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Wie wär’s mit etwas mehr Ambiguitätstoleranz?

Ein Interview mit Mohamed Ibrahim und Shemi Shabat über die Tandem-Führung Jerusalem im Dialog

Von April 2018 bis April 2019 boten wir unter dem Titel Jerusalem im Dialog Tandem-Führungen durch unsere Ausstellung Welcome to Jerusalem an. Jeweils zwei Guides mit persönlicher Beziehung zu Jerusalem sprachen dabei aus unterschiedlicher Perspektive über die Stadt und die Ausstellung.

Das Format Tandem-Führung entstand im Rahmen einer Weiterbildung zum*r Museumsguide, die wir in Kooperation mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) durchführten, und die vom Deutsch-Palästinenser Mohamed Ibrahim und dem Israeli Shemi Shabat mitkonzipiert und begleitet wurde.

Andy Simanowitz sprach mit den beiden Trainern über die Weiterbildung, das Konzept Tandem-Führung und ihre Beziehung zu Jerusalem.

Könnt ihr euch und eure Arbeit zunächst bitte kurz vorstellen?

Shemi Shabat: Ich bin Shemi, ich bin in Tel Aviv geboren und aufgewachsen und vor 11 Jahren nach Berlin gekommen. Damals fragte mich ein Kollege, ob ich mir vorstellen könnte, zusammen mit einem Palästinenser Work­shops zum Nahost-Konflikt Palästina/​Israel zu entwickeln: Mittlerweile machen wir das seit 10 Jahren und gehen zusammen als Deutsch-Palästinenser und Israeli in Schulen, um mit Schüler*innen über das Thema Nahost-Konflikt zu sprechen. Inzwischen ist das sogar mein zweites Standbein, außerdem bin ich noch als Berater im Anti­diskriminierungs­netzwerk des Türkischen Bunds Berlin/​Brandenburg tätig.

Porträtfoto von zwei Männern in Frontalansicht. Sie lächeln und tragen Anzüge, aber keine Krawatten.

Mohamed Ibrahim und Shemi Shabat bei der Flechtheim-Preisverleihung des Humanistischen Verbands Deutschland und der Humanismus Stiftung; Humanistischer Verband Berlin-Brandenburg KdöR.

Mohammed Ibrahim: Ich bin Mohamed, Deutsch-Palästinenser, lebe seit über 40 Jahren in Berlin, komme aus einem Flüchtlingslager im Libanon und bin in West-Berlin groß geworden. Ich habe hier Politik mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen studiert, mein regionaler Schwerpunkt war die MENA Region und der Nahost-Konflikt. Hauptberuflich bin ich in der Entwicklungs­zusammenarbeit bei einer Durch­führungs­organisation der Bundes­regierung tätig. Die Trainertätigkeit mit Shemi führe ich, wie er schon sagte, seit über 10 Jahren durch.

MENA-Region

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Da stehen zwei Personen, die Stereotype nicht bedienen.

Was ist das Besondere an eurem Konzept?

Mohamed: Das Besondere ist, dass wir immer als Tandem unterwegs sind. Außerdem ist an dem Konzept der ressourcen­orientierte Ansatz interessant, also dass wirklich die Teilnehmenden im Mittelpunkt stehen. Wir sagen: das Fachwissen zum Thema können sich die Teilnehmenden woanders herholen. Das Wichtige ist, dass sie – mit ihrem individuellen Bezug zum Thema – im Mittelpunkt stehen.

Shemi: Das Besondere ist, dass da zwei Personen stehen mit unterschiedlichem Hintergrund und mit unterschiedlicher Haltung, die aber die Stereotype nicht bedienen. Man erwartet von Mohamed als Palästinenser und Moslem vielleicht, dass er dies oder jenes sagt. Aber das tut er nicht. Da entsteht ein Moment der Irritation – und auch mit mir kommt da eine Person, die in Israel aufgewachsen ist, aber die die Lage durchaus kritisch sieht und sich dazu äußern kann. Das ist für Jugendliche eine sehr interessante Erfahrung.

