Einlass steht aus
Kafkas Judentum
„Es ist möglich, jetzt aber nicht“
,1 sagt der Türhüter in Vor dem Gesetz zum Mann vom Lande, der am Eingang zum Gesetz angekommen ist und um Einlass bittet. Der Protagonist in Kafkas meistgedeutetem Prosatext gehorcht und wartet Tage und Jahre vor diesem Tor. Dort verbringt er sein Leben in der Hoffnung auf Einlass und Aufnahme, auf Erkenntnis, Offenbarung, Gerechtigkeit oder Erlösung. Er verbringt es im Gespräch, als Harrender und Hoffender, als Beobachtender und Fragender: Er verhandelt und verflucht, bittet und besticht, er studiert und spekuliert bis an sein Lebensende. Die Szene der Begegnung des Türhüters mit dem Mann vom Lande ereignet sich an einem Ort und in einer Zeit, die weitgehend Kafkas Betrachtungen über jüdisches Dasein unterliegen: Es ist der Ort der Schwelle und die Zeit des Aufschubs.
Die Versuche, einen Zugang zum Wesen von Kafkas Verhältnis zum Judentum zu finden, sind so zahlreich, dass der überzeugendste Weg kaum auszumachen ist. Dies liegt ebenso an Kafkas eigenen, schwankenden und verschlüsselten Aussagen über Juden und Judentum wie an der Vielfalt der Deutungsansätze, die sich in den über hundert Jahren seiner Rezeption entwickelt haben. Die Gretchenfrage, wie Kafka es mit dem Judentum hält, steht im Mittelpunkt der frühen Deutungen seines Werks, etwa bei Max Brod, Felix Weltsch, Margarete Susman, Martin Buber, Walter Benjamin und Gershom Scholem. Gerade die Undurchsichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Kafkas Ausführungen über seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Juden, zum Messianismus und Zionismus, zur jüdischen Tradition, ihren Ritualen und Gesetzen, zur akkulturierten Lebensform der Westjuden, zum ostjüdischen Theater und zur jiddischen Sprache inspirierten die vielfachen Interpretationen dieser Denkerinnen und Denker. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Auffassungen von Kafkas Haltung zum Judentum sehen viele in ihm einen Propheten der jüdischen Existenz im 20. Jahrhundert.
Nachdem Kafka in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist existenzialistisch und universalistisch gelesen wurde, interessieren sich neuere Interpretationen in zunehmendem Maße für sein Verhältnis zum Judentum. Sie stellten dieses Verhältnis zumeist im Sinne eines Grenzbereichs und einer Zwischenzeit in biografischer, historischer und kultureller Hinsicht dar. Ob als paradigmatischer jüdischer Paria, der keiner Gemeinschaft wahrlich zugehört, oder als scheiternder Wahrheitssucher, der, wie einer seiner Protagonisten, sehnsüchtig am Fenster sitzt und vergeblich auf die Botschaft des göttlichen Kaisers wartet, ob als zaghafter Zionist, der, wie Moses, das gelobte Land nie betreten wird oder als Luftmensch, dem die Grundlagen der jüdischen Tradition abhandengekommen sind, ohne einen neuen Boden gefunden zu haben: Franz Kafka wurde zum Inbegriff des orientierungslosen Großstadtmenschen, zum archetypischen Heimatlosen und Unbehausten, zum umherirrenden und nie ankommenden Individuum in der Moderne.
