Rabbinerstudium in der Hauptstadt Nazi-Deutschlands
Ausweis der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums für Wolfgang Hamburger, Berlin, 1939-1942, Schenkung von Wolfgang Hamburger 2004
Zu den bedeutendsten Einrichtungen, die deutschen Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Leben riefen, zählte die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Eröffnet in Berlin im Jahre 1872, fungierte sie mehr als 70 Jahre lang als führendes Institut für das wissenschaftliche Studium des Judentums und für die Ausbildung liberaler Rabbiner. Einer der letzten Studenten der Institution war Wolfgang Hamburger, dessen Hochschulausweis wir hier sehen.
Studienbeginn im Zweiten Weltkrieg
Geboren 1919 in Stettin als Kind eines jüdischen Vaters und einer evangelischen Mutter, nahm er das Rabbinerstudium im Dezember 1939 auf, also drei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Ausweis trägt Stempel, die seine kontinuierliche Immatrikulation vom Wintersemester 1939 bis zum Sommersemester 1942 bescheinigen. Interessanterweise wird die Institution auf dem Ausweis als „Hochschule“ bezeichnet, obwohl sie schon 1933 durch die Behörden gezwungen wurde, ihren Namen in „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ zu ändern, wie der Wortlaut auf den einzelnen Stempel zeigt. Neben den biografischen Daten zu Wolfgang Hamburger finden wir auf den Innenseiten des Dokuments die Unterschrift von Rabbiner Leo Baeck, Vorsteher des Lehrerkollegiums. Als Präsident der Reichsvertretung (später Reichsvereinigung) der Juden in Deutschland war er die Leitfigur der deutschen Juden in den Jahren der Unterdrückung und Verfolgung.
Wie es gewesen sein muss, eine Rabbinerausbildung zu Kriegszeiten in der Hauptstadt Nazi-Deutschlands aufzunehmen, ist kaum vorstellbar. Nur ein Jahr zuvor waren hier Synagogen und Betstuben zerstört worden. Fast alle Juden in Deutschland suchten nun händeringend nach einem Weg aus dem Land. Wolfgang Hamburgers Studium fand zudem unter einer zusätzlich großen Erschwernis statt: Ab 1941 wurde er bei der Metallfirma Ehrich & Graetz zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Schließung der Lehranstalt
Am 19. Juli 1942 befahl das Nazi-Regime die Schließung der Lehranstalt. Wolfgang Hamburger behielt seinen Ausweis trotz der rückseitigen Bestimmung, dass dieser bei Verlassen der Anstalt abzugeben sei. Auf dringenden Rat von Leo Baeck verließ er Berlin und kehrte im Dezember desselben Jahres nach Stettin zurück. Während die letzten Lehrkräfte und Studierenden der Hochschule in den Monaten vor und nach der Schließung fast alle deportiert wurden, entging Wolfgang Hamburger diesem Schicksal, da seine Mutter „Arierin“ war. Er musste jedoch in seiner Geburtsstadt weiterhin Zwangsarbeit leisten. Dabei erlitt er eine schwere Rückenverletzung, den Krieg aber hatte er überstanden.
Emigration in die USA
1945 nahm Wolfgang Hamburger ein Studium der Theologie und Philosophie an der Berliner Universität auf, und arbeitete auch als Rabbinatsanwärter bei der Jüdischen Gemeinde. 1947 emigrierte er mit seiner Mutter in die USA und setzte sein Rabbinerstudium am Hebrew Union College in Cincinnati fort. Nach seiner Ordination 1952 folgte eine lange und fruchtbare Karriere als Rabbiner in sechs verschiedenen Städten, zuletzt in St. Joseph Missouri, wo er und seine Frau Susan, die mit ihren Eltern 1940 aus Breslau geflohen war, blieben. Im Jahre 2004 stiftete Wolfgang Hamburger seinen umfangreichen Vorlass dem Jüdischen Museum Berlin. Er starb 2012.
Aubrey Pomerance, Archivleiter
Zitierempfehlung:
Aubrey Pomerance (2021), Rabbinerstudium in der Hauptstadt Nazi-Deutschlands. Ausweis der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums für Wolfgang Hamburger, Berlin, 1939-1942, Schenkung von Wolfgang Hamburger 2004.
URL: www.jmberlin.de/node/8475