9. November 1938
Als „Kristallnacht“ oder „Novemberpogrome“ werden die Terrorakte gegen Juden*Jüdinnen bezeichnet, die vor allem in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 im gesamten Deutschen Reich stattfanden. Von der NS-Führung zentral organisiert und gelenkt, wurden die Gewaltaktionen auf lokaler und regionaler Ebene von Angehörigen der SA und der SS mit einem hohen Maß an Eigeninitiative durchgeführt.
Ungefähr 400 Menschen wurden ermordet oder in den Suizid getrieben. Über 1.400 Synagogen und Betstuben sowie etwa 7.500 Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, jüdische Friedhöfe und andere Einrichtungen der Gemeinden wurden verwüstet.
In den Tagen danach verhaftete die Gestapo etwa 30.000 jüdische Männer und verschleppte sie in Konzentrationslager, Hunderte wurden dort ermordet oder kamen zu Tode. Überlebende Häftlinge wurden größtenteils nach einigen Wochen und Monaten wieder freigelassen.

Die zerstörte Ez-Chaim-Synagoge in Leipzig am 10. November 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/342/1, Ankauf
Die Begriffe „Pogrom“, „Kristallnacht“ und „Judenaktion“
Der Begriff „Pogrom“ stammt aus dem Russischen („погром“). Er entstand in den 1880er-Jahren im Zarenreich bei Massakern an Juden*Jüdinnen. Wörtlich übersetzt meint Pogrom „Krawalle“, „Verwüstung“ oder „Zerstörung“. Der Begriff ist im deutschsprachigen Diskurs zur Bezeichnung der Ereignisse rund um den 9./10. November 1938 sehr verbreitet. Da „Pogrom“ für einen Gewaltakt steht, der von der Bevölkerung ausgeht, birgt er allerdings die Gefahr, die staatliche Planung und Lenkung der Gewaltaktionen am 9./10. November 1938 auszublenden. Die Bezeichnung „Kristallnacht“ (oder „Reichskristallnacht“), wie die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung die Terrorakte nannte, wurde in Deutschland lange als verharmlosend vermieden, da sie nur auf den entstandenen materiellen Schaden, die zerbrochenen Glasscheiben und Kristallleuchter, verweist. Irreführend ist auch der darin enthaltene Begriff „Nacht“, da die Gewaltakte am helllichten Tage weitergingen. Im englischen Sprachraum und international ist „Kristallnacht“ allerdings ein etablierter Begriff. So wird er auch aus jüdischer Perspektive und in den Erinnerungen von Zeitzeug*innen häufig zur Beschreibung der Ereignisse am 9. und 10. November 1938 verwendet. Eindeutig der Tätersprache zuzuordnen sind hingegen Propagandabegriffe wie „Judenaktion“.

