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Androgyne Figuren in Isaac Bashevis Singers litera­rischem Schtetl

Essay von Helena Lutz

Schwarz-weiß Radierung auf Maschinenpapier: m Zentrum der Szene ist ein bärtiger Mann mit Stiefeln, Mütze und Mantel zu sehen, der von Kindern und zahlreichen Menschen umringt durch die Straßen eines Schtetls geht und auch die Aufmerksamkeit zahlreicher aus dem Fenster schauender Menschen auf sich zieht. Dem Titel der Radierung zufolge ruft er die Schtetlbewohner zum Schabbatgebet zusammen.

Abraham Palukst (1895–1926), Aufruf zum Sabbath­gebet, 1923, Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe. Mehr Informa­tionen zu diesem Objekt finden Sie in unserer Online-Datenbank

„[Singer’s] Juden sind Ehe­brecher, Geschie­dene, Prosti­tuierte, Homo­sexuelle, Athe­isten, Konver­titen, Diebe, Faulenzer, Viel­fraße […], Heilige und Weise, Kauf­leute und Arbeiter, Haus­hälter und Haus­frauen. Sie sind, mit anderen Worten, mensch­liche Wesen.“

Mit diesen Worten beschreibt William Desiewicz die Viel­falt der Figuren, die das litera­rische Schtetl des jüdischen Autors Isaac Bashevis Singer (1904–1991) bevölkern. Singer stammte selbst aus dem Schtetl und war als Autor vor allem in seiner späteren Heimat, den Verei­nigten Staaten, tätig. Dabei blieb jedoch das Schtetl sein zentrales Setting, er schrieb auf Jiddisch. 

„Ehe­brecher*innen“ und „Homo­sexuelle“, ebenso wie Cross-Dresser und Queers –  Figuren, die die Geschlechter­rollen des Schtetls aufbrechen, häufen sich in den Kurz­geschichten Singers. 

S-W-Foto von Isaac Bashevis Singer. Er sitzt in einem Sessel, schreibt und schaut in die Kamera.

Isaac Bashevis Singer (1904–1991). Aus dem Bild­archiv des Aufbau; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung Sammlung Aufbau New York (1934–2004)

Was bedeutet Schtetl?

Schtetl (Jiddisch für Städtlein), Pl. Schtetlech, vor dem Zweiten Weltkrieg Dörfer, Städte oder Stadtteile in Osteuropa mit überwiegend jüdischer Bevölkerung; Alltagssprache in den Schtetlech: Jiddisch

Was ist androgyn?

Sammelbegriff für Menschen, die nicht den binären Kategorien männlich oder weiblich zuzuordnen sind; auch in der rabbinischen Literatur gibt es mehr als zwei Geschlechterkategorien

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Andro­gynität und Bina­rität in den Grund­lagen­texten

Wie werden Andro­gynität und Geschlechter­rollen im Juden­tum über­haupt verhandelt? Um das zu beant­worten, ist der Blick in die Grund­lagen­texte sinnvoll. In der femi­nistischen Theo­logie ist es mittler­weile keine Selten­heit, den Tanach spezi­fisch auf Fragen zu Andro­gynität, Geschlechter­rollen und Homo­sexualität hin zu analy­sieren. Ein Bei­spiel ist die Lesart des ersten Menschen Adam in der Schöpfungs­geschichte als andro­gynes Wesen. Diese Inter­pretation ist nicht neu – sie findet sich unter anderem in Midrasch Vayikra Rabbah 12:2 –, sondern wird heute mit modernen Konzepten (z.B. Nicht­binarität) belegt.

