Untergrundliteratur in den Niederlanden 1940–1945
In Reaktion auf die strikte und brutal durchgesetzte Kontrolle der Nationalsozialisten über Medien, Literatur und Kultur entstand die niederländische Untergrundliteratur. Sie leistete vor allem geistigen Widerstand gegen die nationalsozialistische Aggression. In keinem anderen Land unter deutscher Besatzung wurde mehr Untergrundliteratur veröffentlicht.
Nach der verheerenden Bombardierung von Rotterdam am 14. Mai 1940 kapitulierte die niederländische Armee vor Nazi-Deutschland. Kurze Zeit später ging die Kontrolle über die Niederlande von der deutschen Militärregierung auf eine von dem Österreicher Arthur Seyss-Inquart geführte zivile Regierung über. Die Wahl von Seyß-Inquart kann man als Hinweis auf Hitlers langfristige Ziele für die Niederlande interpretieren: die Nazifizierung des Landes und sein Anschluss an Großdeutschland, ähnlich wie bei Österreich.
Als Reichskommissar verschärfte Seyß-Inquart die nationalsozialistische Kontrolle über die Medien. Buchhandlungen und Bibliotheken wurden von deutschfeindlicher Literatur gesäubert und neue Veröffentlichungen von den Zensurbehörden streng kontrolliert. Im November 1941 gründete Seyß-Inquart außerdem die Kultuurkamer (Kulturkammer). Sie sollte die Germanisierung der niederländischen Literatur vorantreiben, was sich auch in der Schreibweise des Wortes Kultuur (mit deutschem „K“ anstelle des niederländischen „C“) widerspiegelt.
In Opposition zu dieser Politik entwickelte sich die niederländische Untergrundliteratur. Dieser Begriff ist eine Sammelbezeichnung für jegliche Literatur, die ohne Genehmigung der deutschen Behörden veröffentlicht wurde. Einige dieser Werke stellten sich offen gegen die Besatzer, während es in anderen um allgemeine Themen ging, die aus bestimmten Gründen gegen die Vorschriften der Nazis verstießen. In beiden Fällen riskierten Autorinnen und Autoren, Herausgeber und Drucker ihr Leben, um die Pressefreiheit, die Freiheit des Denkens und des künstlerischen Ausdrucks zu bewahren. Mindestens 700 Männer und Frauen, die der Untergrundpresse angehörten, kamen während der Besatzung ums Leben.
In keinem anderen Land unter deutscher Besatzung wurde mehr Untergrundliteratur veröffentlicht als in den Niederlanden. In seiner Bibliografie Het vrije boek in onvrije tijd (Das freie Buch in einer unfreien Zeit, 1958) wies Dirk de Jong über tausend Titel nach. Vielleicht noch beeindruckender als die Anzahl der Veröffentlichungen war die außerordentliche Popularität der Untergrundliteratur, insbesondere der Gedichtbände, die teilweise über 40 000 Mal verkauft wurden.
Untergrundbücher in den Niederlanden
Die Tatsache, dass die Nationalsozialisten strengere Vorschriften als anderswo im besetzten Europa erließen, erklärt nicht nur die hohe Zahl der im Untergrund gedruckten Bücher, sondern auch deren Inhalt. Die aggressive deutsche Politik wurde als Angriff auf die niederländische Lebensart, auf die gemeinsamen Werte und die gewohnten Vorstellungen von Freiheit und Recht empfunden. Die niederländische Untergrundliteratur leistete vor allem geistigen Widerstand gegen diese nationalsozialistische Aggression und war im Kern zutiefst patriotisch. Ihr Hauptziel bestand darin, der deutschen Propaganda Selbstachtung und Treue zu demokratischen und nationalen Idealen entgegenzusetzen. Bewaffneter Widerstand war nicht ihr dominierendes Thema. Vielmehr standen geistige, humanitäre und historische nationalistische Motive im Vordergrund, die als wesentliche Elemente der niederländischen Identität betrachtet wurden.
So entstanden zahllose Gedichte und Erzählungen, die eine emotionale Verbindung zu alltäglichen, aber symbolträchtigen Elementen wie einem alten Stadtzentrum oder einer typisch niederländischen Landschaft herstellten. Selbst Gedichte, die sich auf die Verfolgung von Jüdinnen und Juden bezogen, waren meist insofern patriotisch, als sie dem deutschen Antisemitismus die jahrhundertealte Verbundenheit der jüdischen Gemeinschaft mit den Niederlanden gegenüberstellten. Die Deutschen und ihre niederländischen Kollaborateure hingegen waren häufig Zielscheibe von Spott und Hohn. Solche Gedichte ließen sich aufgrund ihrer Schlichtheit oder Vulgarität leicht auswendig lernen.