Wie kam es zur Kooperation mit dem Jüdischen Museum für dieses Projekt?

Shemi: Bereits in der Konzeptions­phase der Ausstellung waren wir in die Planung des Begleit­programms involviert. Auf Seiten des Museums entstand die Idee, auch zur Jerusalem-Ausstellung eine dialogische Führung zu entwickeln, also den Tandem-Ansatz, der sich in unserer Arbeit als sinnvoll erwiesen hatte, auf das Thema Jerusalem zu übertragen. Soweit ich weiß, sollten alle Guides anfangs, so wie wir, palästinensischer/​israelischer oder muslimischer/​jüdischer Herkunft sein, das wurde dann in einer späteren Phase erweitert. Wir wurden dann gebeten, ein Ausbildungs­konzept zu entwickeln, das haben wir dann erarbeitet und anschließend präsentiert …

Mohamed: … und das ist auf positive Resonanz gestoßen, das Museum hat es aufgenommen und gesagt ‚Ihr habt das Konzept erstellt, könnt ihr euch vorstellen, das auch als Trainer zu betreuen?‘

Was genau ist eine Tandem-Führung für euch und worin unterscheidet sie sich von einer gewöhnlichen Führung?

Mohamed: So wie wir in unseren Workshops als Tandem auftreten, soll das auch bei den Tandem-Führungen laufen: Anders als bei einer klassischen Führung stehen hier nicht Objekte oder ein Thema, sondern die Guides selbst im Mittelpunkt. Die Gäste erleben die Interaktion zwischen den Guides mit ihren unterschiedlichen persönlichen Hintergründen und Perspektiven.

Shemi: Das Konzept ist auch deswegen interessant, weil es den Wunsch des Museums aufnimmt, in eine Interaktion mit den Gästen zu kommen. Ich trage nicht irgendetwas vor und bekomme ein Feedback, sondern es passiert Interaktion während und im Rahmen der Führung, ein Gespräch, ein Dialog.

Zwei Guides und Besucher bei einer Führung

Zwei Guides bei einer Tandem-Führung; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Erik Schiemann

Warum hat sich dieses Projekt besonders für die Jerusalem-Ausstellung angeboten?

Mohamed: Jerusalem ist ein heiliger Ort, der umstritten ist (oder sein kann) und wo es auf der Hand liegt, dass es auf diesen heiligen Ort verschiedene Perspektiven gibt.

Shemi: Ich glaube, das Jüdische Museum wollte Jerusalemen zeigen, also im Plural, und wollte nicht nur ein Bild von dieser Stadt, sondern die Stadt in ihrer Multi­perspektivität, in ihrer Viel­schichtigkeit, in ihrer Wider­sprüchlichkeit zeigen. Und das Format ist deswegen sehr passend, weil es genau die Methode in sich birgt, diese Vielfalt zeigen zu können, das Gespräch, die Widersprüche und Konflikte, all die Schwierig­keiten und Sachverhalte, die sich nicht so einfach vermitteln lassen.

Ein kritischer Einwand in den internen Diskussionen des Museums war ja, dass eine Tandem-Führung mit einem*einer Israeli und einem*einer Palästinenser*in eine Dichotomie vorspiele, der man in der Auseinander­setzung mit dem Thema auf sachlicher Ebene eigentlich wider­sprechen möchte. Wie steht ihr zu dieser Überlegung?

Mohamed: Das sehe ich nicht so. Wenn wir mit unseren jeweiligen Hintergründen in eine Klasse gehen und unsere Nahost-Workshops durchführen, dann ist natürlich erst einmal dieses Schwarz-Weiß-Denken da. Da wird von mir eben auch eine bestimmte Perspektive erwartet. Aber diese Erwartung breche ich. Ähnlich würde ich das auch in dem Fall der Weiterbildung sehen, dass wir eben nicht dieses Schwarz-Weiß-Denken entlang der individuellen Hinter­gründe und Zuschreibungen reproduzieren, sondern dass wir mit Irritation spielen. Dieses Konzept geht auf, glauben wir.

