Licht verbrauchen
Eine kleine Geschichte rund um rituelle Kerzen
Michal Friedlander
Der Besuch meiner Schwester aus Los Angeles stand an. „Kann ich dir etwas mitbringen?“
, fragte sie mich. Ich zögerte keinen Moment: „Schöne Chanukka-Kerzen, bitte.“
Das Lichterfest lag rund zehn Monate in der Zukunft, aber meine Schwester ist meine seltsamen Wünsche inzwischen gewohnt.
Ich lebe in Berlin, wo jüdische Festkerzen überteuert und nur in geringer Auswahl zu haben sind. Nicht nur nötige ich daher meine Familie, ihr Gepäck schachtelweise mit handgezogenen Chanukka-Kerzen zu belasten, sondern ich nehme es mir auch heraus, mir von reisenden Freundinnen und Freunden aus Israel jüdische Jahrzeit-Gedenkkerzen mitbringen zu lassen. Diese langjährige Praxis meinerseits ist so unzeitgemäß wie unfair, schließlich könnte ich meinen Vorrat an rituellen Kerzen auch durch eine Online-Bestellung aufstocken. Doch an manche Errungenschaften des modernen Lebens passe ich mich nur zögernd an. Außerdem lösen die Kerzen für meine Besucherinnen und Besucher das Problem des Gastgeschenks, also haben alle etwas davon.
Bei jüdischen Ritualen werden große Mengen von Kerzen angezündet. Seit der Erschaffung des Lichts im ersten Kapitel der Hebräischen Bibel durchziehen die Motive Licht und Feuer jüdische Texte von der Antike bis in die Gegenwart. Über jede Erwähnung von Licht in den hebräischen Schriften wurde gegrübelt, jede wurde genauestens studiert, ihr Kontext und Sinn diskutiert und ausgelegt. Es gibt im Judentum nicht die eine, feste Bedeutung von Licht, und mit der Zeit wurden unterschiedliche Lichtmetaphern in Bestandteile der rituellen Praxis umgewandelt.
Die bekannteste Zeremonie des Kerzenanzündens wird kurz vor dem Beginn des Schabbats oder anderer Feiertage abgehalten. Das Licht ist verbunden mit dem Moment der Unterscheidung von Tag und Nacht, von Licht und Dunkelheit, von Heiligem und Profanem. Das Ende des Schabbats markiert eine Zeremonie namens Hawdala, die ebenfalls das Entzünden von Kerzen umfasst.
Das Wort Hawdala leitet sich vom hebräischen Verb lehawdil – trennen – her: Das Fest ist zu Ende, und die Schaffung des Feuers markiert die Rückkehr zur säkularen Zeit und zum normalen Arbeitstag. Im Judentum sind Lichtrituale noch in weitere Feiertagstraditionen integriert – und in die Riten rund um die Lebensereignisse Beschneidung, Hochzeit, Tod. Die Bräuche unterscheiden sich je nach Region und Epoche. Doch egal wo: Der hohe zeremonielle Lichtverbrauch wirft eine Frage auf, die jüdische Gemeinden seit Generationen beschäftigt: Woher bekommen wir Kerzen?
