
Mary Flanagan, [borders: chichen itza], 2010
Access Kafka
Ausstellung
Kafka kommt nach Berlin! 100 Jahre nach Franz Kafkas Tod öffnet das Jüdische Museum Berlin mit seiner Ausstellung Access Kafka neue Türen zu seinem Werk: Handschriften und Zeichnungen aus Franz Kafkas Nachlass begegnen Gegenwartskunst etwa von Yael Bartana, Maria Eichhorn, Anne Imhof, Martin Kippenberger, Maria Lassnig, Trevor Paglen oder Hito Steyerl. Dabei stehen universelle und zeitlose Fragen nach Zugängen im Mittelpunkt.
13. Dez 2024 bis 4. Mai 2025

Wo
Altbau 1. OG
Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin
Der Begriff „Access“ bedeutet im weiteren Sinn die Erlaubnis, Freiheit oder Fähigkeit, einen Ort – auch einen imaginären oder virtuellen Raum – zu betreten oder zu verlassen. Fragen nach Einlass und Zugehörigkeit sind ein wiederkehrendes Motiv in Kafkas literarischen Texten. Die beklemmenden Beschreibungen der Desorientierung, Überwachung und sinnentleerter Regelwerke sind heute in anderer Hinsicht relevant als zu Kafkas Schaffenszeiten: In einem Zeitalter umfassender Digitalisierung, in dem soziale Netzwerke, künstliche Intelligenz und Algorithmen anonymisiert Zugänge verwalten, verschwimmen die Grenzen zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum. Diese Umstände bestimmen Bedingungen der gesellschaftlichen Teilhabe. Werke der Gegenwartskunst reflektieren diese Fragen – auch in Bezug auf die Rolle von Kunst und Künstler*innentum selbst. Die Ausstellung Access Kafka und das Begleitprogramm laden dazu ein, diesen Reflexionen zu folgen, an ihnen teilzunehmen und sie weiterzuführen.
Künstler*innen: Cory Arcangel, Yuval Barel, Yael Bartana, Guy Ben-Ner, Marcel Broodthaers, Marcel Duchamp, Maria Eichhorn, Mary Flanagan, Ceal Floyer, Lynn Hershman Leeson, Tehching Hsieh, Anne Imhof, Fatoş İrwen, Franz Kafka, Uri Katzenstein, Lina Kim, Martin Kippenberger, Maria Lassnig, Michal Naaman, Trevor Paglen, Alona Rodeh, Roee Rosen, Gregor Schneider, Hito Steyerl
Erfahren Sie auf dieser Seite mehr zu den einzelnen Ausstellungskapiteln:
Booklet zur Ausstellung
Download (PDF / 261.67 KB / auf Deutsch und Englisch / barrierefrei)Access Denied
Die Verweigerung von Zugang ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig – ob in wirtschaftlichen, politischen oder privaten Bereichen. Kafka, der promovierte Jurist, macht die Verweigerung in seinen Texten greifbar: Josef K. droht der Prozess, ohne dass er weiß, warum und durch wen; der zum „Ungeziefer“ verwandelte Gregor Samsa wird von seiner Familie ausgegrenzt; der Mann vom Lande wartet vergeblich auf Einlass „vor dem Gesetz“. Fast hätte Kafka den heute nahezu unbegrenzten Zugang zu seinem eigenen Werk verhindert: Er verfügte, dass alle seine Manuskripte nach seinem Tod vernichtet werden. Bei aller Offenheit der Kunst zeigt Kafka biografisch und in seinen Texten, dass es ungewiss bleibt, wann etwas zu Kunst und jemand zum Künstler wird, und wer darüber bestimmt: die Kunstschaffenden selbst? Das Publikum? Oder doch der Arbeitsmarkt?

Franz Kafka, Schwarzes Notizbuch – Zeichnungen, ca. 1923; סימול ARC. 4* 2000 05 037, Max Brod Archiv, National Library of Israel
Kunstwerke aus dem Ausstellungsraum Access Denied

Franz Kafka: Das Naturtheater von Oklahoma, 1914
Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: „Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahama aufgenommen! Das große Theater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit Ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!“
Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab so viel Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für Karl stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. „Jeder war willkommen“, hieß es. Jeder, also auch Karl. Alles, was er bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte!
Und ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, dass man auch ihn annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, was auf dem Plakate stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahama ein kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war genügend. Karl las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber noch einmal den Satz: „Jeder ist willkommen“ hervor.
Franz Kafka
Der Verschollene (Amerika), 1914
Auszug aus dem unvollendeten Roman und Beginn seines vermutlich letzten Kapitels „Das Naturtheater von Oklahoma“
Abbildung: Buchcover-Ausschnitt von Franz Kafka: Amerika. Roman, München: Kurt Wolff Verlag, 1927.

Ceal Floyer, No Positions Available, 2007, Installation, Schilder auf Wand; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul; VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: Nick Ash
Für ihre wandfüllende Installation setzt Ceal Floyer Schilder ein, die in Schaufenstern in Nordamerika anzeigen, ob eine Stelle frei ist. Bei Bedarf können sie umgedreht werden: die Seite mit der hoffnungsvollen Botschaft „Help Wanted“ bleibt hier jedoch verborgen. Im Kontext der Ausstellung bildet No Positions Available einen Gegenpart zu Kafkas einladender Posterflut des Theaters von Oklahoma aus dem Roman Der Verschollene (Amerika), wo mit der Aussage „Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich“ Personal gesucht wird. Floyers Schilder bedecken dicht aneinander gereiht die ganze Wand und lassen keine „Stelle“ frei – die Künstlerin überträgt die Aussage in den Raum und macht auf die Brutalität der sich ewig wiederholenden ausgrenzenden Botschaft aufmerksam.

Hito Steyerl, Strike, 2010, Einkanal-HD-Digitalvideo, Ton, Flatscreen, befestigt an zwei Stangen, 28 sek, Mitarbeiter: Christoph Manz; CC 4.0 Hito Steyerl, Bild mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Andrew Kreps Gallery, New York; VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Das englische Wort „strike“ hat eine doppelte Bedeutung: ein Streik, im Sinne einer strategischen Arbeitsverweigerung, oder ein physischer Schlag. In dem kurzen Video setzt die Künstlerin mit Hammer und Meißel einen gezielten Schlag in einen Flachbildschirm – die Umrisse einer technischen Matrix werden sichtbar, aber für den konventionellen Gebrauch wird der Bildschirm unbrauchbar. Steyerl nutzt für Strike die traditionellen Werkzeuge der Bildhauerei, um den Zugang zur konsumorientierten medialen Bilderwelt zu zerstören – gleichzeitig erschafft sie eine mediale Skulptur.

Martin Kippenberger, Ohne Titel, 1991, Holz, Lack, Metall, Stoff, Kunstleder, Schaumgummi, Klebeband, Aluminium, Plastik, Motor; © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Köln, Foto: Jens Ziehe
Martin Kippenberger hinterfragt in seinen Werken unablässig den Kunstbegriff und seine eigene Rolle als Künstler. Vor diesem Hintergrund eröffnet das Motiv des Karussells eine große Bandbreite an Referenzen: Die bunten Schienen erinnern an eine Farbpalette, auf der sich der Künstler sprichwörtlich um sich selbst dreht. Dabei ist die vom Schleudersitz getragene Hoffnung durch die Feenflügel zum Scheitern verurteilt – es gibt keinen Ausweg aus dem künstlerischen Teufelskreis. Die Arbeit bewegt sich als Metapher für das Künstlerdasein zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Selbst- und Fremdbestimmung, Spaß und Unglück.
Eine Weiterentwicklung des Karussells integriert Kippenberger in seine monumentale Installation The Happy End of Franz Kafka’s Amerika, die auf Kafkas unvollendeten Roman Der Verschollene (Amerika) Bezug nimmt. Er stellt auf einem Spielfeld büroartige Settings für Begegnungen bereit, in denen sich Kafkas Protagonist Karl, der nach Amerika auswandert, auch wiederfinden könnte. Eine detaillierte Ansicht einer Ausführung dieser Installation findet sich auf kippenberger.museum-folkwang.de.

Fatoş İrwen, The Other History: Read, 2019–2020, Papier und Nadelstiche je 21 x 29,7 cm, und Hevsel, 2022, Tinte auf Papier, roter Faden, zwei Arbeiten, je 37 x 78,5 cm; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Zilberman Instanbul, Berlin, Miami
Kafka spricht in einem Text-Fragment vom „Ritt der Träume“ – einem befreienden Akt, der mit Fatoş İrwens künstlerischer Praxis in Verbindung zu bringen ist. Die hier gezeigten Arbeiten entstehen während der dreijährigen politischen Haft der kurdischen Künstlerin in Diyarbakır ab 2017. Im Gefängnis nutzt İrwen die Kunst als Ausdruck des Widerstands und als Zeugnis des Unsagbaren. Die Hevsel-Serie erinnert an Rorschach-Bilder, deren psychologische Auslegung mehr über die Interpretierenden aussagt als über die Urheber*innen. İrwens Landschaften aus Tinte entfalten sich scheinbar aus Erinnerungen oder Wunschvorstellungen der Künstlerin und reichen über die Gefängnismauern hinaus. Die perforierten Blätter der Serie The Other History: Read stellen einen Text dar, der offiziell wirkt, aber nur in der Vorstellung der Künstlerin existiert. Vom Verdacht getrieben, die Löcher könnten ein geheimer Code sein, machte The Other History: Read die Gefängniswärter*innen skeptisch, sodass sie Sanktionen erließen.
Kafkas letzter Wille
Franz Kafka starb am 3. Juni 1924. Er war erst 40 Jahre alt. Fast hätte Kafka der Nachwelt den Zugang zu seinem in großen Teilen unpublizierten Nachlass verweigert. Erfahren Sie mehr anhand dieser testamentarischen Notiz:

Max Brod (1884–1968), Schriftsteller, Literatur- und Kunstkritiker und Studienfreund von Kafka aus Prag, ermuntert Kafka zu schreiben und hilft ihm, seine Texte zu publizieren. Heute vor allem als Herausgeber von Kafkas Nachlass bekannt.