Tandem ist eine Haltung, die Widersprüche im dialektischen Sinne in dialogische Verhältnisse stellt.

Shemi: Diese Befürchtung wäre nur berechtigt, wenn wir davon ausgehen müssten, dass jedes Tandem nur aus zwei Positionen besteht. Aber das ist eine Vereinfachung, das ist ein Verständnis von Tandem, das viel zu kurz greift und die Menschen in ihrer Ganzheitlich­keit schlicht nicht wahrnimmt. Es gibt zwei Menschen: sie sind unterschiedlich jung oder alt; sie haben unterschiedliche Zugänge zu Jerusalem; sie gehören nicht nur einer bestimmte Religion an, sondern haben auch eine bestimmte Einstellung gegenüber dieser Religion. Das heißt, die Konstellationen ähneln sich nicht. Das erfahren wir jetzt in den Führungen, es kommt wirklich sehr darauf an, wer eine Führung begleitet.

Ein Tandem funktioniert nach unserem Verständnis nicht nur auf der einen Ebene oder aufgrund eines einzelnen (ethnischen, religiösen, nationalen) Merkmals – der eine ist Palästinenser, die andere ist Israelin, sie ist Muslima, er ist Jude, der eine muss das eine vertreten und der andere das andre. Insofern ist Tandem nicht nur eine Methode, sondern eine Haltung, die Wider­sprüche im dialektischen Sinne in dialogische Verhältnisse stellt. Der Dialog findet dabei nie bloß zwischen zwei statischen Standpunkten oder Teil­identitäten statt, die einander diametral entgegenstehen, sondern zwischen Menschen, die alle Aspekte ihrer viel­schichtigen und viel­gestaltigen Identitäten einbringen. Spätestens als die Gruppe der Tandem-Guides zusammengestellt war, als deutlich wurde, wie interessant, wie diverse und heterogen diese Gruppe ist, war klar, dass hier nicht nur ein Produkt entstehen würde, sondern mehrere – und das ist eine Bereicherung.

Was waren die größten Herausforderungen bei der Ausbildung der Guides?

Mohamed: Ich glaube, die Teil­nehmenden hatten unter­schiedliche Erwartungen und Ziele. Und das in Einklang zu bringen, war eine echte Heraus­forderung. Für den einen war das Spannende daran zum Beispiel, im Jüdischen Museum zu arbeiten, und für den Nächsten waren dann das Thema und die Entwicklung spannend.

Shemi: Und dann die Ausstellung an sich! Wir hatten früher bereits Trainer*innen im interreligiösem/​interkulturellem Bereich fortgebildet, aber hier waren wir zum ersten Mal in einer kulturellen Institution, in einem Museum, in einer Ausstellung. Und als wir im November 2017 mit dem Auftaktseminar anfingen, stand die Ausstellung noch gar nicht. Die Gruppe hat sich ganz schnell gut zusammengefunden in einem dreitägigen Seminar in Blossin, Brandenburg. Aber dann stand noch dieses große Frage­zeichen im Raum: Die Ausstellung … – und die Frage: ‚Was wird museums­seitig von uns erwartet, sozusagen laut Mission Statement?‘.

Im ersten Treffen mit Léontine Meijer-van Mensch, der Programm­direktorin des Museums, wurde dann klar, dass die Guides echt ganz viele Freiräume haben, sich einzubringen, etwas Neues zu entwickeln, auch mit der Ausstellung selbst in den Dialog zu treten, nicht nur mit dem Tandem-Partner.

Du hast gerade das Auftaktseminar in Blossin erwähnt. Wie habt ihr die Entwicklung der Guides allgemein wahrgenommen?