Das Problem reicht bis in biblische Zeiten zurück. Nach der Offenbarung der Tora auf dem Berg Sinai gibt Gott Anweisungen für den Bau eines Tabernakels (Mischkan) als Aufenthaltsort für Gott auf Erden. In der detaillierten Bauanleitung findet sich der Befehl, „reines Öl aus gestoßenen Oliven für den Leuchter“
im transportablen Tabernakel zu liefern (Exodus 27, 20). Der Leuchter sollte vom Abend bis zum Morgen brennen, um die Dunkelheit zu vertreiben. Später schätzten die Rabbiner, dass dafür täglich zwischen 170 und 301 Milliliter Öl nötig waren. Da die Israeliten das beste Olivenöl bereitstellen sollten, teilten sie sich die Verantwortung, im Tabernakel Licht zu machen und es in Brand zu halten. Einige Epochen später war das jüdische Volk zerstreut und siedelte sich in verschiedenen Teilen der Welt an. Wo sich eine jüdische Gemeinde bildete, wurde ein Ort des Lernens und des Gebets bestimmt und, falls die Mittel es zuließen, eine Synagoge erbaut, als Versammlungsort und Herz der Gemeinde. So wie die Israeliten der Antike sich die Verantwortung für den Erhalt der Flamme im Tabernakel teilten, trugen die Mitglieder einer Synagoge gemeinsam dafür Sorge, dass das Ner Tamid, das Ewige Licht in der Synagoge, immer genug Öl hatte. Vor der Einführung von Elektrizität stellten die Gemeindemitglieder außerdem sicher, dass immer hinreichend Kerzen oder Öl vorhanden waren, um die Synagoge selbst zu erleuchten. Das Licht des Ner Tamid hat bis heute höchste Bedeutung. Aus Sicherheitsgründen setzen viele Synagogen mittlerweile eine elektrische Lichtquelle ein. Im Mittel- und Osteuropa des 13. bis 15. Jahrhunderts (Aschkenas) hingegen wurde vielerorts eigens eine Gesellschaft namens Chewrat Ner Tamid gegründet, um das Geld zum Kauf des Öls aufzubringen, das für den Erhalt der Flamme nötig war.
Neben Spendenaufrufen für das Synagogenlicht führten zahlreiche Gemeinden eine raffinierte – auch aus Kirchengemeinden bekannte – Maßnahme ein: die Wachsstrafe. In Aschkenas finden sich etliche Beispiele für Synagogenstatuten, die festsetzten, dass Bußgelder in Wachs zu entrichten waren, welches für die Synagoge, für die Schule oder für die Armen der Gemeinde gesammelt wurde. Fällig wurden diese Bußgelder, wenn ein Gemeindemitglied gegen die Synagogenregeln verstieß. Vor allem schlechtes Benehmen beim Gottesdienst scheint ein verbreitetes Problem gewesen zu sein: Zuspätkommen, übermäßiges Lärmen, Gespräche über unschickliche Themen oder Rangeleien im Gottesdienst wurden gemeinhin mit einer Strafe von ein bis drei Pfund Wachs belegt. (Im 19. Jahrhundert wurde die Wachsstrafe in eine Geldstrafe umgewandelt, ihr Name blieb aber erhalten.) Das mit der Wachsstrafe aufgebrachte Brennmaterial kam wohltätigen oder rituellen Zwecken zugute.
Was bedeutet Aschkenas?
Aschkenas, hebräisch, seit dem Mittelalter Bezeichnung für das Gebiet des heutigen Deutschland, später auch von (Nord-)Frankreich, Norditalien
Dass die jüdische Glaubenspraxis so viele Lichtrituale umfasste, wurde allerdings auch als politisches Druckmittel ausgenutzt, mit dem Ziel, die finanzielle Stabilität der jüdischen Gemeinden auszuhöhlen. Im September 1810 erließ Franz I., selbst ernannter Kaiser von Österreich, ein Edikt gegen die jüdische Bevölkerung Galiziens. Es legte einen „Lichterzündungs-Aufschlag“ fest – eine Gebühr auf jede einzelne Kerze oder Lampe, die für jüdisch-rituelle Zwecke entzündet wurde. Der Erlass führte die jüdischen Verwendungen ritueller Lichter im Einzelnen auf, mit bemerkenswerter Kenntnis über die Zahl der Kerzen, die dabei jeweils zum Einsatz kamen. Auch auf koscheres Fleisch wurde eine Zusatzsteuer erhoben, aber der Fleischverzehr ließ sich ja reduzieren. Hingegen war es für Jüdinnen und Juden religiöse Vorschrift, bei bestimmten Zeremonien Lichter zu entzünden. Der einzige Weg, die Steuerlast zu senken, bestand also darin, Talgkerzen oder Öl zu verwenden, denn diese beiden Lichtquellen wurden niedriger besteuert als Kerzen aus Bienenwachs.
