Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Freitag,
20. Oktober 1933

Rechnung des Bezirksamtes Kehl an Julius Lebell über entstandene »Schutzhaftkosten«

Im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft wurden Zehntausende von Menschen willkürlich verhaftet und über Tage oder Wochen ohne juristisches Verfahren gefangen gehalten. Damit nicht genug: Manchem Häftling wurde jeder Tag der erlittenen »Schutzhaft« anschließend in Rechnung gestellt, so wie es hier das badische Bezirksamt Kehl mit 1,50 Reichsmark pro Tag tut.

Dies entsprach dem üblichen Satz. Auch das Preußische Innenministerium war in einem Runderlass vom 4. April 1933 von dieser Summe ausgegangen: 20 Pfennige für die Morgenkost, 50 für das Mittagessen und 40 für die Abendverpflegung sowie 40 Pfennige für die Unterbringung. Bei einer siebentägigen Haft ergab dies 10,50 Reichsmark. Da das Bezirksamt Kehl über keinen entsprechenden Rechnungsvordruck verfügte, behalf sich der zuständige Beamte mit dem Formular für ein »Gefälle«, das heißt für eine zu entrichtende Gebühr. In die Rubrik für »Sonstige Auslagen« trug er eine Summe von 5,25 Reichsmark ein – denn er stellte nur den »1/2 Anteil« in Rechnung. Wer die andere Hälfte übernahm, ist unbekannt.

Die Eintreibung angeblicher »Schutzhaftkosten« erfolgte ähnlich willkürlich wie die Verhängung der »Schutzhaft« selbst. Seit dem 20. Mai 1933 sollte eigentlich die Staatskasse reichsweit die Finanzierung gewährleisten. Doch die Praxis unterschied sich nach Haftstätten und Ländern.

Die vorliegende Rechnung betraf Julius Lebell (1880–1968), der als Julius Levy im nordbadischen Diedelsheim geboren worden war und seit 1910 in New York lebte. Jahr für Jahr besuchte der Kaufmann seinen jüngeren Bruder Oscar (1890–1967) in Deutschland. So auch 1933. Am 31. März traf er abends bei seinem Bruder in Rheinbischofsheim ein. Am nächsten Tag, dem Tag des Aprilboykotts, wurde er früh morgens verhaftet, mit der Begründung, man wolle verhindern, dass ihm als Amerikaner etwas zustoße. In Wirklichkeit diente die »Schutzhaft« keineswegs irgendwelchen Schutzzwecken. Auch war Julius Lebell gar kein US-Amerikaner (er sollte erst einige Jahre später eingebürgert werden). Am 8. April wurde er nach siebentägiger Haft wieder freigelassen.

Als das Bezirksamt sechs Monate später die Rechnung ausstellte, hielt sich Julius Lebell vermutlich längst nicht mehr in Rheinbischofsheim auf. Er scheint aber auch noch nicht in die USA zurückgekehrt gewesen zu sein. Anhand einer Passagierliste lässt sich nachvollziehen, dass er erst am 21. Dezember 1933 von Southampton nach New York reiste. Die Rechnung wurde also vermutlich seinem Bruder Oscar zugestellt. Um sich selbst und seinen Bruder nicht neuerlicher Verfolgung auszusetzen, bezahlte Oscar Levy die Summe. Zehn Tage hatte er dafür Zeit, dann musste der Betrag in der Bezirksamtskasse Kehl eingegangen sein. Fünf Jahre später emigrierte auch Oscar Levy in die USA.

Jörg Waßmer

Kategorie(n): Auswanderung | Gefangenschaft | Kaufleute
Rechnung des Bezirksamtes Kehl über entstandene »Schutzhaftkosten« von Julius Lebell, Kehl, 20. Oktober 1933
Leo Baeck Institute, Jules Lebell Collection, AR 976
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