Max Brod, 1914, Dresden; Deutsches Literaturarchiv Marbach
Kafka hinterlässt Max Brod 1921/1922 zwei testamentarische Notizen mit der Anweisung, seinen Nachlass komplett zu vernichten.
Heute befindet sich der Großteil von Kafkas Nachlass hier:
- National Library of Israel, Jerusalem
- Bodleian Libraries, University of Oxford
- Deutsches Literaturarchiv Marbach
Max Brod ignoriert diese Anweisung, alles restlos und ungelesen zu verbrennen! Ein Glück – sonst gäbe es heute nur Zugang zu bereits publizierten Texten von Kafka, also kein Schloss, keinen Proceß.
Max Brod flieht 1939 mit dem allerletzten Zug aus Prag vor den einmarschierenden Deutschen in das Britische Mandat Palästina, im Gepäck Kafkas Manuskripte, z.B. diese testamentarische Notiz.
Diese und andere Zeichnungen hat Brod bei seiner Flucht aus der Tschechoslowakei im Gepäck. Sie werden von ihm zur Bebilderung der Kafka-Bände ausgeschnitten.

Aus dem Zeichnungsheft von ca. 1901-1907 oder etwas später; סימול ARC. 4* 2000 05 037, Max Brod Archiv, National Library of Israel
Will Kafka wirklich, dass alles verbrannt wird? Würde er sein Testament dann an Max Brod adressieren?
Testamentarische Notiz an Max Brod, aus: Franz Kafkas Nachlassverfügungen („Testamente“), 1921-1922; סימול ARC. 4* 2000 05 050 Max Brod Archiv, National Library of Israel
Transkription der testamentarischen Notiz an Max Brod (1921/22)
Liebster Max, meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.
Dein
Franz Kafka
Kafkas Arbeit
Kafka war von Beruf promovierter Jurist. Seine Berufung war die Literatur. Er bezeichnete beides als Arbeit.
Die folgende Manuskriptseite aus dem unvollendeten Roman Der Verschollene, 1914 geschrieben, gibt Einblicke in seine Arbeit. Es ist die erste Seite des vermuteten Abschlusskapitels über die Erlebnisse des Protagonisten Karl Roßmann mit dem Theater von Oklahoma.

Kafkas Roman handelt vom jungen Karl Roßmann, der nach Amerika auswandert. Dort wird er von seinem reichen Onkel verstoßen und sucht sein Glück in der Arbeitswelt. Das Naturtheater von Oklahoma sucht Künstler. Karl Roßmann meldet sich und bekommt wegen fehlender Papiere nur einen Job als „technischer Arbeiter“.
Handschriftliche Ergänzung von Max Brod: „Letztes Kapitel: Das Naturtheater von Oklahama“.
Kafka ist inspiriert von Arthur Holitschers Reisebericht Amerika. Heute und Morgen von 1912. Er übernimmt dessen Schreibfehler „Oklahama“.
Arthur Holitscher (1869–1941) ist ein ungarisch-jüdischer Reiseschriftsteller. Als Sozialist schreibt Holitscher über den Arbeitsmarkt und soziale Ungerechtigkeit in Amerika.
„Wer Künstler werden will melde sich!“
Franz Kafka hebt die Hand.
„Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.“ – Kafka solidarisiert sich mit der Arbeiterschaft.
Von 1908 bis 1922 arbeitet Kafka als Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Prag.

Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Prag; Archiv K. Wagenbach / akg-images
Erste Seite des Fragments Naturtheater von Oklahoma, vermutlich das Abschlusskapitel des unvollendeten Romans Der Verschollene (Amerika), 1914, Tinte und Bleistift auf Papier, 25 × 20,5 cm; MS. Kafka 42, fol. 18r, Bodleian Libraries, University of Oxford
Transkription der ersten Seite des Naturtheater von Oklahoma
Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: „Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahama aufgenommen! Das große Theater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit Ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!“
Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab so viel Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für Karl stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. „Jeder war willkommen“, hieß es. Jeder, also auch Karl. Alles, was er bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte [ihm daraus einen Vorwurf machen.]
Franz Kafka
Der Verschollene (Amerika), 1914
Auszug aus dem unvollendeten Roman und Beginn seines vermutlich letzten Kapitels „Das Naturtheater von Oklahoma“
Access Wort
In gegenwärtigen Kommunikationsformen werden Zugänge durch Symbole, Slogans, Codes und Emojis aufgezeigt und die Schrift durch Piktogramme ersetzt. Worte werden Bilder. Kafka wählt das Schreiben und den Text als Zugang zu seiner Vorstellungswelt – ein Übergang, der für ihn mit großer Konzentration verbunden ist. Er schreibt in einer Bildsprache, die häufig Türen und Fenster aufgreift, und Erfahrungen der Ausgrenzung und des Eindringens sichtbar macht. Selten schildert er das Aussehen seiner Protagonist*innen oder die Schauplätze seiner Erzählungen. Die Illustration seiner Werke möchte er am liebsten verbieten. Seine eigenen Zeichnungen sind symbolartig komprimiert. Der Autor konzentriert sich aufs Wesentliche und überlässt die Ausschmückungen der Fantasie seines Publikums.

Franz Kafka, Postkarte an Sophie Brod mit einer Leseempfehlung zu Der Tag der Vergeltung, 26.2.1911, Bleistift auf bedrucktem Karton; 9,3 × 14,1 cm; סימול ARC. 4* 2000 05 044, Max Brod Archiv, National Library Israel
Kunstwerke aus dem Ausstellungsraum Access Wort

Franz Kafka: Eine kleine Frau, 1924
Es ist eine kleine Frau; von Natur aus recht schlank, ist sie doch stark geschnürt; ich sehe sie immer im gleichen Kleid, es ist aus gelblich-grauem, gewissermaßen holzfarbigem Stoff und ist ein wenig mit Troddeln oder knopfartigen Behängen von gleicher Farbe versehen; sie ist immer ohne Hut, ihr stumpf-blondes Haar ist glatt und nicht unordentlich, aber sehr locker gehalten. Trotzdem sie geschnürt ist, ist sie doch leicht beweglich, sie übertreibt freilich diese Beweglichkeit, gern hält sie die Hände in den Hüften und wendet den Oberkörper mit einem Wurf überraschend schnell seitlich. Den Eindruck, den ihre Hand auf mich macht, kann ich nur wiedergeben, wenn ich sage, dass ich noch keine Hand gesehen habe, bei der die einzelnen Finger derart scharf voneinander abgegrenzt wären, wie bei der ihren; doch hat ihre Hand keineswegs irgendeine anatomische Merkwürdigkeit, es ist eine völlig normale Hand. Diese kleine Frau nun ist mit mir sehr unzufrieden, immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in allerkleinste Teile teilen und jedes Teilchen gesondert beurteilen könnte, wäre gewiß jedes Teilchen meines Lebens für sie ein Ärgernis.
Anfang der Erzählung „Eine kleine Frau“, in: Franz Kafka, Die Erzählungen, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2024, S. 464–474
Abbildung: Buchseite mit dem Beginn der Erzählung „Eine kleine Frau“, in: Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin: Verlag Die Schmiede, 1924

Marcel Duchamp, Boîte-en-valise, 1936–1941, Koffer mit ca. 80 Auflagenobjekten verschiedener Materialien, Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch, Berlin, Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin; Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: Jens Ziehe
Franz Kafkas Zeitgenosse Marcel Duchamp bildet in der Ausstellung mit seinen radikalen Überlegungen zur bildenden Kunst ein Scharnier zwischen dem Prager Schriftsteller und der Gegenwartskunst. Ähnlich wie Kafka, der in seinen Erzählungen aus Ein Hungerkünstler das künstlerische Bewusstsein hinterfragt, stellt Duchamp seine Rolle als Künstler und die Einzigartigkeit von Kunstwerken in Frage. Für ihn ist die Idee wichtiger als die Ausführung. Er erweitert den Kunstbegriff, indem er mit seinen Ready-mades industriell produzierte Alltagsgegenstände zu Kunstwerken erklärt und erfindet das weibliche Alterego Rrose Sélavy.
Die Boîte-en-valise (Schachtel im Koffer) enthält als eigenständiges Kunstwerk Miniaturen von Duchamps Werken, die von einem Handelsreisenden mit sich getragen werden können – als Katalog oder als kleines Museum. Unter den Miniaturen sind Arbeiten wie Fresh Widow (1920) und La Bagarre d’Austerlitz (1921), die sich kritisch auf die Malerei seiner Zeit in Paris beziehen. 1942 emigriert Duchamp in die USA und die Boîte-en-valise wird als Symbol der Migration politisch gedeutet. Auch Kafkas Manuskripte verlassen Prag 1939 dank Max Brod in einem Koffer.
Für den Einband des Katalogs NOT SEEN and/or LESS SEEN, dessen Titel sich auf das (Nicht-)Sehen bezieht, wählt Duchamp das Motiv seiner Arbeit Porte: 11, rue Larrey von 1927. Einem baulichen Engpass folgend lässt Duchamp eine Tür mit zwei Rahmen in sein Pariser Atelier einbauen und schafft damit das Paradox, dass eine Tür zur gleichen Zeit auf und zu sein kann. Damit knüpft er an eine Reihe von Arbeiten an, die sich mit Türen und Fenstern befassen – Motive, die auch Kafka häufg einsetzt. In der Ausstellung wird der Katalog gemeinsam mit der Erstausgabe von Die Verwandlung gezeigt. Kafka bat seinen Verleger nachdrücklich, auf dem Titelbild nicht das Insekt zu illustrieren. Als alternatives Bild schlug er eine leicht geöffnete Tür vor, die den Blick ins Dunkle lenkt.

