Der Ausschluss jüdischer Kinder aus den öffentlichen Schulen im NS-Staat
Was eine unscheinbar wirkende Postkarte vom 23. November 1938 alles verrät
Dominic Strieder
Bei den regelmäßig stattfindenden Archivworkshops mit Schüler*innen der Klassenstufen 8 bis 13, aber auch mit Studierenden, arbeitet häufig eine Gruppe zur Situation jüdischer Schüler*innen in der NS-Zeit. Sie erforschen dieses Thema anhand von Originaldokumenten und Fotos aus unserem Bestand. Eines der dabei häufig verwendeten Schlüsseldokumente ist eine unscheinbare Postkarte, frankiert mit einer 6-Reichspfennig-Briefmarke, die das Konterfei des verstorbenen Reichspräsidenten von Hindenburg zeigt. Zwei Handschriften sind auf der Karte erkennbar, die eines Erwachsenen und die eines Kindes.
Transkript der Postkarte:
23.11.1938
Mein lieber Julius. Heute erhielten
wir deine l[ieben]. Zeilen und freuen uns
daß es dir gut geht. Martin ist mit
seinem Gepäck abgereist und schreibt
vergnügt. Mutter kommt jetzt auch bald.
Uns geht es allen gut. Grüße und Küsse Rose
Ich gehe jetzt in die Schule, wo meine anderen
Freunde sind und es gefällt mir sehr gut.
Gruß und Kuß Denny
Die Kinderhandschrift stammt von Rudolf Appel, der an seinen Vater Julius schreibt: „Ich gehe jetzt in die Schule, wo meine anderen Freunde sind und es gefällt mir sehr gut.“
Text und Bild erscheinen auf den ersten Blick unverfänglich. Wenn wir aber den Kontext des Schreibens genauer untersuchen, dann wird die Brisanz der Nachricht deutlich. „Denny“ schreibt nämlich am 23. November 1938 an den „Schutzhaftjuden Julius Appel“, einen von 30.000 inhaftierten jüdischen Männern, die nach den Novemberpogromen in nationalsozialistische Konzentrationslager verschleppt wurden.
Transkript:
Absender: Appel
Wohnort auch Zustell- oder Leitpostamt: Mannheim
Straße, Hausnummer, Gebäudeteil, Stockwerk od. Postschließfachnummer: -
Postkarte
An den
Schutzhaftjuden J. Appel
geb. 26.6.1881
Dachau
Straße, Hausnummer, Gebäudeteil, Stockwerk oder Postschließfachnummer: Block 12 Stube 2
Rudolf war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt. Eingeschult wurde er während der Weimarer Republik. Nach der Volksschule besuchte er das Karl-Friedrich Gymnasium in Mannheim. Doch warum musste er dieses im November 1938 so plötzlich verlassen? Und warum war es für ihn wichtig zu erwähnen, dass in seiner neuen Schule alle seine Freunde sind?
Die Umstrukturierung des Schulwesens
Seit ihrer Machtübernahme verdrängten die Nationalsozialist*innen jüdische Schüler*innen aus den öffentlichen Schulen. Eingeleitet wurden die Maßnahmen mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933. Hiernach durften höchstens 5 Prozent aller Schüler*innen einer Schule „nicht-arischer“ Herkunft sein. Bei Neueinschulungen waren es nur 1,5 Prozent der aufgenommenen Schüler*innen. Diese Anordnung trat fast gleichzeitig mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft, das auch jüdische Lehrer*innen aus dem Schulbetrieb ausschloss. Volksschulen waren von der Maßnahme zunächst noch ausgenommen. Außerdem durften die Kinder von jüdischen Frontkämpfern des Ersten Weltkrieges in der Regel alle öffentlichen Schulen besuchen, auch wenn die Quote „nicht-arischer“ Kinder in einer Lehranstalt überschritten wurde.
Der Ausschluss des jüdischen Lehrpersonals und der Schüler*innen aus den öffentlichen Schulen ließ den Bedarf für jüdische Schulen stark ansteigen. Bald waren die Kapazitäten der bestehenden jüdischen Schulen erreicht und es kam zur Gründung vieler neuer Unterrichtsanstalten, sowohl von den jüdischen Gemeinden wie auch von privaten Pädagog*innen.
