Das Unsichtbare sichtbar machen
Samson II von Ernest Neuschul, 1923–1955, Ankauf, 2017
Der 1895 in Aussig, im heutigen Tschechien, geborene Künstler Ernest Neuschul zählte in der Weimarer Republik zu den bekanntesten Malern der Neuen Sachlichkeit. Nach seiner Flucht nach Großbritannien geriet er jedoch in Deutschland in Vergessenheit. Für Samson II schaffte er ab 1923 ein Gesamtkunstwerk, bestehend aus einem geschnitzten Zierrahmen und dem Gemälde, mit einer für damalige Verhältnisse monumentalen Größe von 120 mal 155 Zentimeter mit Zierrahmen.
Auf einer groben, unregelmäßig gewebten Leinwand trug er in unterschiedlicher Stärke Ölfarbe auf, sodass in einigen Bereichen zahlreiche Schichten übereinander liegen, während an anderen Stellen unter der dünnen Farbe noch die Fadenstruktur der Leinwand sichtbar ist. Das Gemälde zeigt die Szene, in der Samson durch das Nachwachsen seiner Haare seine übermenschlichen Kräfte wiedererlangt und den Tempel der Philister zum Einsturz bringt.
Ein Gemälde mit auffälliger Malschicht
Als das Gemälde Samson II in unsere Sammlung kam, fielen uns Restaurator*innen bei der ersten Zustandsuntersuchung gleich mehrere Ungereimtheiten an der Malschicht auf. Während an den meisten Stellen die Farbe graduell miteinander auf der Leinwand vermischt wurde, um sanfte Farbübergänge zu gestalten, zeugen andere sehr dicke Farbbereiche mit ungemischten Farben von späteren Übermalungen.
Um diese Auffälligkeiten berührungslos untersuchen zu können, wurde das Gemälde mit unsichtbarer Strahlung im ultravioletten, infraroten und Röntgenbereich be- und durchleuchtet. Wir verglichen die entstandenen Aufnahmen mit dem Original und konnten nicht nur feststellen, dass der Künstler das Gemälde mehrfach überarbeitet hatte, sondern auch, dass sich unter dem heute sichtbaren Gemälde eine Vorversion mit dem Titel Samson I befindet, von der eine schwarz-weiße Abbildung im Fotoalbum des Künstlers erhalten ist.
Restauratorische Spurensuche
Die Untersuchung mit UV-Strahlen zeigte auf dem Gemälde einen typischen Naturharz-Überzug, in dessen grünlicher Fluoreszenz allerdings zahlreiche dunkle und fleckige Areale erkennbar waren. An diesen Stellen befinden sich Übermalungen in Ölfarbe, von denen teilweise noch der stupfende Pinselduktus erkennbar ist.
Dagegen fluoreszieren die weißen Zacken am Himmel auffällig rosa. Dies könnte darauf hinweisen, dass der Künstler hier eine bleiweißhaltige Farbe auf den Firnis, dem transparenten Überzug zum Schutz des Gemäldes, aufgetragen hat.
UV-Untersuchung
Bei der Untersuchung mit ultravioletter Strahlung können Restaurator*innen sowohl Naturharzfirnisse als auch verschiedene Pigmente durch ihre charakteristische Fluoreszenz, einem typischen Leuchten von Materialien nach der Bestrahlung mit UV-Strahlen, identifizieren.
Der Künstler fertigte mit Kohle Vorzeichnungen auf der Grundierung seiner Gemälde an.1 Ein paar Linien dieser Vorzeichnung konnten wir mit Hilfe der infraroten Strahlung in einem Bereich mit sehr dünnem Farbauftrag tatsächlich entdecken. Darüber hinaus fanden wir mit Erstaunen mehrere Signaturen des Künstlers unter der heutigen Malschicht. Im Bereich der Kohleunterzeichnung ist beispielsweise das Künstlerkürzel „EN“ sichtbar. Zwei weitere Signaturen befinden sich in der rechten unteren Ecke, wovon eine ebenfalls auf dem Foto der Vorversion Samson I sichtbar ist.
IRR-Untersuchung
Bei der Bestrahlung eines Gemäldes mit infraroter Strahlung, dringt diese durch die obersten Schichten hindurch und wird von tiefer liegenden Malschichten reflektiert. Dies ermöglicht es Restaurator*innen, sichtbar zu machen, was sich unter den obersten Farbschichten verbirgt.
Mit Hilfe der Röntgenstrahlen ließ sich eine weitere Signatur entdecken. In der unteren Mitte hat Ernest Neuschul auf die bereits vorhandene Malschicht eine bleiweißhaltige Farbe aufgebracht und in diese mit dem Pinselstil seinen Namen eingeritzt. Durch die Verdrängung der bleihaltigen Farbe, ist die Beschriftung in der Röntgenaufnahme deutlich erkennbar.
Röntgenstrahlen
Wenn Gemälde einer Röntgenstrahlung ausgesetzt werden, durchdringen die Röntgenstrahlen das Werk und werden auf einem dahinter liegenden Film aufgezeichnet. Sie zeigen nicht nur Metallteile wie Nägel, sondern auch Schichten von Bleipigmentfarben, die die Röntgenstrahlen blockieren und auf den Bildern weiß erscheinen.
Langjährige Schaffensprozess
Durch die Untersuchungen wissen wir nun, dass Ernest Neuschul zunächst auf einer Kohlezeichung das Gemälde Samson I malte. Dieses ist rechts unten signiert mit „Ernest Neuschul / Sept. 1923“ und wird in einem Artikel vom 17. Januar 1924 sogar von Max Brod im Prager Abendblatt2 in einer Ausstellungsbeschreibung erwähnt.
In den darauffolgenden Jahrzehnten, die für Ernest Neuschul von Krieg und Flucht geprägt waren, führte der Künstler zahlreiche Veränderungen an seinem Gemälde durch. Die Komposition der Berge auf der rechten Seite wurde verändert, Details an Säulen und eine Kette am Fuß des Samson wurden übermalt, Signaturen geändert und der Himmel bekam eine dramatischere Wetterlage. Eine genaue Datierung der Übermalungen ist zwar mittels strahlentechnischer Untersuchung nicht möglich, aber aus der Beschriftung der Fotos im Album des Künstlers erfuhren wir, dass diese Veränderungen in der Zeit bis 1955 ausgeführt wurden. Das Thema des Samson scheint den Künstler Ernest Neuschul mehr als 30 Jahre lang beschäftigt zu haben. Ein anderes Foto in diesem Album zeigt ein weiteres Gemälde mit dem Titel Samson III, das heute als verschollen gilt.
Franziska Lipp, Gemälderestauratorin
Zitierempfehlung:
Franziska Lipp (2021), Das Unsichtbare sichtbar machen. Samson II von Ernest Neuschul, 1923–1955, Ankauf, 2017.
URL: www.jmberlin.de/node/8433