Marcel Broodthaers, La Pluie (projet pour un texte), 1969, 16 mm-Film, sw, ohne Ton, 2 min, Sammlung Hoffmann, Berlin; Estate of Marcel Broodthaers, bpk / CNAC-MNAM / Hervé Véronèse, Succession Marcel Broodthaers © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Im Alter von 40 Jahren entschließt sich der Dichter Marcel Broodthaers, bildender Künstler zu werden. Er interessiert sich für die Bildwerdung der Sprache in der Schrift und für das Museum als repräsentative Institution.
Das Künstlerbuch Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (Ein Würfelwurf wird den Zufall nie abschaffen) ist eine Hommage an Stéphane Mallarmés modernistisches Gedicht gleichen Titels von 1887. Broodthaers verortet Mallarmé „an der Quelle der modernen Kunst“, da dieser die Sprache von Konventionen in Typografie und Satz befreit habe. Bei der Gestaltung seiner Ausgabe tauscht Broodthaers das Wort „Poème“ (Gedicht) auf der Titelseite durch „Image“ (Bild) aus und ersetzt Mallarmés Zeilen durch schwarze Balken. So wie Kafka Bilder zu Worten werden lässt, geschieht hier die Verbildlichung der Sprache.
Auch im Kurzfilm, La Pluie (Der Regen), bezieht sich Broodthaers auf seine Vergangenheit als Dichter. Der Film zeigt, wie der Künstler während eines heftigen Regenschauers weiterschreibt, obwohl seine Worte weggespült werden. Schreiben erscheint hier wie ein tragisch-komisches Unterfangen.

Michal Naaman, All Welcome!, 2021, Öl und Schriftsatz auf Leinwand, 50 x 150 cm; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Gordon Gallery
Michal Naamans intensive Beschäftigung mit Kafka basiert auf ihrem Interesse an der Beziehung zwischen Wort und Bild: Texte und Symbole, die sie als Zitate aus der Kunst- und Kulturgeschichte übernimmt, tauchen in ihren Gemälden zusammengesetzt und entzweit auf. Sie stellen die Frage, was gesehen werden kann und was verborgen bleibt.
In ihrer Serie zu Kafkas Naturtheater von Oklahoma aus dem unvollendeten Roman Der Verschollene (Amerika) zeigt Naaman, wie sie dem Ausruf „Wer Künstler werden will, melde sich!“ mit der Malerei Folge leistet. Auf Englisch und Hebräisch zitiert sie aus Kafkas unvollendetem Roman. Sie verleiht Symbolen und Worten eine Bühne, die von Sinnhaftigkeit (Wittgensteins Hase-Ente-Illusion) ins Sinnlose (BIM, BAM, BOM) wechseln.
Das großformatige Gemälde Kill Me, Or You Are a Murderer, 2021–2024, stammt aus einer Serie über die letzten Worte berühmter Persönlichkeiten. Im Zentrum der Leinwand steht Kafkas angeblich letzte Weisung an seinen Freund und Arzt Robert Klopstock. Die doppelbödige Aussage „Töte mich oder du bist ein Mörder“ wird von Rauten umfasst, die durch die Anwendung von Abdeckband entstehen. Die Künstlerin bringt so die verschiedenen Schichten der Malerei ins Bewusstsein.
Kafkas Bilderrätsel
Franz Kafka und seine Übersetzerin ins Tschechische Milena Jesenská sind gute Freund*innen und haben von 1919 bis 1920 eine kurze, aber intensive Liebesbeziehung. Erfahren Sie mehr darüber aus folgendem Brief an Milena vom 28. Juli 1920:

„nur wusste aber damals niemand von dem Blut“
Franz und Milena erzählen sich intime Details. Er berichtet ihr von seiner Kehlkopftuberkulose, damit sie zum Arzt geht.
Milena Jesenská (1896-1944), tschechische Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin, übersetzte Kafkas Texte ins Tschechische.

Milena Jesenská, 1920; akg-images / Archiv K. Wagenbach
„Dein Mann“
Milena ist während ihrer Liebesbeziehung mit Kafka gleichzeitig mit dem Literaturagenten Ernst Pollak verheiratet.
„Vergißt Du nicht manchmal wenn Du von der Zukunft sprichst, dass ich Jude bin?“
Milena ist nicht jüdisch. Sie wird 1917 von ihrem Vater in eine Psychiatrie eingewiesen – er will nicht, dass sie den jüdischen Literaturkritiker Ernst Pollak heiratet.
„Gefährlich bleibt es, das Judentum, selbst zu Deinen Füßen.“
Milena Jesenská schließt sich 1939, 19 Jahre nach diesem Brief, dem antifaschistischen Widerstand gegen die Nazis an. Sie hilft gefährdeten Personen aus Prag zu flüchten.
1939 wird Milena von der Gestapo verhaftet und 1944 im KZ Ravensbrück ermordet.
„Die Zeichnung ist etwa so: ein schweres Bilderrätsel“
Das Bilderrätsel wurde nie gelöst. Steht das „K“ für Kafka?
Milena nannte Kafka wegen seiner unleserlichen Unterschrift „Frank“.
Ein „schweres Bilderrätsel“, Brief an Milena Jesenská, 28.07.1920, Tinte auf Papier, 23 × 14,4 cm; DLA, D 80.15/18, Deutsches Literaturarchiv Marbach
Transkription des Briefs an Milena Jesenská (Auszug)
An Milena Jesenská [Prag, 28. Juli 1920] Mittwoch
[„…spuckte ich auf der Civilschwimmschule etwas Rotes aus. Das war merkwürdig und interessant, nicht? Ich sah es ein Weilchen an und vergaß es gleich. Und dann geschah es öfters und überhaupt wann ich ausspucken wollte brachte ich das Rot zustande, es lag ganz in meinem Belieben. Da war es nicht mehr interessant] sondern langweilig und ich vergaß es wieder. Wäre ich damals gleich zum Arzt gegangen – nun so wäre alles wahrscheinlich genau so gewesen, wie es ohne den Arzt geworden ist, nur wusste aber damals niemand von dem Blut, eigentlich auch ich nicht, und niemand hatte Sorgen. Jetzt hat aber jemand Sorgen, also bitte, geh zum Arzt.
Merkwürdig dass Dein Mann sagt, er werde mir schreiben das und das. Und schlagen und würgen? Ich verstehe das wirklich nicht. Ich glaube Dir natürlich vollständig, aber es ist mir so sehr unmöglich es mir vorzustellen, dass ich gar nichts dabei fühle, so wie wenn es eine ganz fremde ferne Geschichte wäre. So wie wenn Du hier wärest und sagtest: „Jetzt in diesem Augenblick bin ich in Wien und es wird geschrien und so.“ Und wir würden beide aus dem Fenster gegen Wien hin schauen und natürlich wäre nicht der geringste Anlaß für irgendeine Aufregung.
Aber doch etwas: Vergißt Du nicht manchmal wenn Du von der Zukunft sprichst, dass ich Jude bin? (jasná, nezapletená) [klar, unkompliziert]. Gefährlich bleibt es, das Judentum, selbst zu Deinen Füßen.“
Access Judentum
Ob Kafka ein jüdischer Schriftsteller ist, beantwortet er am besten selbst: In seinem Tagebuch fragt er „Was habe ich mit Juden gemeinsam?“ und erwidert sogleich „Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam.“ In seinen Texten verhandelt Kafka Zugehörigkeit und Ausschluss, gemeinschaftliche und individuelle Erfahrungen auf eine ebenso ambivalente wie universelle Weise und ist damit erstaunlich aktuell – ob jemand zu einer sozialen Gruppe, einem Staat oder einer Religion gehört, ist weder eindeutig noch konstant. Kafka selbst kommt aus einer assimilierten, liberal-jüdischen Familie, schreibt nicht explizit über das Judentum, lernt jedoch Hebräisch und interessiert sich für Zionismus. Seine größte Begeisterung gehört dem jiddischen Theater: Hier erfährt er einen jüdischen Gemeinschaftssinn. In der Kunst findet sein selbstreflexiver, ambivalenter Bezug zur Gesellschaft einen Platz.

