Androgyne Figuren in Isaac Bashevis Singers literarischem Schtetl
Essay von Helena Lutz
„[Singer’s] Juden sind Ehebrecher, Geschiedene, Prostituierte, Homosexuelle, Atheisten, Konvertiten, Diebe, Faulenzer, Vielfraße […], Heilige und Weise, Kaufleute und Arbeiter, Haushälter und Hausfrauen. Sie sind, mit anderen Worten, menschliche Wesen.“
Mit diesen Worten beschreibt William Desiewicz die Vielfalt der Figuren, die das literarische Schtetl des jüdischen Autors Isaac Bashevis Singer (1904–1991) bevölkern. Singer stammte selbst aus dem Schtetl und war als Autor vor allem in seiner späteren Heimat, den Vereinigten Staaten, tätig. Dabei blieb jedoch das Schtetl sein zentrales Setting, er schrieb auf Jiddisch.
„Ehebrecher*innen“ und „Homosexuelle“, ebenso wie Cross-Dresser und Queers – Figuren, die die Geschlechterrollen des Schtetls aufbrechen, häufen sich in den Kurzgeschichten Singers.
Was bedeutet Schtetl?
Schtetl (Jiddisch für Städtlein), Pl. Schtetlech, vor dem Zweiten Weltkrieg Dörfer, Städte oder Stadtteile in Osteuropa mit überwiegend jüdischer Bevölkerung; Alltagssprache in den Schtetlech: Jiddisch
Was ist androgyn?
Sammelbegriff für Menschen, die nicht den binären Kategorien männlich oder weiblich zuzuordnen sind; auch in der rabbinischen Literatur gibt es mehr als zwei Geschlechterkategorien
Androgynität und Binarität in den Grundlagentexten
Wie werden Androgynität und Geschlechterrollen im Judentum überhaupt verhandelt? Um das zu beantworten, ist der Blick in die Grundlagentexte sinnvoll. In der feministischen Theologie ist es mittlerweile keine Seltenheit, den Tanach spezifisch auf Fragen zu Androgynität, Geschlechterrollen und Homosexualität hin zu analysieren. Ein Beispiel ist die Lesart des ersten Menschen Adam in der Schöpfungsgeschichte als androgynes Wesen. Diese Interpretation ist nicht neu – sie findet sich unter anderem in Midrasch Vayikra Rabbah 12:2 –, sondern wird heute mit modernen Konzepten (z.B. Nichtbinarität) belegt.
Solche Abschnitte des Tanach und ihre rabbinischen Interpretationen geben Anlass zur Frage, inwiefern das darin verankerte Geschlechterbild tatsächlich binär ist. Aber angesichts der geschlechtsspezifischen Reinheitsgebote und der klaren Rollenverteilung im Familienkonstrukt kann nicht bestritten werden, dass insgesamt eine eindeutige binäre Geschlechtertrennung vorherrscht. „Es soll nicht Mannszeug auf einer Frau sein, und ein Mann soll nicht das Gewand einer Frau anziehen; denn jeder, der dies tut, ist ein Gräuel für den HERRN, deinen Gott“, heißt es so zum Beispiel in Deut 22,5, was für das Thema androgyner Figuren von Relevanz ist.
Was bedeutet Tanach?
Tanach (hebr. für die Hebräische Bibel), Sammlung heiliger Schriften des Judentums; die Tora ist ein Teil davon
Androgyne Figuren sind der rabbinischen Literatur nicht fremd, und es werden deutlich mehr als zwei geschlechtliche Kategorien unterschieden, darunter z.B. androgynos und tumtum. Ob es sich bei diesen eher um Klassifizierungen absoluter Ausnahmen innerhalb des binären Systems oder um wirkliche „dritte Geschlechter“ handelt, darüber ist man sich in der Forschung uneinig. So oder so ist es wichtig zu erinnern, dass moderne, westliche Begriffe wie zum Beispiel Intersexualität und Transgeschlechtlichkeit sich eben auf moderne, westliche Konstruktionen von Geschlecht beziehen und somit nicht einfach übertragbar sind.