Solche Abschnitte des Tanach und ihre rabbi­nischen Interpre­tationen geben Anlass zur Frage, inwie­fern das darin verankerte Geschlechter­bild tatsäch­lich binär ist. Aber ange­sichts der geschlechts­spezifischen Reinheits­gebote und der klaren Rollen­verteilung im Familien­konstrukt kann nicht bestritten werden, dass insge­samt eine ein­deutige binäre Geschlechter­trennung vorherrscht. „Es soll nicht Manns­zeug auf einer Frau sein, und ein Mann soll nicht das Gewand einer Frau anziehen; denn jeder, der dies tut, ist ein Gräuel für den HERRN, deinen Gott“, heißt es so zum Bei­spiel in Deut 22,5, was für das Thema andro­gyner Figuren von Rele­vanz ist. 
 

Was bedeutet Tanach?

Tanach (hebr. für die Hebräische Bibel), Sammlung heiliger Schriften des Judentums; die Tora ist ein Teil davon

Andro­gyne Figuren sind der rabbi­nischen Literatur nicht fremd, und es werden deut­lich mehr als zwei geschlecht­liche Kategorien unter­schieden, darunter z.B. androgynos und tumtum. Ob es sich bei diesen eher um Klassi­fizierungen absoluter Aus­nahmen inner­halb des binären Systems oder um wirk­liche „dritte Geschlechter“ handelt, darüber ist man sich in der Forschung un­einig. So oder so ist es wichtig zu erinnern, dass moderne, westl­iche Begriffe wie zum Bei­spiel Inter­sexualität und Trans­geschlecht­lichkeit sich eben auf moderne, west­liche Konstruk­tionen von Geschlecht beziehen und somit nicht einfach übertrag­bar sind.  

 

Ein großer Ball aus gehäkelten Körperteilen hängt von der Decke des Glashofs. Der Ball besteht aus rosa, lila, braunen und weißen gehäkelten Augen, Penissen, Brüsten und Knochen.

Tumtum von Gil Yefman im Glashof des Jüdischen Museums Berlin; Courtesy of the artist; Foto: Jens Ziehe; Produk­tion ermög­licht durch DIE FREUNDE DES JMB, mit freund­licher Unter­stützung von Asylum Arts at The Neighbor­hood und Artis – www.artis.art

Und bei Singer?

Im histo­rischen Schtetl waren Frauen und Männer klar an binäre Geschlechter­rollen gebunden, die sich primär aus den reli­giösen Texten und deren Aus­legung ergaben. Histo­rische Quellen zum Bruch mit diesen Geschlechter­rollen und dem Umgang mit einem „Da­zwischen“ gibt es kaum. 

In Singers litera­rischem Schtetl handeln mindestens fünf der Kurz­geschichten von andro­gynen Figuren. Vielen bekannt ist wohl Yentl aus Yentl, the Yeshiva Boy (1963), die in die Rolle des Jeschiwa-Studenten Anshel schlüpft, um Tora studieren zu können. Dabei nutzt sie vor allem ihre äußere Erschei­nung, um ihre Iden­tität zu verschleiern. Als sie sich in einen anderen Jeschiwa-Schüler verliebt und später in ihrer Rolle als Mann eine Frau heiratet, ver­schwimmen plötzlich alle Grenzen – zwischen den Geschlech­tern sowie zwischen Queer und Hetero. Damit bietet Yentls Geschichte ein gutes Beispiel dafür, wie Homo­sexualität durch die andro­gynen Figuren häufig zum Thema von Singers Erzäh­lungen wird. Dieses wird durch den Wechsel der andro­gynen Figur zwischen den Geschlechtern experimen­tell ange­tastet und auf die Probe gestellt.

Pinchosl aus Disguised (1986) und Zissel/­Zissa aus Two (1976) sind eher weniger bekannt. Beide wachsen als Jungen auf, heiraten unfrei­willig eine Frau und ent­fliehen der Ehe und dem Schtetl schließ­lich, um in einer größeren Stadt in der Rolle einer Frau mit einem Mann zusammen­zuleben. Dabei wird von Pinchosl aus der Perspek­tive seiner von ihm verlas­senen Frau erzählt, Zissel/­Zissa ist dagegen Prota­gonist*in der Geschichte. Beide Figuren erhal­ten sich, obwohl sie in den Augen der Erzählinstanzen und auch anderer Figuren mit ihrem „Cross-Dressing“ deutlich schwer sündigen, ihren Glauben oder zumin­dest ihre Glaubens­praxis.