Franz Kafka, Selbstporträt, ca. 1911; סימול ARC. 4* 2000 05 086, Max Brod Archiv, National Library of Israel
Kunstwerke aus dem Ausstellungsraum Access Judentum

Franz Kafka, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, 1924
Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bewerten ist, als unser Geschlecht im Ganzen Musik nicht liebt. Stiller Frieden ist uns die liebste Musik; unser Leben ist schwer, wir können uns, auch wenn wir einmal alle Tagessorgen abzuschütteln versucht haben, nicht mehr zu solchen, unserem sonstigen Leben so fernen Dingen erheben, wie es die Musik ist. Doch beklagen wir es nicht sehr; nicht einmal so weit kommen wir; eine gewisse praktische Schlauheit, die wir freilich auch äußerst dringend brauchen, halten wir für unseren größten Vorzug, und mit dem Lächeln dieser Schlauheit pflegen wir uns über alles hinwegzutrösten, auch wenn wir einmal – was aber nicht geschieht – das Verlangen nach dem Glück haben sollten, das von der Musik vielleicht ausgeht. Nur Josefine macht eine Ausnahme; sie liebt die Musik und weiß sie auch zu vermitteln; sie ist die Einzige; mit ihrem Hingang wird die Musik – wer weiß wie lange – aus unserem Leben verschwinden.
Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es sich mit dieser Musik eigentlich verhält. Wir sind doch ganz unmusikalisch; wie kommt es, dass wir Josefinens Gesang verstehen oder, da Josefine unser Verständnis leugnet, wenigstens zu verstehen glauben. Die einfachste Antwort wäre, dass die Schönheit dieses Gesanges so groß ist, dass auch der stumpfste Sinn ihr nicht widerstehen kann, aber diese Antwort ist nicht befriedigend. Wenn es wirklich so wäre, müsste man vor diesem Gesang zunächst und immer das Gefühl des Außerordentlichen haben, das Gefühl, aus dieser Kehle erklinge etwas, was wir nie vorher gehört haben und das zu hören wir auch gar nicht die Fähigkeit haben, etwas, was zu hören uns nur diese eine Josefine und niemand sonst befähigt. Gerade das trifft aber meiner Meinung nach nicht zu, ich fühle es nicht und habe auch bei andern nichts dergleichen bemerkt. Im vertrauten Kreis gestehen wir einander offen, dass Josefinens Gesang als Gesang nichts Außerordentliches darstellt.
Ist es denn überhaupt Gesang? Trotz unserer Unmusikalität haben wir Gesangsüberlieferungen; in den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon, und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann. Eine Ahnung dessen, was Gesang ist, haben wir also, und dieser Ahnung nun entspricht Josefinens Kunst eigentlich nicht. Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben, wir pfeifen, ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken, und es gibt sogar viele unter uns, die gar nicht wissen, dass das Pfeifen zu unseren Eigentümlichkeiten gehört. Wenn es also wahr wäre, dass Josefine nicht singt, sondern nur pfeift und vielleicht gar, wie es mir wenigstens scheint, über die Grenzen des üblichen Pfeifens kaum hinauskommt - ja vielleicht reicht ihre Kraft für dieses übliche Pfeifen nicht einmal ganz hin, während es ein gewöhnlicher Erdarbeiter ohne Mühe den, ganzen Tag über neben seiner Arbeit zustandebringt - wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Josefinens angebliche Künstlerschaft widerlegt, aber es wäre dann erst recht das Rätsel ihrer großen Wirkung zu lösen.
Anfang der Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“, in: Franz Kafka, Erzählungen von Tieren, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2024, S. 143–166.
Abbildung: Buchseite mit dem Beginn der Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“, in: Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin: Verlag Die Schmiede, 1924

Yuval Barel, Luftmensch Antiexodus, 2020, Acryl und Graphit auf Leinwand, 60 x 90 cm; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Zu Franz Kafkas Zeiten gilt Deutsch in Prag als Sprache einer Minderheit – einer Gruppe, die in der Lage ist, eine Mehrheitsgesellschaft kritisch zu betrachten. Yuval Barels Sprache ist die Malerei. So wie Kafka in Randnotizen zeichnet, nutzt Barel seine Muttersprache, Hebräisch, als formales Mittel. Er versucht sich im Abstrakten des Figurativen zu entledigen, um sich gänzlich durchs Malen auszudrücken. Sein künstlerischer Prozess vom Figurativen zur Abstraktion wurde durch seine Migration nach Deutschland ausgelöst: Mit dem Verlust des hebräischen Umfelds konzentriert er sich ganz auf seine Primärsprache, die Malerei. Luftmensch Antiexodus, eine noch figurative Darstellung, zeigt die trostlose Szene einer Person mit Vogel, möglicherweise ein Alterego des Künstlers, die tragisch albern und etwas verloren wirkt. Barels Conversations hingegen sind konzentrierte Übungen, in denen der Künstler die Sprache der abstrakten Malerei ausprobiert, mit der er seinen Zustand und den seiner Umwelt begreifen will.

Yael Bartana, Mir Zaynen Do!, 2024, Einkanalvideo- und Toninstallation, 11:35 Min.; mit freundlicher Genehmigung von Capitain Petzel Gallery, Berlin; Annet Gelink Gallery, Amsterdam; Sommer Contemporary Art, Tel Aviv/Zürich; Galleria Rafaella Cortese Milan; Petzel Gallery, New York; Cecilia Hillström Gallery, Stockholm, Foto: Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Yael Bartana thematisiert in ihren Werken kollektive Erinnerungen und Identitäten und hinterfragt scheinbar festgelegte Zugehörigkeiten, die auch Franz Kafka suspekt sind. In den Ruinen des Teatro de Arte lsraelita Brasileiro (TAIB), im Keller der Casa do Povo in São Paulo treffen zwei Gruppen wie im Traum aufeinander: Ilú Obá De Min, ein afro-brasilianisches Straßenmusikensemble aus der Candomblé-Kultur und der Coral Tradição, ein jüdisch-brasilianischer Chor, der jiddische Lieder singt. Es entsteht eine Symphonie aus unterschiedlichen diasporischen Stimmen, die ihre jeweiligen aus Westafrika und Osteuropa stammenden Kulturen in Abgrenzung, aber auch im Dialog zueinander und zur Mehrheitsgesellschaft leben. Beide Gruppen treten auf, performen ihren Zusammenhalt und fragen unter dem Titel Mir Zaynen Do! (Wir sind da!), wem die Bühne zukünftig gehören wird.
Kafka lernt Hebräisch
Kafka spricht zu Hause, unter Freunden und im Studium Deutsch. Im Familiengeschäft und auf der Arbeit wird vermehrt Tschechisch gesprochen. Kafka studiert zusätzlich seit 1917 im Eigenstudium Hebräisch. 1922/23 nimmt er Privatunterricht bei Puah Ben-Tovim (1903–1991), die in Jerusalem geboren wurde und auf Empfehlung Hugo Bergmanns, Kafkas Freund und Leiter der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem, zum Studium nach Prag kommt.
Es ist nicht eindeutig belegt, warum Kafka Hebräisch lernt. Mögliche Beweggründe sind Kafkas zeitweilige Überlegungen, nach Britisch Mandats Palästina auszuwandern. Die Wörter in Kafkas Vokabelheft geben Auskunft, womit er sich u.a. beschäftigte:

Assimilation
Kafkas Familie und seine meisten Freund*innen sind assimilierte, liberale, deutschsprachige Jüdinnen und Juden. Assimiliert bedeutet an die christliche Mehrheitsgesellschaft kulturell angepasst. Liberal bedeutet reformiert und nicht an die Zeremonien gebunden.
Kultur
Bei der Suche nach Zugehörigkeit beschäftigt sich Kafka mit dem Judentum als Kultur. Er hört in Prag 1909-11 Martin Bubers Drei Reden über das Judentum mit folgenden zentralen Botschaften:
- Die Notwendigkeit einer spirituellen und kulturellen Erneuerung im Judentum.
- Das Judentum ist eine Kultur und Lebensweise.
- Die Gemeinschaft spielt eine zentrale Rolle im Judentum.
Die Auswahl der Vokabeln hat auf diese Weise nur Kafka treffen können, auf dieser Seite u.a.:
sich angleichen, Assimilation, Mond, sie ging aus dem Zimmer, Dein Sohn, Kutscher, Zorn, zürnen, Kultur pflegen, ich bete aus dem Gebetbuch, ich schreibe auf dem Papier
Beispiele von anderen Doppelseiten sind:
Wirklichkeit, Hebamme, Wanze, Laus, Junggeselle, Vollendung, Flamme
oder:
das hat einen Beweis, Wange, Ohrfeige, Spinat, Reis, Teich, Getränk, Nase, es ist ausgeschlossen, Kreisel, Verstand
„ich schreibe auf dem Papier“
Mitte November 1920 schreibt Kafka an Milena Jesenská:
„Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhafl. Prasivé plemeno (Räudige Rasse) habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind. Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben.“
Antisemitismus als ein Beweggrund für Kafkas Überlegungen, auszuwandern.
Franz Kafka, Hebräisches Vokabelheft, 1922–1923, Tinte und Bleistift auf Papier, 10,2 × 17,2 cm; MS. Kafka 30, Bodleian Libraries, University of Oxford
Access Gesetz
Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz handelt von einem Mann, der zeitlebens Eintritt in das Gesetz verlangt. Ein Türhüter hält ihn davon ab, die für ihn vorgesehene Schwelle zu übertreten. Einen Grund nennt der Wächter nicht. Als Jurist und Beamter verbindet Kafka Fragen über das Gesetz mit der Kunst: Ihn beschäftigt das sinnentleerte Regelwerk der Bürokratie, die anonyme Fremdbestimmung der Gewalten, das Eindringen in die Privatsphäre und die Unzugänglichkeit der Macht. In den Räumen des ehemaligen Kammergerichts, der heutigen Ausstellungsfläche des Museums, hält Kafkas Zeichnung Hüter der Schwelle Wache. Welche Verantwortung haben die Künstler*innen, ein Licht auf das zu werfen, was hinter der bewachten Schwelle steht?

