Wenn die Leinwand die Malerei nicht mehr trägt
Neue Konservierungsmethode für das Gemälde Auf dem Weg ins Bethaus von Jakob Steinhardt
Franziska Lipp
Bevor ein Gemälde in der Dauerausstellung an seinem Platz hängt, prüfen wir Restaurator*innen den Zustand und führen bei Bedarf konservatorische Maßnahmen durch. Als wir das gerahmte Gemälde Auf dem Weg ins Bethaus von Jakob Steinhardt zum ersten Mal sichteten, konnten wir zunächst keine gravierenden Schäden feststellen.
Umso größer war unsere Überraschung, als wir es aus dem Zierrahmen nahmen: stark wechselnde Luftfeuchtigkeit, rostige Nägel und eine lose Befestigung im Zierrahmen hatten zu großen Rissen und Löchern an den Außenkanten des Gemäldes geführt. Jetzt lag im Rahmen eine braune Staubschicht aus abgefallenen, kleinsten Leinwandfasern. In diesem Zustand bot die Leinwand kaum Stabilität für die schwere, dick auf Vorder- und Rückseite aufgetragene Ölmalerei. Meine Aufgabe war es, eine neue Methode zu entwickeln, um die Leinwand zu stabilisieren.
Schritt 1: Das geeignete Material finden
Eine Möglichkeit, um stark beschädigte Leinwandkanten eines Gemäldes zu konservieren, ist das Bekleben der Rückseite des geschwächten Randes mit einem Textil – unter Restauratoren als „Randdoublierung“ bezeichnet. Zur besseren Stabilisierung wird diese oft auf der Rückseite der Leinwand bis hinter den bemalten Bereich der Vorderseite geklebt. Da sich in meinem Fall auf der Rückseite von Steinhardts Gemälde aber ebenfalls Malerei befindet, sollte die Randdoublierung diesen Bereich so wenig wie möglich verdecken.
Aufgrund dieser speziellen Problematik, verglich ich zunächst mit Hilfe einer Testreihe verschiedene Materialien, die sich zur Stabilisierung von stark zerstörten Leinwandrändern eignen könnten. Durch Recherchen und Gespräche mit Restaurator*innen verschiedener Spezialisierungen konnte ich zahlreiche Materialien für die Testreihe identifizieren. Bei den Stabilisierungsgeweben fiel meine Wahl auf zwei Japanpapiere, zwei dünne Leinenstoffe und ein feines Seidengewebe. Als Klebemittel entschied ich mich für eine Acrylklebermischung sowie einen gebrauchsfertigen Klebemittelfilm, der sich in der Restaurierung von Leinwänden bewährt hat.
In der Restaurierung sind zwei Kriterien besonders wichtig: die Materialien müssen lange halten, ohne sich zu verändern und im Idealfall wieder vollständig entfernbar sein. So können Restaurator*innen sicherstellen, dass das Gemälde nicht beschädigt wird und zukünftige Restaurierungen nicht beeinträchtigt werden.
Da kein Stabilisierungsmaterial alle meine Anforderungen gleichermaßen erfüllen kann, war das Ziel der Testreihe herauszufinden, welche Kombination aus Gewebe beziehungsweise Papier und Klebemittel am besten für Steinhardts Gemälde geeignet ist. Um den beklebten Bereich weiterhin zu sehen, suchte ich ein dünnes Textil oder Papier, welches gemeinsam mit dem Klebemittel eine hohe Transparenz bekommt. Gleichzeitig sollte die Randdoublierung die empfindliche Leinwand ausreichend stabilisieren, um ein erneutes Aufspannen auf einen neuen Keilrahmen zu ermöglichen.
Schritt 2: Die Testreihe
Für die Testreihe kombinierte ich die ausgewählten Textilien und Papiere jeweils mit einem der beiden Klebemittel und klebte sie auf eine kleine Test-Leinwand, die in ihrer Webart und Stärke dem Original ähnelte. So konnte ich die Kombinationen direkt miteinander vergleichen und die folgenden Eigenschaften bewerten.
- Wie gut hält das aufgeklebte Textil/Papier an der originalen Leinwand, auch beim Falten und unter Zug?
- Wie gut stabilisiert das aufgeklebte Textil/Papier den beschädigten Leinwandbereich?
- Wie gut ist der Zustand des Untergrundes durch das Textil/Papier sichtbar?