Der größte Untergrundverlag war De Bezige Bij (Die fleißige Biene), gegründet von Geert Lubberhuizen. Er hatte Verbindungen zu einer Gruppe von Studierenden der Universität Utrecht, die ein Komitee zur Unterstützung untergetauchter jüdischer Kinder gegründet hatten. Die Gruppe rettete das Leben von etwa 400 Kindern. Ohne die finanzielle Unterstützung Lubberhuizens wäre dies nicht möglich gewesen. 1943 veröffentlichte er eine illustrierte Ausgabe von Jan Camperts dramatischem Gedicht De achttien dooden (Die achtzehn Toten) über die erste Gruppe niederländischer Widerstands kämpfer, die 1941 hingerichtet wurden. Die Flugschrift wurde in einer Auflage von 15 000 Exemplaren verkauft und brachte so viel Geld ein, dass damit nicht nur der Lebensunterhalt der jüdischen Kinder gesichert werden konnte, sondern auch die Finanzierung eines Untergrundverlages. Anders als das französische Pendant Les Éditions de Minuit, bei dem sich der Anspruch, die Ehre des französischen Denkens zu retten, in der hohen literarischen Qualität seiner Publikationen widerspiegelte, veröffentlichte De Bezige Bij alles, was Geld einbrachte, von Gedichten von Edgar Allan Poe und Guy de Maupassant bis hin zu Postkarten mit Karikaturen von Nazis.
Was die künstlerische Qualität betrifft, stechen Hendrik Werkmans Veröffentlichungen im Verlag De Blauwe Schuit (Die Blaue Schute) hervor. Zu den berühmtesten Ausgaben gehören die wunderschön illustrierten Chassidischen Legenden (ab 1941), die auf Martin Bubers Ausgabe jüdischer mystischer Geschichten basieren. Im März 1945 führte die Polizei eine Razzia in Werkmans Büro durch; er wurde umgehend verhaftet und hingerichtet.
Überall in den Niederlanden gab es Hunderte ähnlicher kleiner (und oft dilettantischer) Untergrundverlage. Die Auflagenhöhe war meist begrenzt; in 25 Prozent der Fälle wurden weniger als hundert Exemplare pro Buch gedruckt. Da der Einsatz von lauten Druckmaschinen ein ernsthaftes Risiko darstellte, druckten die meisten dieser Verlage im Lithografieverfahren, oft in Kombination mit einer einfachen Handpresse, einem Hektografen, einer mit den Füßen angetriebenen Tiegeldruckpresse oder, als letztem Mittel, einem Mimeografen. Ein weiteres Problem war die Papierknappheit. Da die Kultuurkamer ein Monopol auf die Verteilung von Papier für den Buchdruck hatte, wurden die illegalen Veröffentlichungen auf gestohlenem Papier gedruckt und waren daher in der Regel sehr dünn. Dies ist auch ein Grund dafür, warum der größte Teil der Untergrundliteratur aus Gedichten und Kurzgeschichten bestand.
Die Bedeutung von Untergrundliteratur
Die niederländische Literaturgeschichte hat die Untergrundliteratur bisher kaum zur Kenntnis genommen. Als hätte die Literatur nach dem Krieg noch einmal ganz von vorne angefangen, betrachtete die Literaturwissenschaft das Jahr 1945 zumeist als „Jahr Null“ und konzentrierte sich auf die rebellische Nachkriegsgeneration. Viele der „neuen“ Tendenzen in den späten 1940er-Jahren waren jedoch bereits in der Untergrundliteratur vorhanden. So ging beispielsweise Anna Blamans offen lesbischem Roman Eenzaam avontuur (Einsames Abenteuer, 1948) ihre heimlich veröffentlichte Erzählung Ontmoeting met elma (Begegnung mit Selma, 1943) voraus. Rein Blijstras libertäre Sexualmoral, seine relativistische Darstellung eines „Helden“ des Widerstands und sein ausgeprägter Zynismus in Bij nadere kennismaking (Bei näherer Betrachtung, 1944) machen ihn zusammen mit Blaman zu einem Vorboten des moralischen Wertewandels in der niederländischen Literatur. Auch Blijstras andere Untergrundpublikation, Haaien voor Nabatoe (Haie vor Nabatu, 1945), nimmt wegen ihrer antikolonialen Botschaft eine Sonderstellung ein. Mit diesem Roman nahm Blijstra eine Diskussion vorweg, die bald nach der Befreiung in der niederländischen Gesellschaft aufflammte: Wie konnte ein Land, das seinen Widerstand als Befreiungskampf rechtfertigte, noch immer ein Kolonialreich gutheißen?