Franz Kafka, Zeichnung, 1901–1907, Bleistift auf Papier, 17,1 × 10,6 cm; סימול ARC. 4* 2000 05 080, Max Brod Archiv, National Library Israel
Kunstwerke aus dem Ausstellungsraum Access Gesetz

Franz Kafka, Vor dem Gesetz, 1914
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tartarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die anderen Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“, fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Franz Kafka, „Vor dem Gesetz“, in: Zerstreutes Hinausschauen und andere Parabeln, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2024, S. 59–61
Abbildung: Ausschnitt aus dem Buchcover von Franz Kafka: Vor dem Gesetz, Berlin: Schocken Verlag, 1934

Trevor Paglen, UNKNOWN #851111 (Unclassified object in the Orion B Molecular Complex), 2024, Farbsublimation auf Aluminiumdruck, 88,9 x 127 cm; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Pace Gallery, Foto: Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, wird in Kafkas Erzählungen erlebbar. Dabei bleibt Kafkas Protagonist*innen oft verborgen, wer sie beobachtet und mit welchen Konsequenzen. Überwachung gehört im digitalen Zeitalter zu den wichtigsten Instrumenten von Institutionen und Unternehmen. Der Künstler Trevor Paglen arbeitet investigativ daran, geheime Kontrollmechanismen, vor allem der US-Militär- und Geheimdienste, sichtbar zu machen und ihren Umgang mit Bildern offenzulegen. Zudem fragt er danach, was es bedeutet, wenn künstliche Intelligenz und Maschinen Bilder generieren und sich diese innerhalb von Machtstrukturen verselbstständigen.
UNKNOWN #851111: Die Herkunft von etwa 350 Objekten in der Erdumlaufbahn ist unbekannt. Die US-Luftwaffe informiert über eine Reihe solcher Objekte, andere wiederum erfasst sie nicht. Deren Flugbahnen werden wiederum von anderen Staaten und auch von Amateurastronom*innen verfolgt. Diese sognannten „Unids“ versucht Paglen in seiner technisch aufwändig zu produzierenden Serie fotografisch einzufangen und damit jene Objekte sichtbar zu machen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, potenziell jedoch Daten über uns sammeln.
Seventeen Letters from the Deep State: Anfang der 2000er-Jahre beschäftigt sich Paglen intensiv mit dem Programm der CIA, Terrorverdächtige in der ganzen Welt zu überführen und zu geheimen Orten zu bringen. Dafür setzt die CIA Privatflugzeuge ein, die diese Briefe an Bord mit sich tragen. Die Dokumente weisen die Zollbeamten in anderen Ländern an, nicht an Bord zu kommen. Jede der Unterschriften auf den von „Terry Hogan“ unterzeichneten Briefen sieht anders aus. Die Dokumente sind für Paglen Inbegriff der Ästhetik von Geheimhaltung, Gewalt und Bürokratie.
They Took the Faces from the Accused and the Dead … : Vor dem Aufkommen der sozialen Medien dienen in den 1990er-Jahren Fahndungsfotos von Straftäter*innen als gängige Quelle für die Entwicklung von Gesichtserkennungssoftware. Die benötigten Mengen an Sträflingsfotos werden vom American National Institute of Standards (der für Gewichte und Maße zuständigen Behörde) an Forschende in aller Welt geliefert. Paglen zeigt eine Auswahl solcher Fotos. Das weiße Quadrat auf den Gesichtern fungiert als Zensurbalken, der den Personen die Privatheit ihres Gesichts zurückgeben soll.
PALLADIUM Variation #5: Die verspiegelte und facettierte Form der Skulptur ist inspiriert von Flugobjekten, mit denen Militär- und Geheimdienste gegnerische Sensorsysteme zu täuschen versuchen. Die Flugobjekte simulieren UFOs, Drohnen oder Flugzeuge, um Informationen über die technischen Fähigkeiten des gegnerischen Militärs zu sammeln. Paglen setzt diesen sprichwörtlichen Blickfang in Beziehung zur minimalistischen Kunst der 1960er-Jahre, wobei es ihm nicht um die Eigenheit der Objekte geht, sondern um die durch sie thematisierten Prozesse des Sehens.

Roee Rosen, The Confessions of Roee Rosen, 2007–2008, Video mit Ton, 56 Min.; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Roee Rosen treibt Kafkas Aussage „(...) es ist doch etwas äußerst Quälendes, nach Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt“ auf die Spitze. Der Künstler lässt drei Frauen als Roee Rosen 1, 2 und 3 in seinem Namen eine umfassende Beichte ablegen. Sie sind illegale Gastarbeiterinnen in Israel und tragen teils fiktive, teils plausible Monologe auf Hebräisch vor, einer Sprache, die sie nicht beherrschen und die sie von einem Teleprompter ablesen. Gelegentlich führen sie Körperbewegungen aus und ahmen den Gesichtsausdruck des echten Rosen auf der anderen Seite der Kamera nach. Unterbrochen werden die Bekenntnisse durch musikalische Zwischenspiele des Roee Rosen Confessions Ensembles.

Alona Rodeh, Altars Made of Sand, 2023, CGI 4K Video mit Ton, 3:32 Min., 3D modelling: Paulo Schmidt, Siwei Cai, Houdini simulation: Paulo Schmidt, Sound design: Darcy Adam; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin © VG-Bild Kunst, Bonn 2024
Verschiedenen Quellen zufolge konnten in biblischen Zeiten Mörder*innen im Jerusalemer Tempel Zuflucht suchen. Um einer Blutrache zu entgehen und einen fairen Prozess zu fordern, sollten sie die Hörner des Altars festhalten, auf dem Opfer dargebracht wurden. In Alona Rodehs CGI-Animationsfilm werden aus Sand gefertigte Altäre vom Meer weggespült. Das Asyl und die Hoffnung auf Gerechtigkeit zerfallen, die in Stein gemeißelten Gesetze haben keinen Bestand. Rodehs Arbeit stellt dar, wie die Zeit an den Grundfesten dessen nagt, was die Gesellschaft als unerschütterlich ansieht.
Der Prozess von Kafkas Process

Ausschnitt aus dem Buchcover von Franz Kafka: Der Prozess. Berlin: Die Schmiede, 1925.
„,Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ (Franz Kafka, letzter Satz aus dem unvollendeten Roman Der Process)
Franz Kafka gelingt es nicht, seine drei Romane – Der Process, Das Schloss, Der Verschollene (Amerika) – zu Ende zu bringen. Hier ist der Schreibprozess von Der Process nach Erkenntnissen des Kafka-Biografen Reiner Stach wiedergegeben:
Mai 1914 | Erste Verlobung von Franz Kafka und Felice Bauer |
12. Jul 1914 | Im Berliner Hotel Askanischer Hof kommt es zur Entlobung. Kafka schildert das Ereignis als „Gerichtshof im Hotel“. |
28. Jul 1914 | Beginn Erster Weltkrieg. Kafka gilt ab 1915 als „unersetzliche Fachkraft“ der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt und wird nicht an die Front gerufen. |
11. Aug 1914 | Kafka fängt an, Der Process zu schreiben. Zuerst entstehen das erste und das Schlusskapitel. Es ist vermutlich ein Versuch, das Buch auf jeden Fall zu Ende zu bringen. Doch Kafka vollende den Process nie. |
Okt 1914 | Kafka schreibt die Geschichte In der Strafkolonie. Kafka schreibt das Kapitel Das Naturtheater von Oklahoma für den Roman Der Verschollene. |
30. Nov 1914 | Tagebucheintrag Franz Kafka: „Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgültigen Grenze, vor der ich vielleicht jahrelang sitzen soll.“ |
Okt–Dez 1914 | Kafka schreibt die Türhüter-Legende Vor dem Gesetz. Die Geschichte ist Teil des Romans Der Process, wird aber getrennt veröffentlicht: erstmals am 7. Sep 1915, in Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift, Prag. |
Jan 1915 | Kafkas Konzentration reißt ab. Es gelingt ihm nicht mehr, den Process zu vollenden. |
Jul 1916–1917 | Zweite Verlobung mit Felice Bauer |
1920 | Kafka schreibt Zur Frage der Gesetze. Der kurze Text handelt von einer kleinen Adelsgruppe, die ,uns‘ durch geheime Gesetze beherrschen. |
„... es ist doch etwas äußerst Quälendes, von Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt.“ (Franz Kafka, aus Zur Frage der Gesetze, 1920)
Access Raum
Die Globalisierung und das digitale Zeitalter eröffnen manchen Menschen unerwartete Räume, während anderen der Zutritt verwehrt wird. Die Grenze von privaten und öffentlichen Bereichen verschwimmt. Auch für die Kunst gilt keine Beschränkung auf Kunstorte wie Galerien oder Museen. Wie ist die Kunst dann noch als solche zu erkennen? Oder hat sie vielleicht längst schon den Alltag infiltriert? Kafka nutzt in seinen Texten Motive wie Türen, Tore, Fenster, Schwellen oder Bauten, um Gefühlen der Ausweglosigkeit, Desorientierung und Beklemmung eine Gestalt zu geben. In dieser von ihm geschaffenen erzählerischen Architektur finden sich viele Lesende wieder.