Während die drei genannten Geschichten Cross-Dressing und Homo­sexualität auf eine ähnliche Weise und in einem realistisch-narrativen Prosa­stil verhan­deln, ist Zeitl and Rickel (1966) ein Bei­spiel für einen anderen Stil Singers, der diesem ganz eigen ist und an die Schauer­literatur erinnert. Mysteri­öse, unerklär­liche Gescheh­nisse, Gerüchte und mystische Aber­glauben kommen in einer Art „Jewish Gothic“ zusam­men. Die Geschichte behan­delt die jungen Frauen Zeitl und Rickel, die Gerüch­ten nach ein Paar sind. Beide um­gibt eine geister­hafte Melan­cholie, sie iso­lieren sich und man fürchtet sie. Schließ­lich nehmen sie sich gemein­sam das Leben. Im Gegen­satz zu den anderen Geschichten werden beide Frauen hier zwar als selt­sam beschrieben, jedoch weder auf­grund ihrer angeb­lichen Homo­sexualität noch durch ihr Verhalten oder ihre Kleidung aus der binären Kategorie „Frau“ entfremdet.

Die Kurz­geschichte Androygenus (1975) ist eine Reflexion von theolo­gischen Fragen, die aus der Perspek­tive eines Rabbis unter anderem anhand der körper­lich und verhaltens­mäßig androgynen Figur Shevach ausge­handelt werden. Es geht das erste Mal um eine ein­deutig (auch biolo­gisch) im „Da­zwischen“ liegende Figur, und nur hier ist die dar­gestellte Andro­gynität nicht wirklich Gegen­stand der Verhand­lung, sondern dient eher als Metapher zur Bearbei­tung theolo­gischer Fragen.

Singers androgyne Figuren werden durch die Erzählinstanzen als in ihrem Handeln religiös und moralisch zumindest fragwürdig bewertet, dennoch wird ihnen ihr jüdischer Glaube nicht abgesprochen.  

Glauben und Moder­nität

Singers andro­gyne Figuren werden durch die Erzählinstanzen als in ihrem Handeln religiös und mora­lisch zumindest frag­würdig bewertet, dennoch wird ihnen ihr jüdischer Glaube nicht abge­sprochen. Fast alle haben gemein­sam, dass sie sich einer „Sünde“ in ihrem Geschlechts­ausdruck im „Dazwischen“ bewusst sind (bzw. bewusst zu sein glauben), aber dennoch ihren Glauben beibe­halten. Das deut­lichste Beispiel ist Yentl, der nichts wichtiger ist, als Tora zu lernen – auch wenn sie dafür, je nach Aus­legung, religiöse Vor­schriften brechen muss. Dabei muss man sich fragen, ob über­haupt irgend­eine Figur bei Singer jemals als mora­lisch und religiös einwand­frei dar­gestellt wird. Denn sowohl für seine realistisch-narrativen, als auch seine schau­rigen Texte gilt, dass sie den Menschen in einer umfas­senden Nuanciert­heit und jenseits von verein­fachenden mora­lischen Unter­teilungen ab­bilden. Statt­dessen werden seine Figuren zu Knoten­punkten seiner inten­siven, kom­plexen Verhand­lung von Fragen zu Glauben und Moder­nität. 

Deutlich wird, dass die Selbst­einschätzung der eigenen Andro­gynität als religiös und mora­lisch frag­würdig das Standing der andro­gynen Figur in Singers Schtetl ver­bessert. Figuren mit dieser Selbst­einschätzung, die sogar so etwas wie Reue zeigen, erwar­tet eher ein Happy End. Außer­dem zeigen sich deut­liche Unter­schiede in der mora­lischen Bewer­tung von Homo­sexualität, je nach­dem, ob sie im Rahmen einer Imita­tion hetero­normativ-binärer Strukturen erfolgt, oder nicht. So werden Zeitl und Rickel deutlich schärfer verur­teilt als zum Beispiel Pinchosl, deren*dessen Ehe den Schein der Hetero­sexualität wahrt.

