23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
David Koigen
- Blick in die Mommsenstraße im März 2012 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Gelia Eisert
Betritt man den Hausflur der Berliner Mommsenstraße 3, fällt der Blick auf eine Schautafel, die an den Sozialphilosophen David Koigen (1879–1933) erinnert. Koigen hat viele Jahre in diesem Haus gewohnt. Die heutige Hausbesitzerin möchte mit der Tafel daran erinnern.
In Koigens Wohnung traf sich von 1930 bis zu seinem Tod im Jahr 1933 ein von ihm geleiteter religionsphilosophischer Kreis aus Studenten, Wissenschaftlern und Publizisten. Zu den Gästen gehörte neben Albert Einstein (damals Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik) auch der sozialdemokratische Politiker Eduard Bernstein.
David Koigen war 1921 aus der Ukraine nach Berlin gekommen. Durch seine Arbeiten zur Kulturphilosophie und der Philosophie des sozialen Handels war er zu einem in Deutschland bekannten Philosophen und Soziologen geworden.
Von seinem Vater Mordechai Kohen erhielt David Koigen eine traditionell-religiöse Erziehung.
Nach dem Besuch des Gymnasiums in Nemirow und Odessa studierte Koigen in Bern, Zürich, München, Berlin und Paris Philosophie.
Wie unter russisch-jüdischen Kosmopoliten nicht unüblich, beherrschte David Koigen mehrere Sprachen: Jiddisch, Russisch, Deutsch und Hebräisch.
Obwohl er bereits 1918 Professor für Philosophie und Soziologie der Universität Kiew war, erhielt er in Deutschland nie eine Professur.
Zwischen 1925 und 1927 gab Koigen gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Fischl Schneersohn und dem Pädagogen Franz Hilker die Zeitschrift »Ethos« heraus, die sich nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit der Frage nach einer neuen gesellschaftlichen Ethik beschäftigte. Koigens politische Vision zielte auf ein Europa, in dem die Menschen- und Bürgerrechte verwirklicht werden und auch für Juden gelten könnten.
- David Koigens deutscher Personalausweis (Passersatz) mit der Kennzeichnung »Staatlos« aus dem Jahr 1926 © Privatbesitz Mira Zakai, Israel – Helene und David Koigens Enkelin
David Koigen gehörte zu den wenigen jüdischen Migranten, die in den
Jahren der Weimarer Republik die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten.
Als Reaktion auf die Inflationskrise wurde 1925 in Preußen die
Mindestniederlassungsdauer für »fremdstämmige« Einbürgerungsbewerber von
zehn auf zwanzig Jahre angehoben.
- Familie Koigen
- David Koigens Einbürgerungsurkunde von 1927 © Privatbesitz Mira Zakai, Israel – Helene und David Koigens Enkelin
- Fluchtroute der Familie Koigen © chezweitz und partner
David Koigen und seine Frau Helene flohen im Winter 1920/21 mit ihrem achtjährigen Sohn vor den Repressalien der Bolschewiki aus Kiew.
Zunächst in einem Viehwaggon, später in einem Militärzug versteckt, gelang ihnen die Flucht aus dem besetzten Kiew. Anschließend legten sie mit einem Pferdefuhrwerk etwa 340 Kilometer bei Schnee und Frost zurück, um an die rumänische Grenze zu gelangen. Der Grenzübertritt erfolgte illegal, bei Nacht und zu Fuß über den zugefrorenen Fluss Dnjestr. Über Kischinew und Bukarest gelangte die Familie schließlich nach Berlin.
Die Jahre in Kiew, die Flucht über Rumänien nach Deutschland und die traumatische Erfahrung von Gewalt und Pogromen im Russischen Bürgerkrieg beschrieb David Koigen in seiner autobiographischen Schrift »Apokalyptische Reiter«.
Europa in Bewegung
Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution von 1917 veränderten die politische Landkarte Europas entscheidend. Nach dem Zerfall der Vielvölkerreiche gerieten die Juden zwischen die Fronten der neuen Nationalstaaten. Als Minderheit wurden sie oft kollektiv der Spionage verdächtigt.