Kafka, Franz, Schwarzes Notizbuch – Zeichnungen, ca. 1923; סימול ARC. 4* 2000 05 037, Max Brod Archiv, National Library of Israel
Kunstwerke aus dem Ausstellungsraum Access Raum

Franz Kafka, Erstes Leid, 1922
Ein Trapezkünstler – bekanntlich ist diese hoch in den Kuppeln der großen Varietébühnen ausgeübte Kunst eine der schwierigsten unter allen, Menschen erreichbaren – hatte, zuerst nur aus dem Streben nach Vervollkommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit, sein Leben derart eingerichtet, dass er, solange er im gleichen Unternehmen arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapez blieb. Allen seinen, übrigens sehr geringen, Bedürfnissen wurde durch einander ablösende Diener entsprochen, welche unten wachten und alles, was oben benötigt wurde, in eigens konstruierten Gefäßen hinauf- und hinabzogen. Besondere Schwierigkeiten für die Umwelt ergaben sich aus dieser Lebensweise nicht; nur während der sonstigen Programm-Nummern war es ein wenig störend, dass er, wie sich nicht verbergen ließ, oben geblieben war, und dass, trotzdem er sich in solchen Zeiten meist ruhig verhielt, hier und da ein Blick aus dem Publikum zu ihm abirrte. Doch verziehen ihm dies die Direktionen, weil er ein außerordentlicher, unersetzlicher Künstler war. Auch sah man natürlich ein, dass er nicht aus Mutwillen so lebte, und eigentlich nur so sich in dauernder Übung erhalten, nur so seine Kunst in ihrer Vollkommenheit bewahren konnte.
Anfang der Erzählung „Erstes Leid“, in: Franz Kafka, Zerstreutes Hinausschauen und andere Parabeln, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2024, S. 95–99
Abbildung: Buchseite mit dem Beginn der Erzählung „Erstes Leid“, in: Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin: Verlag Die Schmiede, 1924

Guy Ben Ner, House Hold, 2001, Video, 22:52 Min.; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Sommer Contemporary Art Tel-Aviv/Zürich
Sich selbst in eine unmögliche Lage versetzen, dann aus der Geschichte keinen Ausweg finden, obwohl Außenstehende schnell gute Ratschläge zur Befreiung geben könnten: Dieses Szenario bringt Guy Ben Ner auf den Punkt. Der Künstler findet sich hinter Gittern eines Kinderbetts gefangen und sucht nach Möglichkeiten, dort zu überleben, die zunehmend grotesker werden. Die Arbeit ist typisch für Ben Ners Low- oder No-Budget Produktionen, in denen sein privates Umfeld radikal in die künstlerische Praxis einbezogen wird.

Cory Arcangel, Totally Fucked, 2003, handgefertigte, gehackte Super Mario Bros. Kassette, Nintendo NES Videospielsystem, Software des Künstlers; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
In einer Endlosschleife gefangen steht die Videospielfigur Mario auf einem Block in einem Meer von blauen Pixeln. In diesem frühen Werk manipuliert Cory Arcangel ein Super Mario Bros. Videospiel von Nintendo. Das sonst springende und laufende Männchen kommt nicht vom Fleck, weil die digitalen Parameter vom Künstler verändert wurden. Die Frustrationen überlagern sich: Das Publikum kann Marios räumliche Begrenzung nachempfinden und sie nicht aufheben. Wie in einer Kafka-Erzählung gibt es für den fremdbestimmten Protagonisten keinen Ausweg aus der Beklommenheit. Dabei legt Arcangel die Technologie hinter seinem Hack offen – Totally Fucked kann als ROM-Datei von seiner Website und seinem Github-Account heruntergeladen werden.

Gregor Schneider, u 24, FLUR, Rheydt 1989–1993, wall in front of a wall, plaster boards on a wooden construction, light yellow, 1 door (332 x 335 cm (W x H), S 10 cm), HAUS u r, Rheydt, Germany 1985 - today & u 24, FLUR, Rheydt 1989–Venedig 2001, wall in front of a wall, plaster boards on a wooden construction, light yellow, 1 door (332 x 335 cm (W x H), S 10 cm), TOTES HAUS u r, German Pavilion, 49. Biennale Venedig, la Biennale di Venezia, Venezia, Italy 10.6.2001–4.11.2001; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers © VG Bild-Kunst Bonn 2024
Das bekannteste Kunstwerk von Gregor Schneider ist sein Wohnhaus in der Unterheydener Straße in Rheydt, Mönchengladbach, dem man nicht ansieht, dass es Kunst ist. Seit 1985 arbeitet er an diesem ortsspezifischen Langzeitprojekt und baut Räume in Räume, die sich kaum von den ursprünglichen Räumen unterscheiden. Inzwischen sind so viele Schichten in das Haus eingebaut, dass kein Zugang zu den frühen Werken besteht, ohne dabei die neueren zu zerstören. Wenn Schneider das Haus u r ausstellt, dann entweder dokumentierend (wie in der hiesigen Ausstellung mit 23 Fotografien), oder er setzt seine eingebauten Räume um, so dass er im Grunde das Werk zerstört, um es andernorts zu zeigen. Mit den Nachbauten eines rheinischen Kleinstadtmilieus gelingt es Schneider, ähnlich wie Kafka, das Vertraute beklemmend erscheinen zu lassen.

Lina Kim, i see the sea_1A, 2022, Malerei auf Fotodruck auf Leinwand, Acrylfarbe, 100 x 140 cm; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
Eine bewegte Meeresoberfläche wird überlagert von schematischen Augen und einer eckigen Klammer, die aus dem Bild weist und ihr Pendant außerhalb oder auf dem nächsten Bild sucht. Es entsteht der Eindruck, die Kunstwerke seien Ausschnitte aus den Weiten des Meeres – einer natürlichen geografischen Grenze. Die von Kim auf den Fotodrucken gezeichneten Augen erscheinen wie ein Code, der etwas protokolliert oder festhält, sich aber nicht entziffern lässt.

Maria Eichhorn, Projekt Hollmannstraße, 1987/2024, Fotodokumentation; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
1987 sucht Maria Eichhorn als junge Kunststudentin einen Ort, um ein Ausstellungsprojekt im Stadtraum zu realisieren. Das Bezirksamt Berlin-Kreuzberg stellt ihr eine Brache von enormer Größe zur Verfügung. Trotz der Notwendigkeit offizieller Genehmigungen ist der Vorgang von Offenheit und Vertrauen in die künstlerische Absicht geprägt. Eichhorn markiert Steine und weitere auf dem städtischen Grundstück vorgefundene Gegenstände mit roter Farbe, setzt Eisenrohre und Möbelelemente in den Boden ein.
Heute steht der Libeskind-Bau des Jüdischen Museums auf diesem Gelände und von Eichhorns mehrmonatiger Aktion lassen sich in den städtischen Archiven keine Unterlagen und auf dem Areal keine Spuren mehr finden.
Im Ausstellungsraum geben Film- und Fotodokumentationen Aufschluss über Eichhorns Projekt aus den 1980er-Jahren. Sie werden auf eine als Void-Wand bezeichnete Betonfläche projiziert. Der dahinter liegende Leerraum durchzieht das Gebäude vom Untergeschoss bis zum Dach und verbindet das alte Kammergerichtsgebäude, das in Eichhorns Arbeit zu sehen ist, mit dem Neubau und den Ausstellungsräumen. In ihren Werken untersucht Maria Eichhorn häufig die Beschaffenheit und die Geschichte von Orten und Institutionen sowie die damit verbundenen Regelwerke. Projekt Hollmannstraße 1987/2024 ist eigens für die Ausstellung Access Kafka entstanden und spannt einen Bogen zwischen dem damaligen Grundstück und dem heutigen Museum durch die Frage, welchen Stellenwert Kunst im öffentlichen Raum einnimmt.
Für die Ermöglichung der Installation Projekt Hollmannstraße 1987/2024 von Maria Eichhorn danken wir den FREUNDEN DES JMB.

Mary Flanagan, [borders: chichen itza], 2010, Video still; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin
In Kafkas unvollendetem Roman Das Schloss scheitern K.s Anstrengungen, sich als Landvermesser dem Machtzentrum des Dorfes zu nähern. In ihrer Videoarbeit dokumentiert Mary Flanagan eine Reihe von Wanderungen im digitalen Raum, wo Landschaften endlos erscheinen. Sie besucht virtuelle, öffentlich zugängliche Nachbildungen von Stätten kulturellen Erbes. Zum Beispiel die Maya-Stadt Chichén Itzá in Mexiko, das schottische Glenn-Gary-Schloss, die italienische Festung La Rocca oder die Chinesische Mauer. Als Computerspielerin läuft Flanagan die virtuellen Grenzen der Kulturstätten ab, ohne die eigentlichen Stätten erreichen zu wollen. Damit wirft sie Fragen auf, die in den analogen Raum wirken: Wer hat Zugang zu Kultur? Wer entscheidet über die Grenzen von Kultur? Und wie sehr sind Menschen in ihrem eigenen Kulturraum gefangen?
Die Verwandlung von Kafkas Wohnung
Kafka wohnt von 1907 bis 1913 mit seinen Eltern in der Nikolasstrasse in Prag. Die Wohnung ist im 4. Stock vom Haus zum Schiff. Dort schreibt er im November–Dezember 1912 seine berühmteste Erzählung: Die Verwandlung.
Die Wohnung der Familie Kafka hat den gleichen Grundriss wie die Wohnung der Samsas aus der Verwandlung.

