imaginäre Bilder, die einen bis in den Schlaf verfolgen. Momentaufnahmen, beschienen von einem Licht, das allein ihnen gehört. … Sie alle werden mit einem Schlag erlöschen wie zuvor die Millionen Bilder im Kopf der Großeltern, gestorben vor einem halben Jahrhundert, wie die Bilder im Kopf der Eltern, die ebenfalls nicht mehr sind.“2
Maya Schweizer arbeitet in ihren Filmen mit assoziativen Bilderströmen, found footage, Collagen, Material aus ihrem eigenen Archiv und gesprochenen oder schriftlichen Zitaten. Angesichts der vielen Impulse, der Erinnerungsfetzen, die in ihren Arbeiten zusammenkommen, fällt es als Betrachterin schwer, die Kontrolle über das Gesehene abzugeben. Man ist versucht, eigene Narrative zu spinnen, sich an Geschichten zu erinnern, statt in den klaren Rhythmus der Künstlerin und ihrer filmischen Vorgabe einzustimmen. Es entsteht eine Spannung zwischen den, wie Schweizer sagt, mentalen und kinematographischen Bildern, die in Sans histoire im Stil des automatischen Schreibens aneinandergereiht, gebrochen, aber auch verbunden werden. Dem ersten Konzeptpapier für den gewonnen Wettbewerb stellt Schweizer ein Zitat aus Germaine Dulac’s L’art cinématographique voran: „Es war das Kino, das uns langsam einen neuen emotionalen Sinn offenbarte, der in unserem Unterbewusstsein vorhanden war und uns zu einem sensiblen Verständnis visueller Rythmen führte.“3
Die Wege, die man gedanklich aus den einzelnen Impressionen in Schweizers Werk weiterzieht, sind vielfältig und verzweigt, enden manchmal in der Sackgasse des eigenen Gedächtnisses. Es lohnt nicht, an Erinnerungsenden festzuhalten. Die Filme, so wird deutlich, besitzen einen eigenen Kompass. Maya Schweizer navigiert in ihrem Werk durch Orte der Erinnerung und folgt mit ihrer Kamera Spuren des Vergessens. Oft tastet sie Räume visuell ab: Die Stadt, der Park, das Zimmer, der Garten, das Meer werden zu Behältnissen für unterbewusste Eindrücke, die durch die künstlerische Aufmerksamkeit sichtbar werden.
Mit Sans histoire beschäftigt sich Maya Schweizer im Jüdischen Museum Berlin mit dem Ausstellungsort selbst als Ort der Erinnerung. Anstatt die vom Museum vorgegebenen thematischen Pfade abzulaufen, hinterfragt die Künstlerin generelle Mechanismen des Bewahrens, des Speicherns von Wissen in einem Zeitalter der Informationsflut und gleichzeitigen kulturellen Amnesie.
Der Sozialanthropologe Paul Connerton beobachtet, wie die Gesellschaft versucht, diesem Paradox mit der Schaffung von Denkmälern und Museen zu entfliehen.4 Ein häufiger Topos in Maya Schweizers Arbeiten ist die Einbettung von Gedenkorten in ihren alltäglichen Kontext – was passiert mit diesen Orten, wenn das bewusste Erinnern in den Hintergrund rückt?
Schweizer setzt der vom Kunstpreis gestellten Frage „Was jetzt? Von Dystopien zu Utopien“ ein offenes „ohne Geschichte“ entgegen. Sie konfrontiert ein ständig in der Gesellschaft mitschwingendes Unbehagen, ausgelöst durch aktuelle Katastrophen und die Furcht vor einem potentiellen Ende der Zivilisation. Sie geht auf Ängste, aber auch Hoffnungen der Vergänglichkeit ein, die sowohl das Museum als unmittelbaren Standort als auch große gesellschaftliche Prozesse betreffen: Was passiert, wenn Erinnerung vor historischen Umwälzungen, vor der Klimakatastrophe oder letztlich der Endlichkeit menschlicher Existenz verblasst? Wirkt sich die Vergangenheit noch auf die Zukunft aus? Wird eine gemeinschaftlich einsetzende Amnesie durch ein digitales Einspeichern aufgehalten oder gefördert?
