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Puzzle­teile der Vergangenheit

Was wir bisher über eine Mesusa aus der Linien­straße 141 in Berlin-Mitte wissen

Dem Jüdischen Museum Berlin (JMB) werden regel­mäßig Objekte angeboten. Oft wissen die Anbie­ter*innen oder vermuten es durch in der Familie tradierte Anspielungen, dass sie aus dem Eigen­tum jüdischer Familien stammen, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Die Gegen­stände wurden entweder bei Haus­halts­ver­steige­rungen gekauft, dienten als Gegen­leistung für Lebens­mittel, wurden für jüdische Freund*innen angesichts der drohenden Deportation aufbe­wahrt oder in Wohnungen vorge­funden, aus denen zuvor jüdische Familien deportiert worden waren. Gerade wegen dieser problema­tischen und von ihren heutigen Besitzer*innen oft auch als belastend empfundene Erwerbs­geschichten wenden sich die An­bieter*innen an das Museum.

Das JMB sammelt solche Objekte nicht systematisch, hat sie jedoch in Aus­nahme­fällen als Dokumente der Ver­folgung, der Auf­arbeitung der NS-Vergangen­heit oder als Erinnerungen an die Verfolgten und Ermordeten angenommen. Heute bemühen wir uns gemein­sam mit den An­bieter*innen, die ursprüng­lichen Eigen­tümer*innen zu identi­fizieren und etwaige Erb*innen aus­findig zu machen, um eine Rück­gabe zu ermöglichen. Gelingt dies nicht, bewahren wir die Gegen­stände als Depositum auf – in der Hoffnung, in Zukunft weitere Erkennt­nisse zu gewinnen.

Längliche Metallhülse, von der goldene Farbe großteils abgeblättert ist, oben und unten Löcher zum befestigen.

Mesusa aus der Linien­straße 141, 1880–1940, Metall, Papier, Tinte; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2025/2, Foto: Roman März

Eine Mesusa als Kindheits­schatz

Ein solches Objekt ist die Mesusa aus der Linien­straße 141, deren Geschichte wir hier vor­stellen möchten. Sie ist schlicht gearbeitet und deutet auf einen ein­fachen Haus­halt hin. Sie wurde dem Museum von einem Berliner übergeben. Bis zum Frühjahr 1945 lebte seine Familie in der Linien­straße 125. Nach­dem ihr Haus bei einem Bomben­angriff zerstört wurde, erhielten sie eine Zwei­zimmer­wohnung im ersten Stock des Hauses auf der gegen­über­liegenden Straßen­seite, der Nummer 141. Die Wohnung stand leer, doch Nachbarn erzählten, dass dort bis 1943/44 eine jüdische Familie gelebt hatte, bevor sie deportiert wurde. Die Mesusa befand sich noch am Tür­pfosten der Eingangs­tür.

Was bedeutet Mesusa?

Mesusa (hebr. für Türpfosten), Plural Mesusot, Kapsel gefüllt mit einer Pergamentrolle, die Passagen aus der Tora enthält, wird am rechten Türpfosten als symbolischer Schutz befestigt

Von seiner Mutter und den Nachbarn wusste der damals noch kleine Junge, dass es sich um einen jüdischen Gegen­stand handelte. Aus Neugier nahm er die Kapsel kurz nach Kriegs­ende ab und öffnete sie. Danach bewahrte er die Mesusa gemein­sam mit anderen Kind­heits­schätzen in einer Dose auf, bis er sie Jahr­zehnte später dem Museum übergab – mit dem Wunsch, dass sie nicht in Ver­gessen­heit gerät.

Mit diesen Informationen begannen wir die Suche nach der jüdischen Familie, die bis zu ihrer Deportation hier gelebt hatte.

Jüdische Bewoh­ner*innen der Linien­straße 141 

Unsere Recherchen führten zunächst zur Daten­bank Mapping the Lives, in der nach einstigen Wohn­orten von Ver­folgten des NS-Regimes gesucht werden kann. Die Suche ergab, dass 1939 sechs als jüdisch verfolgte Personen in der Linien­straße 141 lebten: die vier­köpfige Familie Dagowitsch/Dagowitz und ihre beiden Unter­mieterinnen, die Schwestern Klein.