Bienenwachs ist seit jeher ein kostspieliger Luxusartikel, und oft musste man sich mit Talgkerzen begnügen. Talg allerdings ist ein unkoscheres Erzeugnis aus tierischem Fett. Das konnte zu Schwierigkeiten führen, wie es die Kindheitserinnerungen eines populären jiddischen Autors, der unter dem Pseudonym Scholem Alejchem (1859–1916) schrieb, bezeugen: Als die Gemeinde das Simchat Tora-Fest beging, zogen die Kinder seines Heimatschtetls Woronko mit selbst gebastelten Papierflaggen, an Stöcken befestigt, durch den Ort. Auf der Spitze jedes Stocks steckte ein Apfel, der wiederum mit einer brennenden Kerze gekrönt war.
„Nun war alles, was ich brauchte, ein Apfel und eine Kerze. Eine Kerze aus Wachs natürlich, nicht aus Talg – denn wenn Talg auf den Apfel tropfte, war der Apfel verdorben und konnte nicht mehr gegessen werden. Wachs dagegen schadete nicht, Wachs war koscher. Und ich hatte mehr Wachs als jedes andere Kind. […] Schließlich war mein Vater der Schammes des Keller-Gebetsraums der Synagoge der Metzger. Was nach Jom Kippur von den Kerzen übrig blieb, gehörte ihm – das konnte er behalten.“
Scholems Vater schmolz die Überbleibsel der Jom Kippur-Kerzen ein und machte Chanukka- und Hawdala-Kerzen daraus. Scholem selbst durfte dann die Reste der Hawdala-Kerzen einsammeln, und diese verwendete er für Simchat Tora. Der Text verweist damit auf ein besonderes Lichtritual zu Jom Kippur, das in mittel- und osteuropäischen Gemeinden jahrhundertlang befolgt wurde. Zusätzlich zu den am Vorabend von Jom Kippur entzündeten Feiertagslichtern wurden zwei viel größere Kerzen aufgestellt, groß genug, um während des ganzen Festes zu brennen. Eine dieser Kerzen war das Ner ha-Bria, das „Licht der Gesundheit“ – jeder verheiratete Mann und jede Witwe entzündete es. Das andere war das Ner Neschama, das „Licht der Seele“, ein Gedenklicht, das bis heute jede Frau und jeder Mann mit einem verstorbenen Elternteil anzündet.
Es war Brauch, das „Licht der Gesundheit“ am Vorabend von Jom Kippur mit in die Synagoge zu bringen. Da es als schlechtes Omen galt, wenn die Flamme erlosch, wurden die Kerzen oft zusammengestellt, sodass es schwerfiel, sich die eigene zu merken. Die herabgebrannten Stumpen verblieben in der Synagoge, womit eine persönliche Zuordnung erst recht unmöglich wurde, und wurden dann eingesammelt, damit ihr Wachs für andere rituelle Zwecke wiederverwendet werden konnte. Diese großen Jom Kippur-Kerzen wurden von den Frauen der Gemeinde hergestellt, und während sie die Dochte vorbereiteten (Kneytlach leygn), sprachen sie Gebete, Tchines genannt. Höchst bemerkenswert ist ein Bittgebet aus dem 18. Jahrhundert, das Sara bat Tovim eigens für dieses Ritual schrieb. Es enthält die Worte:
Möge es Dein Wille sein, dass wir an diesem Jom Kippur-Vorabend in gutem Gedächtnis bleiben, da wir diese Kerzen der Synagoge spenden. […] Mögen unsere Gebete beim Schein der Kerzen mit ganzer Hingabe und ganzem Glauben gesprochen sein …
Die Mechanisierung der Kerzenherstellung setzte der langen Tradition von Frauen, die rituelle Lichter anfertigten, ein Ende, doch das Judentum ist eine lebendige Religion, und neue Rituale bilden sich ganz natürlich aus. Der unaussprechliche menschliche Verlust der Schoa führte in der jüdischen Gemeinschaft zu einem Gefühl der Zerstörung und tiefen Trauer. Als ein Teil des Trauerprozesses ergab sich ein besonderes Bedürfnis nach Zusammenkunft, um der Toten zu gedenken, gemeinsam zu trauern und zu beten. Jom ha-Schoa, der Holocaust-Gedenktag, wird in Israel seit 1949 begangen und ist von jüdischen Gemeinden in aller Welt übernommen worden. Doch auch wenn es Jom ha-Schoa seit fast 70 Jahren gibt, bestehen noch immer keine offizielle Liturgie und kein festgelegtes Ritual für diesen Tag.