- Wie viel dicker ist der Bereich mit einer Textil-/Papierbeklebung im Gegensatz zur einfachen originalen Leinwand?
- Wie flexibel oder steif ist der Bereich mit einer Textil-/Papierbeklebung im Gegensatz zur originalen Leinwand?
- Wie leicht lässt sich die Randdoublierung wieder entfernen?
Die besten Ergebnisse erzielte ein feines Seidengewebe, das ich mit einer dünnflüssigen Acrylklebermischung bestrichen hatte. Die Wärme eines Heizspachtels reichte aus, um den Kleber auf der Seide zu erweichen, sodass er wieder klebrig wurde und das Seidengewebe an der Leinwand haftete, ohne diese mit Klebemittel zu tränken. Auch bei einem Test an der Ecke der Original-Leinwand überzeugte diese Kombination.
Schritt 3: Die Restaurierung
In Vorbereitung auf die Randdoublierung hatte ich bereits vor der Testreihe die Malschicht auf der Vorder- und Rückseite vorsichtig gereinigt. Da der originale Keilrahmen sehr scharfkantig und instabil war, nahm ich ihn ab, um ihn später durch einen neuen mit abgerundeten Ecken zu ersetzen. Zur Trennung von Leinwand und Keilrahmen legte ich das Gemälde mit der Vorderseite nach unten auf einen gepolsterten Tisch und sah für lange Zeit nur die Rückseite des Gemäldes.
Für die Stabilisierungsarbeiten an den Beschädigungen der Gemälderänder nutzte ich das Mikroskop unserer Werkstatt. Unter dieser Vergrößerung schloss ich zunächst die Risse und Löcher mit feinen Leinenfäden und kleinen Leinwandstückchen, die exakt in die fehlende Stelle eingeklebt werden. Durch die Verwendung von hellem Leinen ist die Ergänzung deutlich von der dunklen Original-Leinwand zu unterscheiden. Im nächsten Schritt brachte ich an den Rändern der Leinwand-Rückseite das Seidengewebe aus der Testreihe an. Da viele Löcher in der Leinwand direkt bis an die Malschicht heranreichten, konnte ich eine ausreichende Stabilisierung nur erreichen, indem ich das Seidengewebe teilweise bis zu 5 Millimeter auf die Malschicht klebte. Durch die Transparenz der Seide sind diese Malschichtbereiche dennoch weiterhin sichtbar.
Nach der erfolgten Stabilisierung der Leinwand, konnte ich das Gemälde auf seinen neuen Keilrahmen aufspannen. Erst zu diesem Zeitpunkt sah ich die Vorderseite mit der Darstellung Auf dem Weg ins Bethaus nach monatelanger Arbeit an der Rückseite wieder. Abschließend kontrollierte ich die allgemeine Stabilität der Malschicht, füllte kleine Fehlstellen mit Kitt und retuschierte diese Bereiche.
Der originale Keilrahmen war für eine erneute Verwendung zu instabil und hätte mit seinen scharfen und splitternden Außenkanten die Leinwand erneut beschädigt. Da wir vermuten, dass Jakob Steinhardt diesen Keilrahmen selbst baute, lagern wir ihn im Museumsdepot.
Schritt 4: Vorbereitung für die Ausstellung
Für die Ausstellung wurde das Gemälde gerahmt und bekam einen durchsichtigen Rückseitenschutz. Dieser ermöglicht uns Restaurator*innen, den Zustand der Leinwand sowie die rückseitige Malerei zu sehen, ohne das Gemälde aufwendig aus dem Zierrahmen nehmen zu müssen.
In der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin befinden sich mehrere doppelseitig bemalte Gemälde von Jakob Steinhardt. Bei Bedarf können diese mit einer angepassten Version der von mir entwickelten Methode gesichert werden. Das Gemälde Auf dem Weg ins Bethaus sowie weitere Werke des Künstlers hängen in der Dauerausstellung im Themenraum Kunst und Künstler. Weitere Werke von Jakob Steinhardt finden Sie in unserer Online-Sammlung.
Zitierempfehlung:
Franziska Lipp (2020), Wenn die Leinwand die Malerei nicht mehr trägt. Neue Konservierungsmethode für das Gemälde Auf dem Weg ins Bethaus von Jakob Steinhardt.
URL: www.jmberlin.de/node/7665