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Tiefenschärfe

Ein Interview mit Daniel Wildmann

Porträt von Daniel Wildmann vor der Fassade des Libeskind-Baus.

Daniel Wildmann; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Yves Sucksdorff

Dr. Daniel Wildmann ist seit 15. September 2022 Programm­leiter der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin. Der Historiker und Film­wissenschaftler war nach Stationen in Zürich, Berlin und Jerusalem sechs Jahre Direktor des Leo Baeck Institute London, das deutsch-jüdische Geschichte und Kultur erforscht, sowie Senior Lecturer für Geschichte an der Queen Mary University of London.

Herzlich willkommen, lieber Herr Wildmann, in Berlin! Sie sind soeben aus London hierher­gezogen. Was werden Sie vermissen?

Die britische Lebens­weise, insbesondere die britische Ironie! Und garantiert auch die für London so spezielle, elegante und sehr spielerische Mode für Männer.

Und auf was freuen Sie sich in Berlin?

Auf die Arbeit im Museum, vor allem im historischen Kontext Berlin. Und auf die vielen neuen Kolleginnen und Kollegen.

Sie waren viele Jahre am Leo Baeck Institute London tätig. Welche Parallelen sehen Sie zur Akademie des JMB? Und welche Unterschiede?

Das Leo Baeck Institute ist eine wissen­schaftliche Institution, die sich vor allem mit Texten beschäftigt. In einem Museum geht es vor allem um Objekte. Was die beiden Ein­richtungen gemeinsam haben, ist, dass beide Geschichten erzählen. Und beide wollen neue Perspektiven auf deutsch-jüdische Geschichte öffnen. Aber eben in einer sehr unter­schiedlichen Sprache! Ein anderer ganz wichtiger Unter­schied ist das politische und kulturelle System, in dem beide Institutionen verankert sind: Groß­britannien ist eine Monarchie mit imperialer Vergangen­heit, was wir besonders an den bemerkens­werten Trauerfeiern zu Ehren der verstorbenen Queen gesehen haben. Hier in Deutschland wird unser Staats­oberhaupt über ein parlamentarisches Verfahren gewählt, und unsere Vergangen­heit ist ganz anders geprägt.

„Mir geht es bei allen Themen, die uns in Zukunft beschäftigen, um historische Tiefenschärfe.“

Sie sind Historiker und Film­wissenschaftler, Berlin ist mit der Berlinale auch eine bedeutende Filmstadt. Wird das Einfluss haben auf Ihre Arbeit als Leiter der Akademie?

Visuelle Sprache hatte schon immer Einfluss auf meine Arbeit, egal wo ich tätig war – in Zürich, in Berlin, in Jerusalem, in London. Früher habe ich in der Film­industrie gearbeitet, schon damals war die Berlinale eines meiner absoluten Lieblings­filmfestivals. Und jetzt ist es sehr schön, wieder so nah dran zu sein.

Wie sieht ein gelungenes Akademie­programm aus?

Wenn wir mit unseren Projekten, mit unseren Programmen neue Perspektiven auf deutsch-jüdische Gegenwart und Geschichte sichtbar machen können, wenn wir unser Publikum zum Nachdenken anregen – dann ist es gelungen. Mir geht es bei allen Themen, die uns in Zukunft beschäftigen werden, um historische Tiefen­schärfe, um Einblicke, die wir mit Bildern, mit Texten, im Dialog und in der Diskussion erreichen und vermitteln wollen.

Museen verstehen sich als Orte der Partizipation. Dazu gehört auch eine Institution wie die Akademie. Wie verstehen Sie die Schnitt­stellen von akademischer Welt und einer allgemeinen Öffentlichkeit?

Das ist letztlich eine Frage der Übersetzung. Es geht darum, Themen und Zusammen­hänge zu übersetzen, und zwar ohne dass sie an Genauigkeit und Komplexität verlieren, und so, dass sie unser Publikum erreichen. Vielleicht speist sich diese Sicht aus meinen Erfahrungen in London. Dort habe ich einem breiten, sehr heterogenen Publikum deutsch-jüdische Geschichte und Kultur vermittelt. Und das funktionierte nur über kulturelles Über­setzen.

Haben Sie ein Lieblingsmuseum?

Ich bin erst seit zehn Tagen hier in Berlin! Aber in London ist es die National Gallery. Warum? Ich interessiere mich sehr für Licht, und wenn man etwas über Licht und seine Wahr­nehmung lernen möchte, dann muss man in die National Gallery gehen. Sie bietet für fast jedes Jahrhundert neue Antworten.

„Unser Programm Ukraine im Kontext möchte durch die jüdisch-ukrainischen Perspektiven einen historisch geschärften Blick auf den gegenwärtigen Krieg ermöglichen.“

Was kann eine Institution wie die Akademie gerade in krisen­haften Zeiten leisten?

Deutsch-jüdische Geschichte und Kultur lässt sich, wie Dan Diner das einmal formuliert hat, als Seismograf europäischer Geschichte betrachten. Ein Seismograf, der die Schwankungen zum Guten oder zum Schlechten in der europäischen Geschichte anzeigt. Durch diese Perspektive können wir Krisen besser verstehen. Auch unser Programm Ukraine im Kontext möchte durch die jüdisch-ukrainischen Perspektiven, die wir vorstellen, einen historisch geschärften Blick auf den gegen­wärtigen Krieg in der Ukraine ermöglichen.

Was sind die bedeutendsten Unterschiede jüdischen Lebens in Großbritannien, in der Schweiz und in Deutschland?

In Deutschland stehen jüdische Gemein­schaften und ihre Institutionen sehr oft und regelmäßig im Zentrum des öffentlichen Interesses. Das ist in Groß­britannien und der Schweiz anders. In diesen beiden Ländern führten die jüdischen Gemein­schaften und ihre Institutionen lange ein Leben im Back­ground des politischen Geschehens. Das hat sich aber in jüngerer Zeit geändert: In der Schweiz ausgelöst durch die Debatte um die sogenannten nachrichten­losen Vermögen Ende der 1990er Jahre. In Groß­britannien war der Aus­löser für eine Veränderung die Erfahrung des massiven Antisemitismus in der Labour Party unter ihrem früheren Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Diese Krisen­momente haben die jüdischen Gemein­schaften und Institutionen in den beiden Ländern gezwungen, ihren Platz in der Gesell­schaft neu zu überdenken. Und seither sind sie im politischen Leben viel aktiver und viel präsenter.

Das Interview führten Marie Naumann & Katharina Wulffius.

Verfahren um jüdische Vermögen bei Schweizer Banken

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Zitierempfehlung:

Marie Naumann, Katharina Wulffius (2022), Tiefenschärfe. Ein Interview mit Daniel Wildmann.
URL: www.jmberlin.de/node/9505

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