Realität: Kafka hat drei Schwestern. Die jüngste, Ottilie (*1892), genannt Ottla, ist seine Lieblingsschwester.
Im Oktober 1912 ermutigt Ottla ihren Bruder Franz, mehr Einsatz in der Asbestfabrik der Familie zu zeigen. Kafka möchte lieber seine Zeit schreibend verbringen und empfindet ihre Einmischung als Verrat, da Ottla sonst immer zu ihm hält. (Brief an Max Brod, 7./8. Oktober 1912)

Ottilie Kafka, 1910; akg-images / Archiv K. Wagenbach
Fiktion: In Die Verwandlung wacht Gregor Samsa eines morgens hier als Ungeziefer in seinem Bett auf. Dann wird er immer mehr von seiner Familie verstoßen.
Realität: Kafka stört der Lärm der vielen Türen der Wohnung:
„Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung.“ (Aus: Großer Lärm, 1912)
Fiktion: Erst kümmert sich Gregor Samsas Schwester um ihn, als er zum Ungeziefer wird. Dann spricht sie aus, dass er eine zu große Belastung für die Familie ist.
Fiktion: Von dieser Stelle im Wohnzimmer aus blickt Gregor Samsa, zum ersten Mal auf seinen „vielen Beinchen“, dem ins Treppenhaus flüchtenden Prokuristen nach.
Skizze des Kafka-Experten Hartmut Binder aus: Hartmut Binder, Kafkas Verwandlung, Frankfurt a. M./Basel: Stromfeld Verlag 2004, Abb. 22
Access Körper
In Kafkas Erzählungen sind Körper tierisch, werden verwandelt, mit Nadeln durchstochen, von Würmern ausgehöhlt, ausgehungert und exekutiert. Seinen eigenen Körper empfindet er als schwach und unzureichend, obwohl er ihm das Schreiben ermöglicht – für Kafka eine äußerst physische Tätigkeit. Er beschreibt das Künstlerische oft als performativ: Seine Künstlerfiguren sind Darstellende, wie Josefine die Sängerin, der Hungerkünstler oder der Trapezakrobat. Der Körper wird in der Kunst, vor allem in der Performancekunst, zum Austragungsort von Vorschriften und Ausgrenzungen. In der Beschäftigung mit dem eigenen Körperbild markieren Künstler*innen oft sich selbst als letzte Barriere zwischen Kunst und Publikum und knüpfen damit an aktuelle Gespräche über Inklusion, körperliche Transformation oder Transhumanismus an.

Franz Kafka, Zeichnung auf dreieckigem Papier, ca. 1906, Bleistift auf braunem Papier, 10,4 × 8,3 × 7,8 cm; סימול ARC. 4* 2000 05 080, Max Brod Archiv, National Library Israel
Kunstwerke aus dem Ausstellungsraum Access Körper

Franz Kafka: Ein Hungerkünstler, 1922
In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme; jeder wollte den Hungerkünstler zumindest einmal täglich sehn; an den spätern Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen; auch in der Nacht fanden Besichtigungen statt, zur Erhöhung der Wirkung bei Fackelschein; an schönen Tagen wurde der Käfig ins Freie getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der Hungerkünstler gezeigt wurde.
[...]
Außer den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom Publikum gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich Fleischhauer, welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beobachten, damit er nicht etwa auf irgendeine heimliche Weise doch Nahrung zu sich nehme. Es war das aber lediglich eine Formalität, eingeführt zur Beruhigung der Massen, denn die Eingeweihten wußten wohl, daß der Hungerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das Geringste nur gegessen hätte; die Ehre seiner Kunst verbot dies.
[...]
Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.
[...]
„Du hungerst noch immer?“ fragte der Aufseher, „wann wirst du denn endlich aufhören?“ „Verzeiht mir alle“, flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. „Gewiß“, sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, „wir verzeihen dir.“ „Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewundert“, sagte der Hungerkünstler. „Wir bewundern es auch“, sagte der Aufseher entgegenkommend. „Ihr sollt es aber nicht bewundern“, sagte der Hungerkünstler. „Nun, dann bewundern wir es also nicht“, sagte der Aufseher, „warum sollen wir es denn nicht bewundern?“ „Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders“, sagte der Hungerkünstler. „Da sieh mal einer“, sagte der Aufseher, „warum kannst du denn nicht anders?“ „Weil ich“, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungre.
Anfang und Auszüge aus „Ein Hungerkünstler“, in: Franz Kafka, Die Erzählungen, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2024, S. 359–69
Abbildung: Buchcover-Ausschnitt von Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin: Verlag Die Schmiede, 1924

Tehching Hsieh, One Year Performance 1978–1979, New York, Poster, Statement, Witness Statement, Daily Portraits, Life images; mit freundlicher Genehmigung und © Tehching Hsieh, Foto: Cheng Wei Kuong
Tehching Hsieh führt in den 1970er- und 1980er-Jahren fünf radikale Ein-Jahres-Performances durch. Diese fordern ihn körperlich wie mental und prägen die internationale Performancekunst maßgeblich. 1986 verpflichtet sich der Künstler abschließend zu einem 13-Jahres-Plan mit der Vorgabe, Kunst zu machen, sie jedoch nicht auszustellen. Drei Performances werden in der Ausstellung in einer vom Künstler kuratierten Dokumentation gezeigt, die immer dem gleichen Prinzip folgt: Am Anfang stehen ein Poster und ein Statement des Künstlers, das als Vertrag mit sich selbst gelesen werden kann und das die Bedingungen für das Jahr darlegt. Darauf folgen Zeugenaussagen und Auszüge aus der Foto- und Materialdokumentation.
1978–1979 sperrt sich Hsieh ein Jahr lang in einen Käfig in seinem Atelier ein. Während dieser Isolation verzichtet er auf jegliche Unterhaltung oder Beschäftigung und fotografiert sich täglich.
1981–1982 lebt Hsieh nach der Regel, keine Innenräume zu betreten, ohne Obdach in Manhattan, New York. Er skizziert seine täglichen Routen auf einem Stadtplan. Ein Filmauszug zeigt, wie Hsieh gegen seinen Willen wegen Stadtstreicherei festgenommen und in ein Gebäude geführt wird. Der Richter erlaubt ihm unter dem Schutz der Kunstfreiheit seine Aktion fortzusetzen.
1983–1984 geht Hsieh mit Linda Montano eine künstlerische Partnerschaft ein. Sie verpflichten sich, ohne Unterlass durch ein ca. 2,5 Meter langes Seil verbunden zu bleiben, sich aber nicht zu berühren. Ihre gemeinsamen Gespräche nehmen sie auf und versiegeln die Kassetten.

Maria Lassnig, Zwei Arten zu sein (Doppelselbstporträt), 2000, und Krückenbilder, Öl auf Leinwand; Maria Lassnig Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Zwischen Maria Lassnig und Franz Kafka lässt sich viel Gesprächsstoff denken: Sie teilen die künstlerische Fähigkeit, den Blick nach innen zu richten und das Gesehene nach außen sichtbar zu machen. In ihren Werken knüpfen sie eine enge Verbindung zwischen ihren eigenen Körperbildern und ihrem Ringen um die Darstellbarkeit von Empfindung. Auch hier geht es um Fragen des Zugangs – wie kann ein Körper durch die Kunst erfasst werden oder sogar als künstlerisches Mittel dienen? Lassnigs Krückenbilder greifen physische Hilfsmittel, die Symbiose von Körper und Gerätschaft und nicht zuletzt Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe auf.

Anne Imhof, AI Winter, 2022, Video, Farbe, Ton, 13:56 Min., featuring Eliza Douglas, Regie: Jean-René Étienne und Lola Raban-Oliva; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Sprüth Magers, Galerie Buchholz, Foto: Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Das Performative steht im Mittelpunkt der Arbeiten von Anne Imhof, so auch in ihrem Film AI Winter: Zügig und mit sich wiederholenden, maschinenartigen Gesten geht eine Person mit freiem Oberkörper Schneeschneisen in den Ruinen des Moskauer Gorki-Parks ab. Der Titel des Films bezieht sich sowohl auf die Initialen der Künstlerin als auch auf die Frage nach dem öffentlichen Interesse an künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence Winter). Welches Programm wird vom Körper abgespielt und wie selbstbestimmt handelt er? Imhofs Installation aus Film, Sound und Raumelementen bezieht die Körper der Besuchenden fast unmerklich in das Kunstwerk ein. Imhof leitet das Publikum in ein existentielles Spannungsfeld von Gegensätzen: Körper und Automat, Macht und Ohnmacht, Stadt und Natur, Jugend und Tod.