In einem Wechsel von bedrohlichen und befreienden Impulsen erkundet die Künstlerin in ihrem neuen Film trans- und posthumane Szenarien. Die Ausstellung zeigt insgesamt vier Filme und bettet Sans histoire in Maya Schweizers langjährige Beobachtungen individueller und kollektiver Erinnerung ein, wobei das Vergessen von der Künstlerin immer inhärent mitgedacht wird.
Die Präsentation beginnt mit L’étoile de mer von 2019. „Der Seestern“ führt in Schweizers experimentelle filmische Methode ein. Die Künstlerin taucht mit den Betrachtenden in ein Gedächtnismeer, das sie als assoziative Montage von Filmausschnitten aus dem eigenen Archiv und der Filmgeschichte mit eingeblendeten Texten und Toncollagen zusammensetzt.
Sigmund Freud beschrieb 1901, wie das wache Denken den Traum als fremdartig beiseiteschiebt, in der Erinnerung verstümmelt oder auslöscht.5 Schweizer hinterfragt diese Trennung und erzeugt Beziehungen zwischen mentalen und filmischen Bildern. Sie begeht durch das Medium des Films das Meer als Traumwelt, in der das Vergessene ebenso erfahrbar wird wie das Erinnerte.
Immer wieder bezieht Schweizer Aufnahmen von Wasser in ihre Werke ein – ein universelles Sinnbild für Vergänglichkeit, das Vergessen, aber auch die Erneuerung. In der jüdischen Tradition findet beispielsweise die rituelle Waschung in der Mikwe – einem natürlichen Gewässer – nach Kontakt mit dem Tod statt. Auch in Sans histoire reißen Wellen und Strömungen das Gezeigte mit sich, entledigen sich der Bilder und ebnen den Weg für neue.
Darstellungen von Booten können als zerbrechlicher Versuch gedeutet werden, durch den Gedankenstrom zu navigieren. Die Boote erinnern an die Geschichte der Arche Noah, Thema des Kindermuseums auf der anderen Straßenseite und Nachfolger der ersten, präbiblisch dokumentierten Geschichte der Menschheit: dem Gilgamesch-Epos. Das Epos handelt vom gleichnamigen sumerischen König und seiner Suche nach Unsterblichkeit.6 Aber vielleicht ist das eine Sackgasse?
Maya Schweizer verwandelt das Zwischengeschoss des Libeskind-Baus – die architektonische Mitte des Museums – in einen begehbaren Wachtraum der sammelnden Institution.
Mit der Arbeit Manou, La Seyne sur Mer von 2012 fügt Schweizer dem Erinnerungskoloss Jüdisches Museum eine weitere konkrete Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte hinzu. Die Künstlerin befragt in dem Film ihre Großmutter nach dem Alltag im Pflegeheim – ein Gespräch dem die Betrachtenden wie einer archivierten Dokumentation per abgefilmter Schreibmaschinenschrift folgen. Den angeleiteten Bewusstseinsstrom unterbrechen Fotos aus dem Zimmer der Großmutter im Heim. Maya Schweizer hält Erinnerungen fest und reflektiert zugleich ihre Halterung.
Die Künstlerin setzt ihre Filme gekonnt in die Diagonalen der Architektur des Libeskind-Baus ein und aktiviert den Bereich zwischen der Haupttreppe des Museums, die zur Dauerausstellung führt, und dem Memory Void, der an die durch den Holocaust in Deutschland entstandene Leere erinnert. Es ist bezeichnend, dass auch im Museum der symbolische Ort der Erinnerung keine Geschichten erzählt. Sans histoire wird hier zu einem Gedenkort an die Erinnerung und zu einem Mahnmal des Vergessens.
Der in der Ausstellung gezeigte Film Voices and Shells von 2020 fängt das Ungesehene auf eine völlig andere Art ein und zeigt Spuren des kollektiven Vergessens. Die Kamera leitet aus der Kanalisation Münchens, dem dunklen, fließenden Untergrund, an die taghelle, solide Stadtoberfläche. Dort tastet sie Fassadenteile ab und deckt Spuren der nationalsozialistischen Geschichte der Stadt auf.
Stimmen sind hörbar, die sich mit dokumentarischem, selbst produzierten und gefundenem Bildmaterial abwechseln. Das Motiv der Spirale wiederholt sich und symbolisiert einen zeitlichen Wirbel und eine Wiederkehr, die Erinnerungen transportiert, aber auch verhüllt.