Für den Bruch mit der geschlechtlichen Binarität sind in Singers Kurzgeschichten unter anderem Kleidung und Ehe zentral. 

Für den Bruch mit der geschlecht­lichen Bina­rität sind in Singers Kurz­geschichten unter anderem Kleidung und Ehe zentral. Cross-Dressing wird zu einem effek­tiven Werk­zeug der fluiden Wand­lung zwischen Geschlechtern, und die Ehe stellt die Grund­lage des binären Gender­gerüstes dar, in dem sich die Figuren jeweils bewegen. Inner­halb der hetero­normativen Ehe wird auch die Sexua­lität zu einem sprach­lich verhandel­baren Thema, Homo­sexualität dagegen nur in Bezug auf gleich­geschlecht­liche Liebe und Verliebt­heit, nicht wirk­lich in Bezug auf homo­sexuelles Begehren und homo­sexuellen Geschlechts­verkehr.

Ein richtiges Happy End wird schließ­lich keiner der hier behan­delten Figuren unein­geschränkt gewährt. Ihre Geschichten enden im besten Fall mit einem Leben im Verbor­genen oder mit Herz­schmerz, im schlimm­sten Fall in einem unbe­schrifteten Grab. Werden so die verhan­delten Thema­tiken der Andro­gynität und Homo­sexualität für ein konser­vativeres Lese­publikum verdau­licher gemacht? Führt Singer sie einem „gerechten“, strafenden Schicksal zu? Oder bildet er ledig­lich eine Rea­lität ab? Um diesen Fragen nach­zugehen, möchte ich das Werk Singers in Zukunft noch tiefer­gehender unter­suchen – und ein eigener Blick in die Geschichten sei jeder*m empfohlen.
 

Helena Lutz studiert Jüdische Studien und Kultur­wissen­schaften an der Univer­sität Potsdam und ist seit 2023 studen­tische Hilfs­kraft im Team Digital & Publishing des Jüdischen Museums Berlin. Bei diesem Essay handelt es sich um eine gekürzte Fassung ihrer Bachelor­arbeit Yentl, Anshel, Zissa: Androgyne Figuren in den Kurzg­eschichten Isaac Bashevis Singers (im Erschei­nen bei https://www.medaon.de).

Bunte Fotocollage aus Kunstobjekten der Ausstellung.

Alle Angebote zur Ausstellung Sex. Jüdische Positionen

Über die Ausstellung
Sex. Jüdische Positionen – 17. Mai bis 6. Okt 2024
Publikationen
Sex. Jüdische Positionen – Katalog zur Ausstellung, deutsche Ausgabe, 2024
Sex: Jewish Positions – Katalog zur Ausstellung, englische Ausgabe, 2024
Digitale Angebote
Letʼs Talk About Sex – Online-Feature zur Ausstellung
Was sagen die Künstler*innen? – Interviewreihe zur Ausstellung auf YouTube
Soundtrack zur Ausstellung – auf Spotify
Das Lied der Lieder. Von buchstäblicher und allegorischer Liebe – Essay von Ilana Pardes
„Sex ist eine Kraft“ – Interview mit Talli Rosenbaum
Androgyne Figuren in I.B. Singers literarischem Schtetl – Essay von Helena Lutz
Jewish Places – ausstellungsbezogene, jüdische Orte auf der interaktiven Karte

Zitierempfehlung:

Helena Lutz (2024), Androgyne Figuren in Isaac Bashevis Singers litera­rischem Schtetl. Essay von Helena Lutz.
URL: www.jmberlin.de/node/10441

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