„Fahrt einer glücklichen Zukunft entgegen!“
Die Kindertransporte 1938/39 in unseren Familiensammlungen
Franziska Bogdanov
Fast 18.000 Kinder konnten durch die Kindertransporte vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus Deutschland und den besetzten Gebieten (Österreich und Tschechien) gerettet werden, allein über die Hälfte von Ihnen nach Großbritannien. Für alle bedeutete es die Trennung von den Eltern; manchmal für Monate, manchmal für Jahre und häufig für immer. Im Archiv des Jüdischen Museums befinden sich auch Dokumente von Kindern, die auf diese Weise in Sicherheit gebracht wurden. Dokumente, die oft ein eindrückliches Bild geben von der Lebensfreude und Neugierde der Kinder, genauso wie von ihrer Sorge um das Schicksal der Zurückgebliebenen, von den Ängsten und Nöten der Eltern, von Abschied und Verlust.
Schwere Trennung
Eines dieser Kinder ist Erika Freundlich aus Hamburg. Sie ist 16 Jahre alt, als sie mit einem Kindertransport nach England geht. Ihr Vater Paul schreibt in einem Brief an seine ältere Tochter über den Abschied:
„Ich kann es mir noch nicht so recht vorstellen, dass Erika nicht mehr hier sein soll. […] Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen den Abschied, den Eltern u. Kinder voneinander nahmen. Da sah ich drei kleine Kinderchen, das Jüngste mochte 5 Jahre alt gewesen sein und ihre Händchen in die der Geschwister, die vielleicht ein oder zwei Jahre älter waren, gelegt. Das Kleinchen wollte sich gar nicht von der Mutter trennen. Das ganze Bild, das die auswandernden Kinder zeigten, war bejammernswert.“
Zum Abschied
Transkript des Gedichts
Zum 20. Mai 1939
Du ziehst hinaus, wir bleiben hier,
Es grünt, es blüht, es mait.
Du bist so jung, und alt sind wir
Benütze Deine Zeit.Dir steht das Leben offen nun,
Kein Neid, kein Hass, kein Harm.
Wir möchten alles für Dich tun,
Doch lahm ist unser Arm.Wenn fremd die neue Welt Dir deucht,
Sei stark und fühl' Dich ein.
Die alte Welt hat uns enttäuscht.
Neu soll dein Leben sein!Dein Vater
So schmerzhaft es ist, die Kinder weggehen zu lassen, so ist es doch oft die einzige Hoffnung, dass wenigstens sie eine sichere Zukunft haben werden. Max Heymann aus Berlin schreibt seiner 14-jährigen Tochter Eva zum Abschied am 20. Mai 1939 ein Gedicht und beendet es mit den ermunternden Zeilen: „Wenn fremd die neue Welt Dir deucht, Sei stark und fühlʼ Dich ein. Die Alte Welt hat uns enttäuscht. Neu soll Dein Leben sein!“
Eva Heymann wird ein neues Leben in England beginnen, ihren Vater aber nie wiedersehen. Er kommt 1944 im Ghetto Theresienstadt um.
Wer Glück hatte, kam nach
Dem Abschied von seinen 14- und 9-jährigen Kindern Ursula und Wolfgang sieht auch Alfred Dienemann aus Berlin mit Angst entgegen. Mitte Dezember – er ist eben erst aus dem KZ Sachsenhausen entlassen worden – schreibt er an seine Geschwister in Palästina:
„Wir hoffen, dass wir beide Kinder in den nächsten Wochen nach England auf Schulen bringen. Sie sollen später nach USA, auf Schulen u. sonstwie. Die endlosen Verhandlungen schweben noch. Dann sind wir die Kinder ›los‹. Was hinter diesem Wort steckt, brauche ich Euch nicht zu sagen. Gleichzeitig geht der Kampf um uns.“
Einige Monate nach der Rettung ihrer Kinder gelingt es Alfred Dieneman und seiner Frau, nach England zu folgen.
Die 16 und 11 Jahre alten Brüder Kurt und Günter Treitel verließen Berlin im März 1939. In ihrem Gepäck befand sich ein Abschiedsbrief der Mutter:
„Meine Gedanken, meine Wünsche, meine Grüße folgen und erreichen Euch immer. Fahrt einer glücklichen Zukunft entgegen, unser Segen begleite Euch!“
Hanna Lilly Treitel schrieb diese Zeilen in der Ungewissheit, ob sie ihre Söhne je wiedersehen wird. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es auch ihr, ihrem Mann und der jüngeren Tochter im Juli 1939 gelingen wird, nach England einzureisen. Der ältere Sohn Kurt, der seit einigen Monaten mit seinem Bruder bei einem Onkel lebt, hat bereits begonnen, dem Rat der Flüchtlingsorganisationen zu folgen, sich möglichst schnell den britischen Gepflogenheiten anzupassen. Eine Postkarte, die er den Eltern und der Schwester zu ihrer Ankunft in Southhampton schickt, schreibt er auf Englisch: „Dear Parents, dear Sis, A hearty welcome in England. Hope to see you soon“
und unterzeichnet mit „Yours Kenneth (Kurt)“
.