Und bei Singer?
Im historischen Schtetl waren Frauen und Männer klar an binäre Geschlechterrollen gebunden, die sich primär aus den religiösen Texten und deren Auslegung ergaben. Historische Quellen zum Bruch mit diesen Geschlechterrollen und dem Umgang mit einem „Dazwischen“ gibt es kaum.
In Singers literarischem Schtetl handeln mindestens fünf der Kurzgeschichten von androgynen Figuren. Vielen bekannt ist wohl Yentl aus Yentl, the Yeshiva Boy (1963), die in die Rolle des Jeschiwa-Studenten Anshel schlüpft, um Tora studieren zu können. Dabei nutzt sie vor allem ihre äußere Erscheinung, um ihre Identität zu verschleiern. Als sie sich in einen anderen Jeschiwa-Schüler verliebt und später in ihrer Rolle als Mann eine Frau heiratet, verschwimmen plötzlich alle Grenzen – zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Queer und Hetero. Damit bietet Yentls Geschichte ein gutes Beispiel dafür, wie Homosexualität durch die androgynen Figuren häufig zum Thema von Singers Erzählungen wird. Dieses wird durch den Wechsel der androgynen Figur zwischen den Geschlechtern experimentell angetastet und auf die Probe gestellt.
Pinchosl aus Disguised (1986) und Zissel/Zissa aus Two (1976) sind eher weniger bekannt. Beide wachsen als Jungen auf, heiraten unfreiwillig eine Frau und entfliehen der Ehe und dem Schtetl schließlich, um in einer größeren Stadt in der Rolle einer Frau mit einem Mann zusammenzuleben. Dabei wird von Pinchosl aus der Perspektive seiner von ihm verlassenen Frau erzählt, Zissel/Zissa ist dagegen Protagonist*in der Geschichte. Beide Figuren erhalten sich, obwohl sie in den Augen der Erzählinstanzen und auch anderer Figuren mit ihrem „Cross-Dressing“ deutlich schwer sündigen, ihren Glauben oder zumindest ihre Glaubenspraxis.
Während die drei genannten Geschichten Cross-Dressing und Homosexualität auf eine ähnliche Weise und in einem realistisch-narrativen Prosastil verhandeln, ist Zeitl and Rickel (1966) ein Beispiel für einen anderen Stil Singers, der diesem ganz eigen ist und an die Schauerliteratur erinnert. Mysteriöse, unerklärliche Geschehnisse, Gerüchte und mystische Aberglauben kommen in einer Art „Jewish Gothic“ zusammen. Die Geschichte behandelt die jungen Frauen Zeitl und Rickel, die Gerüchten nach ein Paar sind. Beide umgibt eine geisterhafte Melancholie, sie isolieren sich und man fürchtet sie. Schließlich nehmen sie sich gemeinsam das Leben. Im Gegensatz zu den anderen Geschichten werden beide Frauen hier zwar als seltsam beschrieben, jedoch weder aufgrund ihrer angeblichen Homosexualität noch durch ihr Verhalten oder ihre Kleidung aus der binären Kategorie „Frau“ entfremdet.
Die Kurzgeschichte Androygenus (1975) ist eine Reflexion von theologischen Fragen, die aus der Perspektive eines Rabbis unter anderem anhand der körperlich und verhaltensmäßig androgynen Figur Shevach ausgehandelt werden. Es geht das erste Mal um eine eindeutig (auch biologisch) im „Dazwischen“ liegende Figur, und nur hier ist die dargestellte Androgynität nicht wirklich Gegenstand der Verhandlung, sondern dient eher als Metapher zur Bearbeitung theologischer Fragen.