Während des russischen Bürgerkriegs verübten alle Kriegsparteien an 1300 Orten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine etwa 1500 Pogrome. Hunderttausend Juden kamen ums Leben, eine halbe Million Juden verloren ihre Heimat. Die jüdischen Migranten flüchteten über Umwege aus den Großstädten und Dörfern des Russischen Reichs und der Habsburger Monarchie nach Berlin.
Text aus dem Ausstellungsraum »Nach Berlin«
David Koigen, Apokalyptische Reiter
»Noch jetzt ist es in mir lebendig, das Gefühl, das mich beherrschte, damals, ein Jahr vor dem Weltkriege, als ich mich anschickte von hier aus nach Russland zu übersiedeln. Ich äußerte es gelegentlich deutschen Freunden gegenüber, die mich von meinem Vorhaben abzubringen suchten. ›Sie würden es kaum verstehen‹ – sagte ich zu ihnen. ›Wir jüdischen Europäer, wenn es Ihnen besser gefällt, ostjüdischen Europäer, haben nach nichts ein so starkes Verlangen, als nach Geschichte …‹
[…] Später, als die ›Geschichte‹ im Anzuge war und unverzüglich mit all ihrer Wut sich auf uns jüdische Europäer stürzte, alles nur erdenkliche Elend auf uns streuend, hatte ich oft Gelegenheit, über die uns angeborene historische Metaphysik nachzudenken. […]
Als ich, noch zögernd, im Kreis der Eingeweihten den Plan der Flucht aus Kiew erwog, sprachen mir wildfremde Menschen ihre Verwunderung darüber aus, dass sie mich noch in der Stadt sähen. Es galt vor allem, den magischen Kreis, den die ›Außerordentlichen Institutionen‹ der bolschewistischen Macht um unser Leben und unsere Stadt gezogen hatten, zu durchbrechen. […] Nach zwei Wochen des Hin- und Herlaufens blieb mir noch übrig, den letzten Gang zur ›Außerordentlichen Kommission der Roten Armee‹ zu machen. Drei Tage nacheinander froren wir vor dem verrufenen Gebäude. […]
An einem wunderschönen Wintermorgen, um fünf Uhr früh, schob ich einen mit Sachen beladenen Karren, den die Kiewer verächtlich ›Trotzkis Equipage‹ nannten, dem Bahnhof entgegen. Meine Frau sagte traurig zu mir: ›So zogen die Juden aus Ägypten‹. Nur mein achtjähriger Junge freute sich riesig, dass wir nun den bolschewistischen Pharao überrumpelt hätten.
[…] Wieder in Europa, im alten und ewig jungen, bewegungsvollen Europa! Rumänische Gendarmen, Wachtposten der rumänischen Grenze, Bessarabien –Rumänien – alles das hat nichts zu sagen: Freiheit, Freiheit!«
Aus: David Koigen, Apokalyptische Reiter. Aufzeichnungen aus der jüngsten Geschichte, Erich Reiss Verlag Berlin 1925
- David Koigen: Apokalyptische Reiter. Aufzeichnungen aus der jüngsten
Geschichte, 1925 (Erich Reiss Verlag Berlin, Einbandgestaltung von E.
Peffer)
Diese Schale stammt aus dem Haushalt von Helene Koigen (geb. Salzmann) und ihrem Mann. Sie befindet sich bis heute in Familienbesitz. Auf der Unterseite steht die hebräische Widmung:
»Be-hakarat toda [Zur dankbaren Anerkennung]
Gruppe Grunewald
Chanukka 5692 [=1930]«
Gruppe Grunewald
Auf dem Delegiertentag der »Berliner Zionistischen Vereinigung« schlossen sich 1922 die Vertreterinnen der zionistischen Frauenvereine zum »Bund Zionistischer Frauen« zusammen. Erklärtes Ziel war, die Isolation zionistischer Frauen zu überwinden und sich besser miteinander zu vernetzen. Sie gründeten eine Vielzahl kleiner zionistische Frauengruppen, von denen sich allein in Berlin zwischen 1925 und 1929 neun bildeten. Eine davon war die Gruppe Grunewald unter Leitung von Helene Koigen. Sie hatte zwischen 40 und 100 Mitglieder.
- Schale der Gruppe Grunewald aus dem Besitz von Helene Koigen © Prof. Mira Zakai, Givataim
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