In der jüngsten Rezeption sind allerdings nicht nur immer genauere biografische und kulturgeschichtliche Recherchen zu Kafkas jüdischer Umwelt in Prag oder Deutungen auffallend, die kabbalistische Verweise in seinen Schriften aufdecken, sondern auch Interpretationen, die Kafkas Distanz zur jüdischen Religion unterstreichen. Die Rede ist dann von Häresie, Gnosis, Markionismus, Paulinismus, inverser oder negativer Theologie oder „Atheologie“.2 Kafkas zweifellos idiosynkratische Einstellung zum Judentum wird in diesen Interpretationen als Abweisung einer als legalistisch und weltfeindlich, repressiv und autoritär betrachteten Religion ausgewiesen. Eine Hinwendung zu Stellen in seinen Texten, in denen er sich auf die jüdische Texttradition und Exegese, auf die Hebräische Bibel und den Talmud bezieht, ergibt ein anderes Bild. Auch dort ist von einer erfolgreichen Suche, einer erfüllten Hoffnung oder einem Ankommen im ersehnten Land kaum die Rede, doch erweist sich der verfehlte, verweigerte oder verwehrte Zutritt nicht unbedingt als Scheitern, sondern als Vorstellung einer durchaus weltbejahenden jüdischen Lebensform.
Diese ist bereits in Vor dem Gesetz angelegt. Die Antwort des Türhüters auf die Bitte um Einlass und die Konsequenzen, die der Mann vom Lande aus ihnen zieht, können in vieler Hinsicht als Urszene seines Verhältnisses zum Judentum gelesen werden. Wie vielfach bemerkt wurde, ist der „Mann vom Lande“ eine Übersetzung des hebräischen Worts Am Ha’aretz, die Bezeichnung einer Person, die des Gesetzes unkundig ist. Dass der Am Ha’aretz wegen seiner Unwissenheit außerhalb des Gesetzes steht, rückt ihn implizit in einen Gegensatz zum Talmid Chacham, zu jenem, der das Gesetz studiert. Allerdings bleibt dahingestellt, ob auch der Talmid Chacham in das Gesetz eintreten würde. Vielleicht kann nur ein Unkundiger des Gesetzes in das Gesetz eintreten wollen; einer, der nicht weiß, dass der Zugang zum Gesetz nicht in einem solchen Zutritt besteht, einer, der nicht begreift, dass das unendliche Studium in der talmudischen Tradition die Begegnung mit dem Gesetz selbst ist. Als Kundiger des Gesetzes würde er den talmudischen Spruch „Tzedek, Tzedek Tirdof“ („Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, strebe nach ihr!“) kennen. Nach dem Gesetz soll man streben, aber in diesem Spruch ist auch impliziert, dass es nicht vollends erreicht und erfüllt werden kann. Der endgültige Eintritt bleibt aus.
Der unerfüllte Augenblick
„Ich bin Ende oder Anfang.“
3 Mit diesen Worten verortet Kafka sich und seine Zeit in einem Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Als Umkehrung der Offenbarung – „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der An
fang und das Ende“
(Offenbarung 22,13) – unterläuft Kafkas Diktum den Totalitätsanspruch und die Gewissheit dieses christlichen Credos. Kafkas Ausspruch ist allerdings weder eine einfache Umkehrung noch eine Negation desselben. Indem er das „Und“ durch ein „Oder“ ersetzt, vermittelt er eine Ungewissheit in Bezug auf seine Gegenwart und damit implizit auch seine Auffassung von Gegenwart überhaupt als etwas Unabgeschlossenes. Er ruft einen Modus der Ungewissheit auf, der dem Ende seine Endgültigkeit und dem Anfang seine Grundlage nimmt. Indem er den Zweifel als oszillierende Bewegung in das Intervall zwischen Ende und Anfang einführt, entwirft er eine Vorstellung von Gegenwart, die nicht nur jegliche Ganzheit unterwandert, sondern den Augenblick an der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft offenhält.