Das zerstörte Leipziger Kaufhaus Bamberger & Hertz in Leipzig am 10. November 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/342/2, Ankauf
Historischer Kontext
Die Gewaltmaßnahmen am 9./10. November 1938 müssen im Kontext der Radikalisierung des Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland 1938 gesehen werden. Zeitlich voraus ging die erste Massenabschiebung von Juden*Jüdinnen aus dem Deutschen Reich, die die polnische Staatsbürgerschaft besaßen („Polenaktion“). Ab dem 28. Oktober 1938 wurden ca. 17.000 Menschen gewaltsam über die deutsch-polnische Grenze abgeschoben. Unter ihnen befand sich die Familie Grynszpan aus Hannover. Ihr 17-jähriger Sohn Herschel verübte daraufhin ein Attentat in der deutschen Botschaft in Paris: Am 7. November 1938 schoss er den Diplomaten vom Rath nieder, der seinen Verletzungen zwei Tage später erlag. Das Nazi-Regime hatte schon längere Zeit den Plan verfolgt, Juden*Jüdinnen zwangsweise zu enteignen und insbesondere jüdische Unternehmen zu „arisieren“, um die deutsche Aufrüstung zu finanzieren. Das Attentat bot den willkommenen Vorwand, gegen die jüdische Bevölkerung mit bislang ungekannter Brutalität im ganzen Reich loszuschlagen. In der Nazi-Propaganda wurden die Gewaltaktionen als Ausbruch des „spontanen Volkszorns“ dargestellt, hervorgerufen durch die „feige Mordtat“ von Paris.
Staatlich organisierte „spontane“ Aktionen des „Volkszorns“
Tatsächlich kam es in einigen Regionen bereits am späten Nachmittag des 7. November zu ersten gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden*Jüdinnen und Angriffe auf Synagogen sowie Wohnungen und Geschäfte. In der Nacht vom 9. zum 10. November wurde aus den regional begrenzten Terrorakten ein Flächenbrand, was den organisierten Charakter dieses staatlichen Pogroms unterstreicht. Am 9. November 1938 hatte sich die NSDAP-Parteiführung wie in jedem Jahr in München versammelt, um des gescheiterten Putsches von 1923 zu gedenken. In die Versammlung platzte die Nachricht vom Tod des Botschaftssekretärs. Hitler besprach sich mit Propagandaminister Goebbels. Dieser verkündete den anwesenden Parteiführern, Gauleitern und SA-Führern die Nachricht und ermächtigte sie, „spontane“ Aktionen des „Volkszorns“ gegen die jüdische Bevölkerung zu organisieren, wobei die Partei nicht als Organisator in Erscheinung treten sollte. Telegramme wurden daraufhin an Dienststellen, Behörden und NSDAP-Ortsgruppen im ganzen Land versandt. Noch vor Mitternacht begannen die Ausschreitungen.

Dieser Abschiebungsbescheid wurde vom Polizeipräsidenten Berlin ausgestellt und enthält die Aufforderung an Meilech Wolkenfeld (1893–1954), das Reichsgebiet innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Das Schreiben wurde ihm am 28. Oktober 1938 in Berlin vorgelegt, anschließend wurde er sofort verhaftet und mit vielen anderen an die polnische Grenze deportiert; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/263/14, Schenkung von Jack Wolkenfeld. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Dieser Abschiebungsbescheid wurde vom Polizeipräsidenten Berlin ausgestellt und enthält die Aufforderung an Meilech Wolkenfeld (1893–1954), das Reichsgebiet innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Das Schreiben wurde ihm am 28. Oktober 1938 in Berlin vorgelegt, anschließend wurde er sofort verhaftet und mit vielen anderen an die polnische Grenze deportiert; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2013/263/14, Schenkung von Jack Wolkenfeld. Weitere Informationen zu diesem Dokument finden Sie in unseren Online-Sammlungen

Zerstörte Synagoge in Wilhelmshaven, 10. November 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2015/666/0, Ankauf
Ein Mob aus SA und SS zerstörte fast alle Synagogen und Betstuben im Reich, meist durch Brandstiftung. Die Feuerwehren und die Polizei schauten zu und griffen nur ein, falls das Feuer auf Nachbargebäude überzugreifen drohte. Umstritten ist, wie die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung auf den Terror reagierte, der vor allen Augen stattfand. Neben Gaffer*innen und Bystander*innen beteiligten sich andere auch aktiv. Während der Gewaltaktionen wurden auch als jüdisch gekennzeichnete Geschäfte zerstört und oft geplündert. SA und SS drangen in Privatwohnungen ein und demolierten sie. Juden*Jüdinnen wurden öffentlich gedemütigt, misshandelt und terrorisiert. Erst in den Nachmittagsstunden des 10. November ebbte die Gewalt allmählich ab. In manchen Orten kam es in den nächsten Tagen immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen. Einen Sonderfall stellt das annektierte Österreich dar, wo die Ausschreitungen überhaupt erst am 10. November begannen.

Online-Features: Zur Vorgeschichte und den Folgen des 9. November 1938 (5)