Diese Beispiele zeigen, dass das Vorurteil, die niederländische Untergrundliteratur hätte nur wenig mehr zu bieten als niederländischen Patriotismus, ungerecht ist. Tatsächlich besteht ein beträchtlicher Teil dieser Literatur aus Übersetzungen von Kafka, Baudelaire, Dickinson und sogar Omar Khayyam und James Langston Hughes – alles kaum Namen, hinter denen eine reaktionäre Literaturauffassung stehen würde.
Zur Untergrundliteratur gehört auch das erste niederländische Selbstzeugnis über den Holocaust. Lange vor der Veröffentlichung des Tagebuchs von Anne Frank wurden Briefe von Etty Hillesum aus dem Lager Westerbork in der Tarnschrift1 Drie brieven van den Kunstschilder Johannes Baptiste van der Pluym (Drei Briefe des Malers Johannes Baptiste van der Pluym, 1943) gedruckt. Eine weitere faszinierende Tarnschrift ist Aldus sprak Zarathustra (So sprach Zarathustra, 1944) von Albert Helmans, ein kritisches Porträt der autoritären deutschen Geschichte, das aus Zitaten deutscher Autoren wie Christian Schubart, Ludwig Tieck, Ludwig Börne und Heinrich Heine besteht. Nur wenige Gedichte in der niederländischen Literatur setzen sich so radikal mit existenziellen Fragen auseinander wie die von Herman Salomonson in Recrutenschool (Rekrutenschule, 1941). Als „Kreuzritter Christi“ trat Salomonson dem Nationalsozialismus aus einer christlichen Haltung heraus entgegen und verurteilte die Feigheit all derer, die zwar vor dem Einmarsch lautstark von Widerstand sprachen, aber schwiegen, sobald Gefahr drohte.
Dass kritische Stimmen über die allgemeine Passivität der niederländischen Bevölkerung während der Besatzung erst nach der Befreiung laut wurden, ist ein Mythos. Solche Stimmen waren in der Untergrundliteratur laut und deutlich zu vernehmen, und zwar von Autorinnen und Autoren, die mit ihrer Kritik nicht nur die rebellierende Nachkriegsgeneration der 1960er-Jahre vorwegnahmen, sondern dies zu einer Zeit taten, als Protest tödliche Folgen haben konnte. Eines der anrührendsten Beispiele ist Martinus Nijhoffs Neufassung seines Gedichts De kinderkruistocht (Der Kinderkreuzzug). Während die erste Fassung sich mit einer unbestimmten Vergangenheit auseinandersetzte, richtet sich Moderne kinderkruistocht voller Empörung gegen die passive und manchmal sogar kollaborative Haltung der niederländischen Gesellschaft gegenüber dem Drama der jüdischen Kinder, das sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielte.
Vielleicht liegt die Bedeutung der Untergrundliteratur aber vor allem darin, dass das Vertrauen in das geschriebene Wort aufrechterhalten werden konnte. Bemerkenswerterweise erreichte der Glaube an die Macht der Literatur in den Niederlanden ausgerechnet zu dem Zeitpunkt seinen Höhepunkt, als die deutsche Propaganda die Literatur derart instrumentalisierte, dass die traditionelle Auffassung vom Buchdruck als Verbündetem des Humanismus untergraben wurde. In den besetzten Niederlanden gelang es den Akteur*innen der geheimen Buchproduktion, ein Gegengewicht zu diesem Missbrauch der Literatur zu schaffen. Ihre ästhetische Qualität war vielleicht nicht so glänzend, wie es sich manche gewünscht hätten, aber in einer Zeit völliger Dunkelheit verbreitet selbst die kleinste Flamme viel Licht.
Jeroen Dewulf ist Professor am Fachbereich Germanistik und Niederlandistik der University of California, Berkeley. Als Inhaber des Königin-Beatrix-Lehrstuhls leitet er die Abteilung für Niederlandistik in Berkeley. Seine Spezialgebiete sind darüber hinaus Kolonialgeschichte, Sprache und Identität, Kulturanthropologie, Postkoloniale und Kosmopolitistische Theorie.
Der Beitrag erschien 2024 in der gedruckten Ausgabe des JMB Journals #26.
Zitierempfehlung:
Jeroen Dewulf (2024), Untergrundliteratur in den Niederlanden 1940–1945.
URL: www.jmberlin.de/node/10287
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