Søren Kierkegaard, auf den Kafka in seinem Tagebuch wiederholt verweist, bezeichnete das Jüdische Volk als das unglücklichste, da es sich zwischen Erinnerung und Erwartung befinde, also zwischen „zwei unerfüllten Gegenwarten“.4 Kierkegaards Kritik geht auf einen der fundamentalsten Unterschiede zwischen Judentum und Christentum zurück. Während das Judentum durch das Gebot geprägt ist, sich an die Vergangenheit zu erinnern und auf einen Messias zu warten, der noch kommen wird, birgt das Christentum, für das der Erlöser bereits eingetroffen ist, die Erfahrung einer „Fülle der Zeit“, eines Moments, der einmal stattgefunden hat und der sich in jedem Glaubensbekenntnis wiederholt. Jüdischem Denken fehlt die christologische Idee des Pleroma, wörtlich der „Fülle“, in dem die Zeit erfüllt und gewissermaßen vollendet ist. Die daraus erfolgende Figur – eine aufgeschobene, unvollkommene und unvollendete Gegenwart – wird dabei allerdings nicht als Ursache des Unglücks betrachtet, sondern als Möglichkeit einer lebendigen Weltzuwendung. Zwar bleibt das ersehnte, gebotene oder angestrebte Ziel unzugänglich, doch an dessen Schwelle eröffnet sich das Potenzial eines Spielraums, in dem sich der wartende, fragende, studierende und hoffende Seinsmodus des Mannes vom Lande vor dem Gesetz entfaltet. Dieser beruht auf der Idee einer fehlerhaften und unerfüllten, aber gerade daher sinnhaften menschlichen Existenz.
Moses am Sinai
In Kafkas Tagebuch findet sich der lapidare Eintrag: „Nur das Alte Testament sieht – nichts darüber noch zu sagen.“
5 Gesagt hat Kafka darüber tatsächlich nicht sehr viel, doch inszenieren gerade seine Texte, die auf biblische Motive und Figuren verweisen, eine auffallende Bejahung der Welt aus dem Geiste des Judentums. Ein Fragment aus Kafkas Notizbüchern, später unter dem Titel Vom Scheintod bekannt, zeigt anschaulich, wie Kafka einen biblischen Moment heraufbeschwört, in dem der Höhepunkt der jüdischen Ursprungsvorstellung, Moses’ „Begegnung“ mit Gott auf dem Berg Sinai, als Schwellenerfahrung dargestellt ist:
„Wer einmal scheintot gewesen ist, kann davon Schreckliches erzählen, aber wie es nach dem Tode ist, das kann er nicht sagen, er ist eigentlich nicht einmal dem Tode näher gewesen als ein anderer, er hat im Grunde nur etwas Besonderes ‚erlebt‘ und das nicht besondere, das gewöhnliche Leben ist ihm dadurch wertvoller geworden. Ähnlich ist es mit jedem, der etwas Besonderes erlebt hat. Moses zum Beispiel hat auf dem Berge Sinai gewiß etwas „Besonderes“ erlebt, aber statt sich diesem Besonderen zu ergeben, etwa wie ein Scheintoter, der sich nicht meldet und im Sarg liegen bleibt, ist er den Berg hinunter geflüchtet und hatte natürlich Wertvolles zu erzählen und liebte die Menschen, zu denen er sich geflüchtet hatte, noch viel mehr als früher und hat dann sein Leben ihnen geopfert, man kann vielleicht sagen, zum Danke. Von beiden aber, vom zurückgekehrten Scheintoten und vom zurückgekehrten Moses kann man viel lernen, aber das Entscheidende kann man von ihnen nicht erfahren, denn sie selber haben (es) nicht erfahren. Und hätten sie es erfahren, so wären sie nicht mehr zurückgekommen. Aber wir wollen es auch gar nicht erfahren.“6