Wer die Ausstellung besucht, wird entdecken, dass räumliche Bewegungen aus dem Film zufällig einer Choreografie des Besuchs im Jüdischen Museum entsprechen. Um zur Ausstellung zu gelangen, geht man von dem hellen Altbau, in dem wir uns hier zur Preisverleihung befinden, unterirdisch durch einen dunklen Übergang in den Neubau, orientiert sich in den Achsen des Untergeschosses bis zur großen Haupttreppe, die ans Licht führt und nach Erklimmen eines Stockwerks einen spiralförmigen Ausstellungsrundgang offenlegt.
Begleitet von Stimmen und Sätzen, die in dem Strudel von Assoziationen als Anker und Wegweiser dienen, entsteht auch in dem neuen Film Sans histoire ein rhythmischer Bildwechsel von Tag und Nacht, Natur und Technik. Darstellungen von technisierten Zukunftsvisionen, echt wirkenden Robotermenschen, apokalyptisch anmutenden Nachtaufnahmen von Tieren und Bilder von exzessiv tanzenden und von flüchtenden Menschen benennen ein Unwohlsein und erinnern an eine unterbewusst mitschwingende Endzeitstimmung. Meeresaufnahmen und sich schlafend räkelnde See-Elefanten, eine pollenumhüllte Hummel, kichernde Ziegen und Marslandschaften beruhigen wiederum. Zuweilen stellt die Künstlerin tierische Eigenschaften des Menschen bloß oder weist auf einen archaischen Zustand hin, in dem der Mensch überflüssig ist. Es entstehen formale Brüche, die eine Narration – eine Geschichte – verhindern und auch das Erinnern erschweren. Dystopien und Utopien wechseln einander ab.
Im Jüdischen Museum Berlin, einem Zentrum der Erinnerung, spricht Maya Schweizer vom Vergessen als einer vom Menschen bedingten Realität. In der jüdischen Tradition ist wiederum die ritualisierte Beschäftigung mit der Geschichte ein unersetzlicher Bestandteil der kollektiven Identität. So ist beispielsweise jeder Feiertag an ein historisches Ereignis geknüpft, und die Hoffnung auf Erlösung wird jährlich mit dem Satz bestätigt: „Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.“
In diesem Zusammenhang mag Schweizers Vorschlag Sans histoire als Ausweg aus dem ewigen Zirkel der ritualisierten Erinnerung gedeutet werden. Und doch ist auch die Umkehrung, auf Hebräisch Hipuch, mit jüdischen Vorstellungen der Endzeit verbunden – einer Zeit der Krise vor dem Eintreffen des Messias, dem das Karnevalsfest Purim gewidmet ist. Was jetzt? Falls die Erlösung eintritt, so endet die Geschichte. Und was uns bleibt ist „sans histoire“.
Dr. Shelley Harten, Kuratorin und Laudatorin für Maya Schweizer bei der Verleihung des Dagesh-Kunstpreises im Jüdischen Museum Berlin am 4. Mai 2023
- Zitat aus Blaise Cendrars, Die Prosa von der Transsibirischen Eisenbahn und der Kleinen Jehanne von Frankreich, aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn, Basel: Lenos 1998 (1913), S. 19. ↩︎
- Annie Ernaux, Die Jahre, aus dem Französischen von Sonja Finck, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 12-13. ↩︎
- Germaine Dulac: L’art cinématographique, 1927, deutsche Version des Zitats übernommen aus dem Konzept von Maya Schweizer für den Dagesh-Kunstpreis 2023. ↩︎
- Paul Connerton, How Modernity Forgets, Cambridge UK: Cambridge University Press 2009. ↩︎
- Sigmund Freud, Über den Traum, 1901, in: Sigmund Freud, Über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt am Main: Fischer Bücherei des Wissens 1971, S. 11. ↩︎
- Das Gilgamesch-Epos, übersetzt, kommentiert, herausgegeben von Wolfgang Röllig, Ditzingen: Reclam 2021. ↩︎
Zitierempfehlung:
Shelley Harten (2023), Laudatio zur Verleihung des Dagesh-Kunstpreises 2023 an Maya Schweizer.
URL: www.jmberlin.de/node/9985