Diese Schulen hatten im Wesentlichen drei Aufgaben: Zuerst sollten sie den Kindern einen Schutzraum vor antisemitischen Übergriffen bieten. Zum Zweiten wurde versucht, ein positives jüdisches Selbstbild durch intensive Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur zu vermitteln. Drittens – vor allem ab 1938, insbesondere durch Fremdsprachenunterricht – sollten die Kinder auf die Emigration und ein Leben im Ausland vorbereitet werden. Der Gemeindevorsitzende der Mannheimer Gemeinde Max Grünewald fasste die Aufgaben der Schule 1936 wie folgt zusammen: „Wir hoffen, daß die Schule Stetigkeit und Ruhe auch vielen Eltern geben wird. Sie dürfen jetzt das Gefühl haben, daß ihre Kinder seelisch ungebrochen in ihrer eigenen Welt Kindheit und Jugend erleben im festen und auch festlichen Rhythmus des jüdischen Jahres und daß sie zugleich das unentbehrliche Rüstzeug für ihre Zukunft schaffen.“ (Watzinger, Karl Otto: Geschichte der Juden in Mannheim 1650–1945, S. 64, zum Buch im Katalog unserer Bibliothek) So konnten sich viele Schulen zu „Inseln der Geborgenheit“ für die Kinder und jungen Erwachsenen entwickeln.
„Rassentrennung im Schulwesen“
Nach den Novemberpogromen wurde es allen jüdischen Schüler*innen verboten, öffentliche Schulen zu besuchen. Am 15. November 1938 erließ das Reichsministerium für Wissenschaft und Erziehung, dass es „[n]ach der ruchlosen Mordtat von Paris […] keinem deutschen Lehrer und keiner Lehrerin mehr zugemutet werden [kann], an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.“
Zwar wäre die „Rassentrennung im Schulwesen [...] in den letzten Jahren im allgemeinen bereits durchgeführt, doch ist ein Restbestand jüdischer Schüler auf den deutschen Schulen übriggeblieben, dem der gemeinsame Schulbesuch mit deutschen Jungen und Mädeln nunmehr nicht weiter gestattet werden kann.“
(Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder, Band 4 (1938), S. 520, zum Buch in unserem Bibliothekskatalog) Aufgrund dieses Erlasses musste Rudolf Appel das Gymnasium verlassen und auf die jüdische Schule in Mannheim wechseln.
Nach November 1938
Hier blieb er jedoch nicht lange. Bereits vor den Novemberpogromen hatte sich die Familie Appel um die Ausreise bemüht, da Julius Appel nicht mehr als Notar arbeiten durfte. Aber erst nach dem 9. November konnte das erste Familienmitglied Deutschland verlassen. Der älteste Sohn Martin konnte über die Niederlande in die USA ausreisen. Nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager gelangte Julius im Januar 1939 ebenfalls dorthin. Rudolf und seiner Mutter Rosa gelang es zwar ebenfalls, 1939 Deutschland zu verlassen, sie gerieten aber in eine Migrationsodyssee mit vielen Stationen in Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Eine Familienzusammenführung war erst 1946 nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland möglich.
Die Schüler*innen, die blieben
Viele Tausend jüdische Schüler*innen und ihre Eltern hatten dagegen nicht das Glück, die Möglichkeit oder die notwendigen Mittel, erfolgreich auszureisen. Sie waren weiterhin den Nationalsozialist*innen ausgeliefert. Auch die Schulen hatten mit Beginn des Krieges zunehmende Schwierigkeiten. Zum einen die hohe Fluktuation von Lehrer*innen und Schüler*innen, die durch die Auswanderung bedingt war. Ein ordnungsgemäßer Lehrbetrieb konnte so nur noch schwer aufrechterhalten werden. Zum anderen war es aufgrund fortschreitender Enteignung, Arisierung, dem Verlust einkommensstarker Verdienstmöglichkeiten oder gar Zwangsarbeit der in Deutschland Verbliebenen immer schwieriger, die Mittel für die Gemeindeschulen oder in Ballungsräumen noch existierenden Privatschulen aufzubringen.
Nach den einsetzenden Deportationen in die besetzten Ostgebiete und dem damit einhergehenden Ausreiseverbot im Herbst 1941 wurde jüdischen Kindern im Juni 1942 jeglicher Schulbesuch verboten und alle jüdischen Schulen aufgelöst. Gleichzeitig war es ihnen untersagt, Unterricht durch „besoldete oder unbesoldete“ Lehrkräfte zu erhalten. Damit war die Schulpflicht für jüdische Kinder de facto abgeschafft.
Zitierempfehlung:
Dominic Strieder (2018), Der Ausschluss jüdischer Kinder aus den öffentlichen Schulen im NS-Staat. Was eine unscheinbar wirkende Postkarte vom 23. November 1938 alles verrät.
URL: www.jmberlin.de/node/5913
Online-Features: Zur Vorgeschichte und den Folgen des 9. November 1938 (5)