Kafka stellt eine Analogie zwischen der schrecklichsten und der erhebendsten Erfahrung her – der Konfrontation mit dem Tod und der Begegnung mit Gott – und reflektiert das Verhältnis zwischen diesen Erfahrungen und dem gewöhnlichen Leben. Paradoxerweise veranlassen beide „verfehlten“ Begegnungen mit dem Absoluten das Individuum, sich der Welt zuzuwenden, statt sich in Angst oder Ehrfurcht dem Jenseits zu ergeben. Beide Erfahrungen münden in eine Intensivierung des Bezugs zum Alltäglichen. Obwohl – oder gerade weil – keine der beiden Begegnungen gänzlich erreichbar und erlebbar ist, haben jene, die sie erfahren haben, „Wertvolles zu erzählen“, und dieses Erzählte – Geschichten oder Texte – und die gesteigerte Zuwendung zum weltlichen Leben sind implizit miteinander verbunden. In beiden Fällen unterstreicht Kafka die Spannung zwischen der Anziehungskraft eines unnennbaren Absoluten, das sich einerseits der Darstellung entzieht, das Alltägliche sprengt und die menschliche Vorstellungskraft übersteigt und andererseits einem auf das Verständliche und Konkrete gerichteten Humanisierungsimpuls, der die unvollkommene Vielfalt der gewöhnlichen Welt bejaht. Der Überlebende, der nur beinahe dem Tod begegnet ist, und Moses, der nur beinahe Gott begegnet ist, kehren aus dem Abgrund beziehungsweise den himmlischen Höhen mit Geschichten über ihre Erfahrung an der Schwelle zur anderen Welt in das Diesseits zurück. Den Ertrag dieser Erfahrungen schreibt Kafka nicht so sehr ihrer Nähe zum Jenseits zu als vielmehr ihrer Bedeutung für das gewöhnliche Leben. Dass die Epiphanie – des Todes oder der Offenbarung – nicht erreicht und nicht dargestellt wird, ja dass sogar ungewiss bleibt, ob eine Begegnung mit dem Jenseits überhaupt stattgefunden hat, bleibt in der Struktur der Erzählung erhalten. Besonders die Begegnung Moses’ mit Gott, von dem er auch in der ursprünglichen Offenbarungsgeschichte lediglich den Rücken sieht, bestätigt die biblische Darstellung. Was Moses von der Schwelle zum Himmelsreich in die Welt zurückbringt, ist die Torah als Zeichen von Gottes Zuwendung zum Menschen, als Anweisung für das Leben und als Objekt endlosen Studiums.
Abraham vor dem Berg Moria
Ein ähnlicher Impuls wie in Vom Scheintod äußert sich in Kafkas Vorstellung eines „andern Abraham“. „Ich könnte mir einen andern Abraham denken.“
7 Dieser erste Satz eines Briefs, den Kafka im Juni 1921 an Robert Klopstock schreibt, ist eine implizite Antwort auf seine Lektüre von Kierkegaards Überlegungen zum biblischen Urvater und der Opferung Isaaks in Furcht und Zittern. Für Kierkegaard ist Abraham ein „Ritter des Glaubens“,8 der sich Gott unterwirft. Kafkas Vorstellung eines „andern Abrahams“ verweigert hingegen diesen Gehorsam:
„Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der – freilich würde er es nicht bis zum Erzvater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler – der die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustande brächte, weil er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne dass sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: ‚er bestellte sein Haus‘ […] Am andern Tag: noch viel über diesen Abraham nachgedacht, aber es sind alte Geschichten, nicht mehr der Rede wert; besonders der wirkliche Abraham nicht, … Anders die oberen Abrahame, die stehn auf ihrem Bauplatz und sollen nun plötzlich auf den Berg Moria ... Bleibt also nur der Verdacht, dass diese Männer absichtlich mit ihrem Haus nicht fertig werden … um [ihr Gesicht] nicht heben zu müssen und den Berg zu sehn, der in der Ferne steht.“9