Mapping the Lives

Die in der Volks­zählung von 1939 erfassten Be­wohner*innen der Linien­straße 141
Mehr auf mappingthelives.org

Ignatz Dagowitsch wurde 1888 in Jekaterinoslaw (heute Ukraine) geboren und kam vermutlich nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. 1926 beantragte er hier einen Nansen-Pass, ein Reise­dokument für staaten­lose russische Flücht­linge. In Berlin lernte er Feige Frei­berg kennen, die 1902 in Jaroslau (heute Polen) geboren wurde und 1919 nach Berlin zog. Das Paar heiratete in den 1920er-Jahren, zunächst wohl nur religiös, denn die Ehe wurde erst 1936 standes­amtlich einge­tragen.

Die Dago­witschs hatten zwei Töchter: Susi Mary (geb. 1926) und Sulamith/Schula (geb. 1936). Ignatz arbeitete als Schneider, Feige handelte mit Textilien auf Märkten. Im Berliner Adress­buch sind sie ab 1931 unter der Adresse Linien­straße 141 ver­zeichnet, möglicher­weise wohnten sie aber bereits seit 1925 dort. Bis zu ihrer Aus­wanderung 1933 lebte auch Feiges Schwester Bertha bei ihnen.

Die Dagowitschs im Berliner Adressbuch

Anschauen in der digitalen Landesbibliothek Berlin 

Ende 1938 oder Anfang 1939 zogen die Schwestern Fanny Klein (geb. 1885) und Johanna Breiten­stein, geb. Klein (geb. 1883), als Unter­mieterinnen in die Wohnung der Dagowitschs. Beide wurden in Alten­walde (heute Polen) geboren. Fanny arbeitete als Ange­stellte, Johanna als Haus­hälterin. Eine weitere Schwester, Dora, lebte mit ihrem Mann David Hirsch, ebenfalls Schneider, in der nahe­gelegenen Linien­straße 130.

Dora Hirsch, geb. Klein (1894–1941)

Mehr auf Stolpersteine Berlin 

Am 1. November 1941 wurden alle sechs – Ignatz, Feige, Susi und Sulamith Dago­witsch sowie Fanny und Johanna Klein – nach Litz­mann­stadt deportiert. Digitalisierte Kartei­karten der Berliner Finanz­behörden in den Arolsen Archives belegen, dass sie bis zu diesem Zeit­punkt noch in der Linien­straße 141 wohnten. Im Mai 1942 wurden sie nach Kulm­hof verschleppt und dort ermordet.

Kartei­karte zu Ignatz Dagowitsch

Anschauen in den Arolsen Archives

Ghetto Litzmann­stadt

Mehr bei Wikipedia

Vernichtungs­lager Kulmhof

Mehr bei Wikipedia

Offene Fragen

Unklar bleibt, ob die Wohnung der Dago­witschs tat­sächlich die­jenige war, in die nach Kriegs­ende die Familie des Berliner Jungen zog, der die Mesusa fand. Nach dem Krieg reichten Feiges Geschwister Antrag auf Wieder­gut­machung und Ent­schädigung für Feige und Ignatz Dago­witsch ein. Hier hielt Feiges Schwester Bertha fest:

„Ich selbst kam etwa 1925 nach Berlin und wohnte bei meiner Schwester in der Linienstr. 141 bis zu meiner erzwungenen Aus­wanderung im Jahre 1933. […] Mein Schwager war Schneider. Er hatte seine Werk­stätte in der Wohnung. Die Wohnung meiner Schwester war gut bürgerlich einge­richtet und bestand aus 3 Zimmern.“

Auch eine weitere Verwandte von Feige, die 1934 aus­wanderte, erinnert sich an eine Drei-Zimmer-Wohnung:

„In einem Zimmer war die erwähnte Schneider­werkstatt, und in den beiden anderen Zimmern wohnte die Familie Dagowitsch.“

Ist es denkbar, dass die Dago­witschs Ende der 1930er-Jahre in eine kleinere Wohnung inner­halb des Hauses zogen? Oder gehörte die Mesusa zur Wohnung einer anderen jüdischen Familie, die erst nach 1939 dort einzog?

Wer genau die Mesusa einst anbrachte, konnten wir bislang also nicht ein­deutig klären. Falls Sie mehr über die Geschichte des Hauses wissen oder Nach­fahren der Familie Dagowitsch sind, bitten wir Sie, sich bei uns zu melden. Jede neue Information hilft, ein weiteres Puzzle­teil der Vergangen­heit zusammen­zufügen. Bis dahin bewahren wir die Mesusa sorg­fältig auf – als Zeugnis unter­brochener Leben und in der Hoffnung, sie eines Tages doch noch an Nach­fahren zurück­geben zu können.

Elisabeth Weber, Provenienz­forscherin am JMB

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