Glauben und Modernität
Singers androgyne Figuren werden durch die Erzählinstanzen als in ihrem Handeln religiös und moralisch zumindest fragwürdig bewertet, dennoch wird ihnen ihr jüdischer Glaube nicht abgesprochen. Fast alle haben gemeinsam, dass sie sich einer „Sünde“ in ihrem Geschlechtsausdruck im „Dazwischen“ bewusst sind (bzw. bewusst zu sein glauben), aber dennoch ihren Glauben beibehalten. Das deutlichste Beispiel ist Yentl, der nichts wichtiger ist, als Tora zu lernen – auch wenn sie dafür, je nach Auslegung, religiöse Vorschriften brechen muss. Dabei muss man sich fragen, ob überhaupt irgendeine Figur bei Singer jemals als moralisch und religiös einwandfrei dargestellt wird. Denn sowohl für seine realistisch-narrativen, als auch seine schaurigen Texte gilt, dass sie den Menschen in einer umfassenden Nuanciertheit und jenseits von vereinfachenden moralischen Unterteilungen abbilden. Stattdessen werden seine Figuren zu Knotenpunkten seiner intensiven, komplexen Verhandlung von Fragen zu Glauben und Modernität.
Deutlich wird, dass die Selbsteinschätzung der eigenen Androgynität als religiös und moralisch fragwürdig das Standing der androgynen Figur in Singers Schtetl verbessert. Figuren mit dieser Selbsteinschätzung, die sogar so etwas wie Reue zeigen, erwartet eher ein Happy End. Außerdem zeigen sich deutliche Unterschiede in der moralischen Bewertung von Homosexualität, je nachdem, ob sie im Rahmen einer Imitation heteronormativ-binärer Strukturen erfolgt, oder nicht. So werden Zeitl und Rickel deutlich schärfer verurteilt als zum Beispiel Pinchosl, deren*dessen Ehe den Schein der Heterosexualität wahrt.
Für den Bruch mit der geschlechtlichen Binarität sind in Singers Kurzgeschichten unter anderem Kleidung und Ehe zentral. Cross-Dressing wird zu einem effektiven Werkzeug der fluiden Wandlung zwischen Geschlechtern, und die Ehe stellt die Grundlage des binären Gendergerüstes dar, in dem sich die Figuren jeweils bewegen. Innerhalb der heteronormativen Ehe wird auch die Sexualität zu einem sprachlich verhandelbaren Thema, Homosexualität dagegen nur in Bezug auf gleichgeschlechtliche Liebe und Verliebtheit, nicht wirklich in Bezug auf homosexuelles Begehren und homosexuellen Geschlechtsverkehr.
Ein richtiges Happy End wird schließlich keiner der hier behandelten Figuren uneingeschränkt gewährt. Ihre Geschichten enden im besten Fall mit einem Leben im Verborgenen oder mit Herzschmerz, im schlimmsten Fall in einem unbeschrifteten Grab. Werden so die verhandelten Thematiken der Androgynität und Homosexualität für ein konservativeres Lesepublikum verdaulicher gemacht? Führt Singer sie einem „gerechten“, strafenden Schicksal zu? Oder bildet er lediglich eine Realität ab? Um diesen Fragen nachzugehen, möchte ich das Werk Singers in Zukunft noch tiefergehender untersuchen – und ein eigener Blick in die Geschichten sei jeder*m empfohlen.
Helena Lutz studiert Jüdische Studien und Kulturwissenschaften an der Universität Potsdam und ist seit 2023 studentische Hilfskraft im Team Digital & Publishing des Jüdischen Museums Berlin. Bei diesem Essay handelt es sich um eine gekürzte Fassung ihrer Bachelorarbeit Yentl, Anshel, Zissa: Androgyne Figuren in den Kurzgeschichten Isaac Bashevis Singers (im Erscheinen bei https://www.medaon.de).
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- Androgyne Figuren in I.B. Singers literarischem Schtetl – Essay von Helena Lutz
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Zitierempfehlung:
Helena Lutz (2024), Androgyne Figuren in Isaac Bashevis Singers literarischem Schtetl. Essay von Helena Lutz.
URL: www.jmberlin.de/node/10441