... doch Glück war rar
Die Briefe sind meist die einzige Möglichkeit für Eltern und Kinder, den Kontakt noch aufrecht zu erhalten. Mit Kriegsausbruch wird es den Kindern wegen der Zensur schwer, noch auf Deutsch zu schreiben. Der Postweg dauert oft Wochen oder Monate und bricht in manchen Fällen ab, wenn die Eltern deportiert werden.
Für die Geschwister Stefan und Carola Prager aus Berlin, die 14 und 11 Jahre alt sind, als sie Deutschland verlassen, ist die Trennung von den Eltern eine endgültige. Am 26. Oktober 1941, kurz vor ihrer Deportation, schreiben die Eltern noch einmal nach Schweden. Nachdem der Vater Wolfgang Prager angekündigt hat, dass sie „in der nächsten Zeit eine größere Reise machen“ werden, fügt er hinzu:
„Vergesst nie Eure Eltern, die stets und immer nur das Allerbeste im Auge hatten. Haltet treu zueinander und stützt einer den anderen im Falle der Not.“
Und die Mutter Ruth Prager schreibt darunter:
„Ich weiß gar nicht was ich Euch sagen soll, weil mir mein Herz so voll ist, und Worte so klein sind und so wenig sagen. Ich habe nur immer auf ein Wiedersehen mit Euch gehofft, aber wahrscheinlich stehen wir jetzt an einer Schicksalswende.“
Freude und Not
Herta Silzer aus Wien wandert im Februar 1939 nach England aus. Als die 11-Jährige britischen Boden erreicht, überwiegt nach der Angst der letzten Tage und Wochen die Euphorie über das Neue. Sie schreibt ihren Eltern:
„Ich bin heute um 2 h in London angekommen. […] Es ist fabelhaft. […] Der Eindruck der Stadt ist überwältigend.“
Herta kommt zu Verwandten nach Glasgow und schreibt ihren Eltern von hier aus fast täglich Briefe und Postkarten. Sie macht sich große Sorgen um die Eltern und fragt am 23. März 1939:
„Seit Eurem letzten Brief habe ich keine Post von Euch, hoffentlich bekomme ich bald eine. – Wie geht es Euch? Seid Ihr gesund? Ist gar nichts Neues? Es würde mich so interessieren, was eigentlich los ist.“
Schließlich bietet sich die Möglichkeit, dass die Eltern mit dem Passagierschiff St. Louis nach Kuba ausreisen, doch sie dürfen nicht an Land gehen und müssen nach Europa zurückkehren. Herta Silzers Eltern wird die Einreise nach England gewährt. Am 21. Juni 1939 treffen sie dort ein, sehen endlich ihre Tochter wieder und können noch im Herbst gemeinsam in die USA auswandern.
Ein neues Leben
Annemarie Fleck aus Danzig geht mit 13 Jahren auf einen Kindertransport nach England. Sie kommt bei einer Pflegefamilie unter und berichtet den Eltern am 28. Oktober 1939:
„Ich freue mich so sehr, dass Ihr gesund seid. Hier ist alles genau wie immer, vom Krieg merkt man fast nichts, alle sind vergnügt und ich esse entsetzliche Mengen. Ich helfe jetzt viel mehr im Haushalt, bis auf das Kochen kann ich nun wohl schon fast alles. Meine Pflegemama sagt, sie weiß gar nicht, wie sie einmal ohne mich auskommen soll.“
Für Annemarie hat in England ein neues Leben begonnen. In ihren wöchentlichen Briefen an die Eltern, die nach deren Emigration nach Schanghai 1941 oft monatelang unterwegs sind, erzählt sie ausführlich von ihrem Alltag, von Erlebnissen mit Freunden, ihrer ersten Liebe , von der Schule. Ihre Eltern in Schanghai scheinen verstört, haben das Gefühl, dass sich ihre Tochter von ihnen entfremdet, worauf Annemarie am 20. Juli 1940 erwidert: „I’m sorry […], that you seem to know me so little as to have any doubt about my feelings.“
Und sie versichert, dass sie alle diese „little, stupid events“
nur schreibt, um optimistisch zu bleiben und das Leben zu genießen, was sie sich auch von ihren Eltern wünscht, denn „Who knows what may happen in the Future?“
Heute sind nur noch wenige der mittlerweile hochbetagten „Kinder“ am Leben. Umso wichtiger ist es uns, dass wir ihre Geschichten in unserem Archiv bewahren können, so dass sie nicht in Vergessenheit geraten.
Zitierempfehlung:
Franziska Bogdanov (2018), „Fahrt einer glücklichen Zukunft entgegen!“. Die Kindertransporte 1938/39 in unseren Familiensammlungen.
URL: www.jmberlin.de/node/5935
Online-Features: Zur Vorgeschichte und den Folgen des 9. November 1938 (5)