Kafka denkt sich einen Abraham, der nicht auf den Berg Moria geht, um dort seinen geliebten Sohn zu opfern. Wie der biblische Patriarch ist Kafkas „anderer Abraham“ ein frommer Mann, der „das Opfer doch nicht zustande brächte“.10 Abraham argumentiert in einer imaginären Antwort an Gott, dass er „von zuhause nicht fortkann“, weil er dort unentbehrlich ist. Kafka führt Abrahams Ausflüchte dafür an, dass er die Befolgung von Gottes Befehl möglicherweise später, also erst nach Fertigstellung seines Hauses, ausführen wird, „jetzt aber nicht“: Sein „anderer Abraham“, der nunmehr im Plural steht, ist zu einer existenziellen Haltung geworden: Die „oberen Abrahame, die stehn auf ihrem Bauplatz und sollen nun plötzlich auf den Berg Moria“.11 Ein empörtes Ausrufungszeichen wird hier hörbar: Diese Abrahame werden von Gott gerufen, während sie sich doch um ihr Haus kümmern müssen! Die göttliche Verfügung erreicht sie inmitten ihrer Sorge um dieses Haus, um ihre Wirtschaft, ihre Lebenswelt, und es wird ihnen jetzt befohlen, all dies aufzugeben, um im Dienste Gottes auf den Berg zu gehen und das Opfer zu vollbringen! Sosehr Kafkas „andere Abrahame“ auch willens gewesen wären, zu gehorchen, sie sind zu sehr mit ihrem „Bauplatz“ beschäftigt, um Gottes Ruf zu folgen und schieben den Opfergang auf. Der letzte Satz von Kafkas Vorstellung eines „andern Abrahams“ bietet eine Erklärung für diesen potenziell endlosen Aufschub. Sich auf seine „anderen Abrahame“ beziehend, die der Einladung des Rufs zur Opferung widerstehen, weil sie sich um ihr Haus kümmern müssen, spekuliert Kafka: „Bleibt also nur der Verdacht, dass diese Männer absichtlich mit ihrem Haus nicht fertig werden … um [ihr Gesicht] nicht heben zu müssen und den Berg zu sehn, der in der Ferne steht.“12
Abrahams Behauptung, dass es in seinem Haus immer noch etwas gibt, um das man sich kümmern muss, legt eine Analogie mit Kafkas eigener Schreibweise nahe. Könnte dieses Haus – kein wirkliches Zuhause, sondern eher ein unendlicher Bau – nicht gerade etwas sein, das der Bibel und ihren endlosen Auslegungen, oder, vielleicht noch mehr, wie Walter Benjamin suggeriert, dem Talmud selbst ähnlich ist? Dieser potenziell endlose Text mit seinen minutiösen Anweisungen für den Alltag und seinen unendlichen Überlegungen über den Aufbau der Welt des einfachen Menschen würde dann doch dem heimatlosen Menschen eine Wohnstätte bieten. Und vielleicht sogar seine Furcht und sein Zittern verringern. Denn genau wie Kafkas Abraham würde sein endloses Studium – genau wie Kafkas unendliches Schreiben – es ihm ermöglichen, dem auszuweichen, was ihn erwartet, wenn er die Augen hebt und nichts als den „Berg in der Ferne“ anstarrt, diesen furchteinflößenden Ort des Martyriums und des Opfers. Es ist genau dieses Verständnis des im Talmud ausgeführten biblischen Gebots, das den Menschen, entgegen der Auffassung des Apostels Paulus, nicht zu elenden, zitternden Sündern macht, sondern zu Welterbauern – oder eben zu Autoren, die unvollendete Erzählungen schreiben und sich Abrahame vorstellen, die ihr Haus absichtlich nicht fertigstellen.