Bei den Gedenkzeremonien zu Jom ha-Schoa ist es üblich, sechs Kerzen zu entzünden, die für die sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden stehen. Oft wird dafür die symbolträchtige Menora verwendet, obwohl sie sieben Arme hat. Häufig sind es Holocaust-Überlebende, die die Kerzen anzünden, doch der Brauch wird sich nicht mehr lange aufrechterhalten lassen, weil die letzte Generation der Überlebenden ausstirbt. Die jüdischen Lichtrituale haben zur Produktion von Schabbat-Leuchtern, Chanukka- und Ner-Tamid-Kerzen und Gendenklichtern geführt – aber bedarf diese vergleichsweise neue rituelle Praxis eines speziellen ha-Schoa-Leuchters oder einer anderen Art ritualspezifischen Lichts?
Viele jüdische Lichtrituale sind religiöse Vorschriften, doch das Entzünden der Chanukka-Kerzen ist auch unter nicht-orthodoxen und säkularen Jüdinnen und Juden weit verbreitet. Solche Bräuche werden zum festen Bestandteil des persönlichen Kalenders und der eigenen Lebensweise – man befolgt sie, gleich, an welchem Ort man sich befindet. Wie wichtig das ist, zeigt auch das Fluchtgepäck vieler Auswanderinnen und Auswanderer:
Familie Faifer aus Berlin floh 1938 vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Zu den Habseligkeiten, die sie mitnahmen, zählten ein Chanukka-Leuchter und mehrere Schachteln Chanukka-Kerzen. Für alle Fälle. Die Faifers gelangten nach Australien und müssen dort reichlich Kerzen vorgefunden haben – ihr Berliner Kerzenvorrat lag fast 80 Jahre lang in einem Schrank und wurde niemals aufgebraucht.
Als ich all die Chanukka-Kerzen auspacke, die mir meine Schwester aus Los Angeles mitgebracht hat, stoße ich auf ein Sortiment, das in Deutschland unbekannt ist: Ein pinkfarbener Satz Kerzen soll auf Brustkrebs aufmerksam machen, ein Teil des Verkaufserlöses geht an eine jüdische Organisiation zur Unterstützung von Brustkrebserkrankten. Mit dem Kauf eines Kerzensatzes in Khaki-Tönen werden amerikanische Soldatinnen und Soldaten unterstützt. Ich frage mich, ob politische Schwerpunkte und kulturelle Voreingenommenheiten der Gegenwart sich in jüdischen Ritualen der Zukunft niederschlagen werden. Wird es den Holocaust-Gedenktag in 150 Jahren noch geben? Und wenn ja, wird dann eine besondere Art Kerze für das Gedenkritual verwendet?
Gewiss ist nur das: Solange jüdische Rituale ausgeübt werden, besteht immer Bedarf an zeremoniellen Lichtritualen. Und an Lichtquellen.
Michal Friedlander hat an Museen in New York, Los Angeles und Berkeley gearbeitet. Sie hat zahlreiche Ausstellungen kuratiert und zu einer großen Bandbreite jüdischer Themen publiziert. Seit 2001 ist sie Kuratorin für Judaica und angewandte Kunst am Jüdischen Museum Berlin.
Der Beitrag erschien 2018 in der gedruckten Ausgabe des JMB Journals 18.
Zitierempfehlung:
Michal Friedlander (2018), Licht verbrauchen . Eine kleine Geschichte rund um rituelle Kerzen.
URL: www.jmberlin.de/node/5536