Uri Katzenstein, God/Dog Knuckle Duster, 1991, Bronzeguss, 8,5 x 13 x 1 cm; Privatsammlung, Berlin, Foto: Roman März
Die kleine Skulptur des multidisziplinären Künstlers Uri Katzenstein ist ein Schlagring mit spitzen Zacken und den Aufschriften GOD und DOG. Bei Gebrauch kerben sich die Schriftzeichen wie Druckblöcke in die Handfläche des Tragenden ein. Eine Waffe darf normalerweise nicht in den Räumen des Jüdischen Museums Berlin mitgeführt werden und wäre von der Wache beschlagnahmt worden. Aber sie hat es durch ein Schlupfloch in die Ausstellung geschafft: als Kunstwerk. Und doch ist das Gewaltpotential spürbar und es herrscht Ungewissheit, ob sich alle an die beschlossenen Regeln halten werden.

Lynn Hershman Leeson, Seduction of a Cyborg, 1994, Video, 7 Min.; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, Altman Siegel, San Francisco und Bridget Donahue, New York Hotwire Productions LLC, Foto: Jüdisches Museum Berlin, Jens Ziehe
Eine blinde Frau geht eine Behandlung ein, um mit Hilfe eines Computers als Cyborg sehen zu können. Allmählich verführt der Algorithmus die Patientin, und sie wird süchtig nach der vom Computer simulierten Welt. Die Technologie, die sie heilen sollte, entpuppt sich als Krankheit, die ihren Organismus verkümmern und sie sterben lässt. Seit den 1960er-Jahren experimentiert Leeson mit neuen Technologien, Cyborgs, Künstlicher Intelligenz (KI), Fragen von Geschlecht, Privatsphäre und Überwachung. Leeson zeigt auf, dass der Zugang der Menschen zur Technologie im Umkehrschluss zur Folge hat, dass Technologien in private und körperliche Bereiche wirken.
Kafkas Körper
Die Bedeutung des Körpers ist bei Kafka sowohl biografisch als auch literarisch zentral. Als Angestellter der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen hat er mit Körperlichkeit zu tun. Kafka hält nicht viel von Psychoanalyse, teilt aber die Vorstellung, dass Körper und Geist zusammenhängen.

Kafka ist 1,82 m groß. Unter dem Hut trägt er schwarzes Haar.
Kafka bevorzugt vegetarische Nahrung und lebt eher asketisch.
Er isst gerne Nüsse und Ziegenkäse und praktiziert „Fletchern“, eine nach Horace Fletcher benannte Kautechnik, bei der man mindestens 32x kaut.
Kafka ist lärmempfindlich.
Neurasthenie, eine nervöse Schwäche und Hypersensibilität, ist zu Kafkas Zeiten in Mode.
Herbst 1917: Diagnose der Tuberkulose. Kafka an Max Brod, September 1917:
„Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. ,So geht es nicht weiter‘ hat das Gehirn gesagt und nach 5 Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt zu helfen.“
Häufiger Aufenthalt im Sanatorium. Kafka stirbt am 3. Juni 1924 im Alter von fast 41 Jahren.
Kafkas Mindset: Er ist wahrheitsliebend.
Max Brod bezeichnet ihn als strengen Moralisten, spricht aber auch von seiner „bezaubernden Witzigkeit und Spritzigkeit“.
Max Brod beschreibt Kafkas „blitzende graue Augen“.
Weil Kafka unter Schlaflosigkeit leidet, schreibt er oft nachts.
Kafka ist beschnitten.
Max Brod berichtet, Kafka hätte zu der Erzählung Das Urteil gesagt:
„Ich habe dabei an eine starke Ejakulation gedacht.“
Kafka war nie verheiratet, aber mehrfach verlobt, hat Freundinnen und besucht Bordelle.
Zu Kafkas Zeiten stehen antisemitischen Vorurteilen über jüdische Männlichkeit als schwach, kränkelnd und feminin zionistische Vorstellungen vom „Muskeljudentum“ gegenüber.
Kafka ist sportlich: Er schwimmt viel, rudert, geht wandern und spazieren.
Kafka „müllert“ ab ca. 1910 täglich, d.h. er macht Turnübungen nach dem System des Dänen JØrgen Peter Müller.

Frottierübung aus: J. P. Müller, Mein System. Fünfzehn Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit, Leipzig o.J. [ca. 1925], S. 107.
Kafka vergleicht das Schreiben mit einer Geburt. Es ist ihm wichtiger als Nahrung.
Er schreibt nachts, u.a. viele Texte über Körperlichkeit wie z.B.
- Die Verwandlung
- Ein Landarzt
- In der Strafkolonie
- Ein Hungerkünstler
Franz Kafka; akg-images / Archiv K. Wagenbach
Kafkas Tiere
Franz Kafka integriert in seinen Werken häufig Tiere als zentrale Figuren.
„Es ist wunderbar, wer kann das leugnen, daß diese Hunde in der Luft zu schweben imstande sind, im Staunen darüber bin ich mit der Hundeschaft einig. Aber viel wunderbarer ist für mein Gefühl die Unsinnigkeit, die schweigende Unsinnigkeit dieser Existenzen. Im allgemeinen wird sie gar nicht begründet, sie schweben in der Luft, und dabei bleibt es, das Leben geht weiter seinen Gang, hie und da spricht man von Kunst und Künstlern, das ist alles. Aber warum, grundgütige Hundeschaft, warum nur schweben die Hunde? Welchen Sinn hat ihr Beruf?“ (Aus: Franz Kafka, Forschungen eines Hundes, 1922)
In der folgenden Bildergalerie finden Sie einige Beispiele, illustriert für die Ausstellung, jeweils mit dem ersten Satz der Erzählung:
Kafkas Tiere

Hund
Forschungen eines Hundes, 1922
„Wie sich mein Leben verändert hat und wie es sich doch nicht verändert hat im Grunde!“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Katze & Maus
Kleine Fabel, 1920
„‚Ach‘, sagte die Maus, ‚die Welt wird enger mit jedem Tag.‘“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Affe
Ein Bericht für eine Akademie, 1917
„Hohe Herren von der Akademie! Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Insekt
Die Verwandlung, 1912
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Schakale
Schakale und Araber, 1917
„Wir lagerten in der Oase.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Storch
Der Storch im Zimmer, ca. 1917
„Als ich abends nachhause kam, fand ich in der Mitte des Zimmers ein grosses, ein übergrosses Ei.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Odradek
Die Sorge des Hausvaters, 1917
„Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Lammkatze
Eine Kreuzung, ca. 1917
„Ich habe ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb Lamm.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Streitross
Der neue Advokat, 1917
„Wir haben einen neuen Advokaten, den Dr. Bucephalus. In seinem Äußern erinnert wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von Mazedonien war.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Geier
Der Geier, 1920
„Es war ein Geier, der hackte in meine Füße.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Marderähnlich
In unserer Synagoge, ca. 1922
„In unserer Synagoge lebt ein Tier in der Größe etwa eines Marders.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency

Maulwurfähnlich
Der Bau, 1923-24
„Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen.“
Gestaltung: Julia Volkmar, Visual Space Agency
Informationen zur Ausstellung im Überblick
- Wann 13. Dez 2024 bis 4. Mai 2025
- Eintritt 10 €, erm. 4 €
Online-Tickets für ein bestimmtes Zeitfenster erwerben Sie vor Ihrem Besuch im Ticket-Shop oder direkt an der Kasse. - Wo Altbau 1. OG
Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin
Zum Lageplan

Alle Angebote zur Ausstellung ACCESS KAFKA
- Über die Ausstellung
- Aktuelle Seite: Access Kafka (13. Dez 2024 bis 4. Mai 2025) – ausführliche Informationen zu den Ausstellungskapiteln und Kunstwerken
- Begleitprogramm
- Ausstellungseröffnung – 12. Dez 2024
- Kurator*innenführung mit Shelley Harten – mit festen Terminen
- Access Wort: JMB Buchclub Die Vegetarierin von Han Kang – 21. Jan 2025
- Kafka und die Kunst, Vortrag von Hans-Gerd Koch – 30. Jan 2025
- Access Wort: JMB Buchclub Der Hungerkünstler von Franz Kafka – 25. Feb 2025
- Access Kafka in der JMB-Bibliothek – Öffentliche Führung durch unsere Bibliothek, 19. Mär 2025
- Access Raum: Night Walk mit der Künstlerin Alona Rodeh – 20. Mär & 10. Apr 2025, auf Englisch
- Über Väter. Schreibworkshop mit Brunch und Führung – mit festen Terminen
- Öffentliche Führung – mit festen Terminen
- Öffentliche Führung auf Englisch – mit festen Terminen
- Öffentliche Führung auf Hebräisch – mit festen Terminen
- Buchbare Führungen für Gruppen – Termin nach Absprache
- Buchbarer Workshop für Schüler*innen – Termin nach Absprache
- Digitale Angebote
- Einlass steht aus: Kafkas Judentum – Essay von Vivian Liska aus dem Ausstellungskatalog, 2024
- Themenseite Franz Kafka – Kurzbiografie und weitere Online-Inhalte zum Thema
- Kafka in Berlin – Berlin-Spaziergang auf Jewish Places zu biografischen Stationen von Franz Kafka, verfasst von Hans-Gerd Koch
- Publikationen
- Katalog zur Ausstellung – deutsche Ausgabe, 2024
- Katalog zur Ausstellung – englische Ausgabe, 2024
Gefördert durch