Der Turm und die Stadt
Wie Kafkas Texte über Moses’ und Abrahams verfehlte oder vermiedene Gottesschau, befasst sich auch seine Version der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel in seiner kurzen Erzählung Das Stadtwappen mit der Beziehung zwischen Transzendenz und Immanenz.13 Und wie in den beiden anderen Texten wird der Drang, das Himmelreich zu erreichen, umgelenkt und auf die Welt gerichtet. Der biblische Turmbau ist ein in jeder Hinsicht erhabenes Vorhaben – ein Streben, das Erhebung bis hinauf in den Himmel bedeutet. Es scheitert kläglich: Der Turm wird nicht fertiggestellt, die Stadt wird verlassen, das Vorhaben mündet in Zerstreuung und Zersplitterung und markiert damit gewissermaßen den wahren Beginn der Menschheitsgeschichte. Meist wird der biblische Text dahingehend interpretiert, dass das monumentale Projekt der Menschen an der göttlichen Strafe scheitert: Gott betrachtet das Vorhaben als Hybris oder als Versuch, ihm zu nahe zu kommen, sich mit ihm zu messen oder ihn zu ersetzen, als Rebellion gegen sein Gebot, die Erde zu bevölkern und sich über sie auszubreiten.
Kafkas Erzählung weist offensichtliche Parallelen zur biblischen Geschichte auf, aber auch Abweichungen davon: In beiden Texten symbolisiert der Turmbau das Streben, den göttlichen Himmel zu erreichen. In beiden scheitert dieses Vorhaben. Doch in der Bibel verhindert Gottes Strafe den Erfolg des Unterfangens, bei Kafka hingegen die Untätigkeit der Menschen. Kafka, so scheint es, erzählt seine Geschichte als Inversion des Originals: In der Bibel wird der Turmbau so schnell und ungeduldig vorangetrieben, dass Gott ihm beunruhigt ein Ende setzt. Bei Kafka wird der Bau immer weiter hinausgezögert und nicht zu Ende geführt: Das Vorhaben wirkt zunehmend sinnlos, wird schließlich aufgegeben und vergessen. Kafka verkehrt in seiner Neuschreibung der biblischen Geschichte vom übersteigerten menschlichen Ehrgeiz in einen Gründungsmythos für die Akzeptanz der unausweichlichen Beschränkung und Unzulänglichkeit des menschlichen Vorhabens. Er transformiert den Mythos vom angestrebten und gescheiterten Erreichen des Himmels durch den Turmbau in eine Archäologie menschlicher Gemeinschaft. Zwar wird bei Kafka der Bau allmählich aufgegeben, doch gleichzeitig entsteht eine horizontale Struktur: eine unvollkommene Menschheit, die sich abmüht, zankt, miteinander wetteifert und kämpft, dabei aber auch miteinander bestehen bleibt.14 Der Aufbau der Stadt ist sicher mangelhaft und von Misstönen geprägt. Dennoch steht diese Deutung von Kafkas Erzählung gegen eine nihilistische Lesart des verfehlten Himmelssturms. Sie bauen zwar nicht den Turm, stattdessen aber eine zwar unvollkommene, aber dennoch lebendige städtische Gemeinschaft. Die Turmbauer waren, so heißt es in der Erzählung, „zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen“.15 Das Erreichen des Himmels wird ersetzt durch diese zerstrittene, aber verflochtene Menschheit, die im Schatten oder vielmehr mit der erinnerten Idee des unvollständigen Turms zusammenlebt. Gewiss steht am Ende kein Ankommen ans Ziel, doch die Erzählung legt nahe, dass gerade das Aufgeben des Himmelssturms die Stadt mehr schlecht als recht, doch dabei ganz und gar menschlich zusammenhält.
Der aufgeschobene Messias
In seinem Essay von 1959, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“,16 charakterisiert Gershom Scholem die jüdische Existenz als „ein Leben, das in Aufschub gelebt wird, in dem nichts endgültig getan und nichts unwiderruflich vollbracht werden kann“.
