Ein „Schutzbrief“ für Heinrich Katz
Im Zuge der Reichstagswahlen und der großen Boykottaktion kam es insbesondere im März und April 1933 überall in Deutschland zu zahlreichen willkürlichen Verhaftungen und gewalttätigen Übergriffen auf Einzelpersonen und Geschäfte.
Der Boykott vom 1. April 1933 war die erste landesweit durchgeführte antisemitische Maßnahme des NS-Regimes: Überall in Deutschland waren SA-, SS-Männer und Polizisten vor jüdischen Gewerbebetrieben, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien postiert. Sie trugen Schilder mit Aufschriften wie „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“
, skandierten diese Parole auch in Sprechchören auf den Straßen, blockierten Eingänge und hielten Kunden davon ab, ihre Einkäufe und Besorgungen zu tätigen.
Anhand des Projekts Topographie der Gewalt, das für die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin entwickelt wurde, lässt sich nachvollziehen, dass Unternehmen noch bis 1937 Schwerpunkte der Übergriffe der Nazis und ihrer Mittäter*innen waren. Sie beschmierten und kennzeichneten die Geschäfte, zerschlugen Fensterscheiben und demolierten Geschäftsräume, fotografierten die Kundschaft und prangerten sie zur Einschüchterung an.
Auch das Schuh- und Ledergeschäft des Kaufmanns Heinrich Katz, das er seit 1932 mit einer angeschlossenen Schuhreparaturwerkstatt in Darmstadt führte und in dem auch seine Frau Sally arbeitete, wurde während des Boykotts am 1. April 1933 blockiert.
In der Familiensammlung Katz/Rubin befindet sich ein Notizzettel vom 25. April 1933, auf dem handschriftlich vermerkt ist: „Ab heute 12 Uhr sind jede Aktionen zu unterlassen.“
Unterzeichnet und gestempelt wurde diese Anordnung vom Truppführer Wagner des SA-Sturmbanns III/115. Die Dienststelle dieser Einheit befand sich in einem Nachbarhaus des Schuhgeschäfts von Heinrich Katz in der Kirchstraße. Die Vorderseite des Zettels ist ein Bestellformular für ein Abonnement des Wochenblatts Hessenhammer, einem regionalen nationalsozialistischen Hetzblatt, das seit Ende der 1920er Jahre zuerst in Worms und dann in Darmstadt erschien.
Aus weiteren Unterlagen geht hervor, dass Heinrich Katz nach eigener Aussage eine „Zwangsspende“ von 10.000 RM an einen SA-Sturmbann tätigen musste. Wir nehmen an, dass diese Zahlung in Verbindung mit der handschriftlichen Anordnung von SA-Sturmbannführer Wagner steht, und somit eine Art „Schutzgeld“ darstellt, die Katz bezahlte oder bezahlen musste, um sich vor erneuten Blockaden seines Geschäfts und dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Schaden zu schützen.
Ob diese Zahlung bzw. die Anordnung des Sturmbanns ihm tatsächlich einen Schutz vor weiteren antisemitischen Maßnahmen bot, ist fraglich. Sicher ist jedoch, dass der Boykottaufruf des Regimes bereits 1934 Auswirkungen zeigte: Der Umsatz seines Geschäfts hatte sich im Vergleich zu den Vorjahren halbiert.
Heinrich Katz entschied sich daraufhin Anfang 1935, sein Geschäft aufzugeben und einen Ausverkauf zu veranstalten. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Warenwert seines Lagers etwa 40.000 RM. Aufgrund behördlicher Anordnung musste der Ausverkauf innerhalb von nur 14 Tagen stattfinden und durfte nicht beworben werden. Begründet wurde dies damit, dass Katz nicht befugt sei, durch einen Ausverkauf die christliche Konkurrenz zu schädigen. Zur Kontrolle wurde ein Sachverständiger eingesetzt, der dafür sorgte, dass die Waren zu einem Gesamterlös von lediglich 8.000 RM verschleudert wurden.
Zusammen mit seiner Frau Sally emigrierte Heinrich Katz 1935 nach Palästina.
Sabrina Akermann
Zitierempfehlung:
Sabrina Akermann (2020), Ein „Schutzbrief“ für Heinrich Katz.
URL: www.jmberlin.de/node/7419
Online-Projekt: Zeugnisse der Brutalität (7)