Mohamed: Dass die Gruppe sich erstaunlich schnell und gut auf einer menschlichen Ebene zusammen­gefunden hat. Und dass alle sehr offen und neugierig waren. Das Konzept steht und fällt vor allem mit dem persönlichen Bezug zu Jerusalem. Und da haben sich alle ganz schnell, gerade auch in diesem Wochenend­seminar, persönlich geöffnet.

Shemi: Ich kann mich an das Abschluss­gespräch erinnern, da hat eine Teilnehmende gesagt „Ambiguitäts­toleranz – das nehme ich auf jeden Fall mit aus der Weiterbildung, aus diesem Prozess. Wir müssen nicht in jeder Hinsicht miteinander einverstanden sein, damit wir zusammen­arbeiten können, damit es weiter gehen kann.“

Ich glaube, diese Befürchtung gab es am Anfang: ‚Sollen wir ein bestimmtes Jerusalem präsentieren? Wie reden wir über den Konflikt?‘. Aber am Ende war es ein ganz schöner Moment, zu realisieren: Es ist gut so, wie wir sind, das stellen wir auch so vor, wir müssen jetzt nicht den Nahost-Konflikt unter uns besprechen und lösen, bevor wir gemeinsam auftreten können.

Zum Abschluss: Wie ist eure Beziehung zu Jerusalem?

Mohamed: So persönlich habe ich keine Beziehung, weil ich da familiär keinen Bezug habe. Aber ich mit meinem muslimischen Hintergrund: wenn ich da bin, gehe ich in die Al-Aqsa-Moschee, um dort zu beten. Und das ist mein Bezug zu Jerusalem. Tel Aviv ähnelt Berlin aus meiner Sicht sehr, und das kenne ich bereits, aber Jerusalem mit seinen vielfältigen Wider­sprüchen reizt mich sehr.

Shemi: Ich bin in Tel Aviv geboren und aufgewachsen. Ich hatte immer ein ambivalentes Verhältnis zu Jerusalem. Dort habe ich auch Familie und war öfters bei Hochzeiten, auf denen Männer und Frauen getrennt tanzen und essen.

Und die Stadt ist ein Politikum, der Ort meines Aktionismus: Ost-Jerusalem, Besatzung, Demonstrationen und Solidarität. Ich habe auch ein paar Jahre in Jerusalem bei Mahapach-Taghir gearbeitet, in einer community-based NGO, die sich für Empowerment in unterprivilegierten Stadtteilen einsetzt.

Ich bin selbst kein religiöser Mensch und bin nicht immer gerne da gewesen, aber ich glaube, das Projekt hat mir nochmal die Gelegenheit gegeben, mich aus der Ferne mit diesem Thema auseinanderzusetzen, also aus 3000 km Entfernung von Berlin aus und mit 11 Jahren Abstand. Die Auseinander­setzung aus der Distanz, mithilfe anderer Perspektiven und anderer Menschen, die nicht dort geboren wurden oder leben, das war schon eine sehr interessante und neue Erfahrung. Also die Gelegenheit, das nochmal versöhnlich an einer Stelle zu behandeln, wo ich dachte, da gibt es keine Versöhnungs­möglichkeit.

Mohamed: Du hast deinen Frieden geschlossen mit Jerusalem.

Shemi: Frieden…? Das ist ein großes Wort. Eher Ambiguitäts­toleranz…?

Das Interview führte Andy Simanowitz, der das Projekt von Seiten der Bildungs­abteilung mit begleitete.

Zitierempfehlung:

Andy Simanowitz (2018), Wie wär’s mit etwas mehr Ambiguitätstoleranz?. Ein Interview mit Mohamed Ibrahim und Shemi Shabat über die Tandem-Führung Jerusalem im Dialog.
URL: www.jmberlin.de/node/6443

Blick hinter die Kulissen: Beiträge zur Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ (9)

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