17 Ob dies als Kritik an mangelnder Teilnahme von Juden am geschichtlichen Geschehen oder als Bekräftigung ihres Bewusstseins einer unerlösten Menschheit gedacht ist, ist umstritten. Scholem führt diesen Modus auf die messianische Idee im Judentum zurück, die sich ebenso nach Erlösung sehnt, wie sie sie in Schach hält: „Das vermeintlich unendliche Bedürfnis, das Kommen des Endes zu verhindern“ ist für Scholem sowohl „die Größe als auch die konstitutionelle Schwäche des jüdischen Messianismus.“
18
Kafkas „anderer Abraham“ ebenso wie seine vergesslichen Turmbauer bekräftigen diese Vorstellung, die dem Fundament der Hebräischen Bibel und deren Gebot entspricht, für die Welt zu sorgen. Diese Haltung findet in Kafkas berühmtester Aussage zum jüdischen Messianismus, der Hoffnung auf endgültige Erlösung, also die Ankunft in eine erlöste Welt am Ende der Zeiten eine überraschende Entsprechung: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.“ Kafkas Unterscheidung zwischen dem letzten und dem allerletzten Tag ist wohl nur als Sprachspiel in der Literatur zulässig und sinnvoll: der letzte Tag, der das Weltende mitsamt letztem Gericht beschwört, scheint hier nicht ganz das Ende der Dinge zu sein. Es scheint zudem, als reflektiere Kafka hier über die Unabgeschlossenheit seiner Schreibweise, die nach jeder scheinbar endgültigen Schlussfolgerung, nach jedem getroffenen Entschluss, nach einem Aber, oder einem Jedoch mehr oder weniger munter weiterschreibt. Es wäre kaum erstaunlich, wenn den allerletzten Tag, nachdem er den letzten zum vorletzten Tag verwandelt hat, selbst das gleiche Schicksal ereilt, also wiederum nur der vorletzte zu sein. Der unendliche Aufschub wäre in diesem Sinn nicht nur ein literarisches Spiel, sondern entspräche jenem von Gershom Scholem als Inbegriff jüdischer Existenz bestimmten „Leben im Aufschub“. Mit dem kleinen Unterschied der Literatur: denn erst in ihrer performativen, also prozessualen Zeitlichkeit verschiebt sich das Allerletzte zum Letzten und dieses zum vorletzten Tag, an dem noch alles sich ereignen kann. Nur das Unfertige, Unabgeschlossene, mit all seinen Erwartungen und Ängsten, aber eben auch seiner Kontingenz und seinem Möglichkeitssinn kann offenbleiben, und zwar nicht nur für die letzten, sondern eben für die vorletzten, die gewöhnlichen Dinge des unvollkommenen Alltags.
Alle hier besprochenen Texte verkehren scheinbar die biblische Quelle, auf die sie sich beziehen; doch letztendlich bekräftigen sie – mit leicht veränderter Gewichtung – die weltliche Dimension, die schon im Bibeltext angelegt ist. Kafkas Bezüge zu Moses, zu Abraham, zum Turmbau zu Babel und zum Messias sind demnach weder häretisch, noch gnostisch oder paulinisch. Obwohl sie den biblischen Geschichten nicht buchstäblich treu bleiben, kehren sie zu ihrem Geist zurück und decken ihre zugrunde liegende weltliche Ausrichtung auf. Sie sind nicht transgressiv, wie es Häresien sind, noch leugnen sie den Wert der weltlichen Existenz oder schreiben das existierende Übel einer böswilligen Gottheit zu, wie es eine gnostische Haltung tun würde. Sie fordern auch nicht wie im Paulinismus eine Abschaffung des göttlichen Gesetzes und erklären die Abwesenheit Gottes nicht zur Kehrseite des Theismus wie in der Atheologie. Sie negieren nicht, sie unterwerfen sich nicht und sie geben nicht nach. Gott fehlt jedoch nicht in diesen Geschichten: Moses negiert seine Begegnung mit Gott nicht, er lenkt nur seine – und unsere – Aufmerksamkeit auf die Menschen, zu denen er herabsteigt, und auf die Geschichten, die er mitbringt. Abraham lehnt sich nicht gegen Gottes Gebot auf, er verschiebt nur den Opferakt, zu dem er berufen war, auf unbestimmte Zeit um eines unvollendeten Weltenbaus willen. Die Nichtvollendung des Turms und die menschliche Zwietracht werden nicht auf die Strafe eines rachsüchtigen Gottes zurückgeführt, sondern auf den unvollkommenen menschlichen Umgang miteinander. Dass „wir nicht wirklich wissen wollen“, was mit Moses auf dem Berg Sinai geschah und stattdessen seine Geschichten vom Berg erhalten; dass die anderen Abrahame ihre Augen auf die endlosen Baustellen gerichtet halten, um den heiligen Berg nicht in der Ferne sehen zu müssen, dass die Bewohner Babylons den Himmelssturm vergessen, während sie die Erinnerung und die Bedrohung in der Literatur lebendig halten, reflektiert auch Kafkas Selbstverständnis seiner eigenen Art, sich auf die Welt zu beziehen, sein quasi-religiöses Bekenntnis zu seinem Schreiben, das darauf ausgerichtet ist, sich der Welt allen Widrigkeiten zum Trotz zuzuwenden.
Die Verfehlung des Ziels, die allen hier besprochenen Texten innewohnt, entspricht jener grundlegenden Auffassung der jüdischen Texttradition, dass die Bibel sich „nicht im Himmel befindet“, sondern auf Erden.19 Sie zeigt eine Richtung an, kein Resultat. Sie lädt nicht zum Eintritt ein, sondern, wie Kafka den Mann vom Lande vor dem Gesetz, zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit ihm und allem, wofür es steht.
Vivian Liska ist Professorin für deutsche Literatur und Direktorin des Instituts für jüdische Studien an der Universität Antwerpen, Belgien. Seit 2013 ist sie Distinguished Visiting Professor an der Hebrew University, Jerusalem. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literatur der Moderne, Literaturtheorie sowie deutsch-jüdische Denker*innen und Autor*innen. Sie ist Herausgeberin der Buchreihe Perspectives on Jewish Texts and Contexts (De Gruyter, seit 2015) und Autorin der Publikationen When Kafka Says We. Uncommon Communities in German-Jewish Literature (Combined Academic Publishers, 2009) und German-Jewish Thought and its Afterlife. A Tenuous Legacy (Indiana University Press, 2016)
Diesen Essay finden Sie auch im Katalog zur Ausstellung ACCESS KAFKA.
Zitierempfehlung:
Vivian Liska (2024), Einlass steht aus. Kafkas Judentum.
URL: www.jmberlin.de/node/10573
- Franz Kafka, Der Proceß, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2002, S. 294f. ↩︎
- Paul North, The Yield: Kafka’s Atheological Reformation, Stanford (CA): Stanford University Press, 2012. ↩︎
- Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hrsg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1992, S. 98. ↩︎
- Vgl. Maurizio Ferraris, The Aporia of the Instant in Derrida’s Reading of Husserl, in: Heidrun Friese (Hg.): The Moment: Time and Rupture in Modern Thought, Liverpool: Liverpool University Press, 2001, S. 34. ↩︎
- Tagebucheintrag vom 6. Juli 1916, in: Franz Kafka, Tagebücher 1914–1923, Frankfurt a. M: S. Fischer, 2008. ↩︎
- Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 141. ↩︎
- Franz Kafka, Brief an Robert Klopstock, Matliary, Juni 1921, in: Max Brod (Hg.), Briefe, 1902–1924, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1966, S. 333. ↩︎
- Søren Kierkegaard, Religion der Tat, Stuttgart: Kröner, 1948, S. 59. ↩︎
- Franz Kafka, Brief an Robert Klopstock, S. 333. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Ebd., Hervorhebung von der Autorin. ↩︎
- Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 318. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Gershom Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970, S. 121–167. ↩︎
- Ebd., S. 130. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- לֹ֥א בַשָּׁמַ֖יִם הִ֑וא (lo ba-shamayim hi), Deut 30:12. ↩︎
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