Besamim-Büchsen erzeugen Gemeinschaft
Paula Newman Pollachek, Hawdala-Besamim-Set, Oakland (Kalifornien), Ankauf 2002
Seit 2002 wird im Jüdischen Museum Berlin fast durchgängig das Hawdala-Besamim-Set der Gold- und Silberschmiedin Paula Newman Pollachek ausgestellt. Seit der Wiedereröffnung der Dauerausstellung im Jahr 2020 befindet es sich im Raum Das jüdische Objekt. Echinacea, Annoyosa, Dandelion, Thistle und Columbine – so heißen die fünf Besamim-Büchsen. Die jetzt hinter Glas gezeigten Exponate waren ursprünglich für die Hawdala-Zeremonie am Ende des Schabbats gedacht, bei der Besamim-Büchsen herumgereicht werden. So können alle an den Gewürzen riechen und Trost empfinden, auch wenn der Schabbat zu Ende ist, und den Duft des Schabbat mit in die neue Woche nehmen. Anlässlich unseres zwanzigjährigen Jubiläums haben wir mit Paula Newman Pollachek via Zoom ein Interview geführt. Dabei sprach die Künstlerin über das menschliche Bedürfnis nach schönen Objekten im Alltag, die Rolle von Ritualen bei der Bildung von Gemeinschaften, religiöse Objekte in Museen sowie darüber, wie die Blumen im Handgepäck per Flugzeug nach Berlin gelangten.
Besamim-Büchsen gibt es in allen erdenklichen Formen. Sie haben keine einheitliche Gestalt. Warum hast du dich für das Blumenmotiv entschieden?
Bevor ich die Blumen hergestellt habe, bin ich auf eine faszinierende Geschichte über sephardische Gemeinden in Marokko gestoßen, die frische Blumen verwendeten, wenn sie gerade kein Behältnis zur Hand hatten. Außerdem erfuhr ich, dass man in Europa bereits im zwölften Jahrhundert frische Kräuter nutzte, bevor die Gewürzdosen üblich wurden. Ich habe mich von beidem inspirieren lassen und beschlossen, statt der üblichen Türme und Fische Blumen anzufertigen.
Warum hast du dich für Metall als Arbeitsmaterial entschieden?
Mich hat Metall schon immer fasziniert. Es wirkt wie eingefroren, unbeweglich. Was mich reizt, ist das zu ändern und es zum Leben zu erwecken. Wenn ich beim Herstellen der Blumen der Natur nahekomme, habe ich das Gefühl, dass mir das gelungen ist.
Deine Kunst bewegt sich zwischen Funktionalität und Skulptur. Inwieweit willst du Kunstwerke schaffen und inwieweit willst du etwas für den Alltagsgebrauch gestalten?
Handelt es sich dabei um Gegensätze? Ehrlich gesagt bin ich ein großer Fan der Arts-and-Crafts-Bewegung der vorletzten Jahrhundertwende. Deshalb finde ich, dass wir uns im Alltag mit schönen Gegenständen umgeben sollten. Eines der Dinge, die ich an Judaica liebe, ist, dass sie Kunst und Funktionalität gleichermaßen in sich vereinen können. Sie sind ein besonderer Teil des Rituals einer jüdischen Familie oder einer jüdischen Gemeinde und zugleich kann man sie, wenn man möchte, als Kunstwerk ausstellen.
Welchen Geruch hat der Schabbat für dich?
Der Schabbat riecht nach Challa und Zimt – liebliche Gerüche, die ich als wohltuend empfinde.
Welche Rolle spielt der Duft in den Besamim-Büchsen?
Ich gehe davon aus, dass wir uns eine „süße“, eine angenehme Woche wünschen. Deshalb nehme ich immer Gewürze wie Sternanis, Zimt oder Nelken, die zwar intensiv sind, aber dennoch eine süße Note haben, im Gegensatz zu Gewürzen, die etwas pikanter sind.
Warum schaffst du Judaica-Kunst für zeremonielle Zwecke?
Ich glaube wirklich, dass Rituale zur Bildung von Gemeinschaft beitragen. Und ob es nun darum geht, die eigene Familie oder eine größere Gemeinschaft zusammenzubringen – das die Zeremonie bereichernde Ritual ist, was dir in Erinnerung bleibt. Ein Objekt herzustellen, das Teil dieses Rituals ist und die Erinnerung an das zu bewahren hilft, was jetzt geschieht und was auch in Zukunft stattfindet, ist wirklich befriedigend.
Jeder Gegenstand kann zu einem Objekt für den religiösen Gebrauch werden. Glaubst du, dass ein Gegenstand, der einmal für einen religiösen Zweck verwendet wurde, wieder ein Alltagsgegenstand werden kann? Welchen Einfluss hat ein Museum auf den Status eines religiösen Objekts, wenn es nicht mehr für den vorgesehenen Zweck verwendet wird?
Zunächst einmal denke ich, dass es wieder zu einem normalen Gegenstand werden kann. Meiner Meinung nach liegt das im Auge der Betrachtenden. Wer auch immer es benutzt, wird es so benutzen, wie er oder sie möchte. Man kann sich über die Geschichte des Objekts informieren und erfahren, dass es für religiöse Zwecke verwendet wurde. Wenn in einem Museum ausgestellte Gegenstände für andere Zwecke lebendig werden und die Besucher*innen verstehen können, warum jemand sie benutzt, ist das ebenfalls großartig.
Wie fühlt es sich an, deine Besamim-Büchsen im Jüdischen Museum Berlin zu sehen?
Ich denke, dass die pädagogische Komponente des Jüdischen Museums Berlin wichtig ist. Die Gewürzdosen werden für einen anderen Zweck verwendet, aber es ist ein ehrenwerter Zweck. Dass sie inmitten so vieler meiner Helden wie Ludwig Yehudah Wolpert, Kurt J. Matzdorf und Friedrich Adler ausgestellt werden, ist für mich noch viel aufregender.
Weißt du noch, wie das Hawdala-Besamim-Set 2002 ins Museum kam?
Oh ja [lacht]. Das war im ersten Jahr nach den Anschlägen des 11. September. Ich habe die Besamim-Büchsen selbst nach Berlin gebracht, weil es für mich preiswerter war, sie mit dem Flugzeug zu transportieren, als sie mit der Post zu verschicken. Ich packte sie in einen Koffer, den ich mit ins Flugzeug nehmen konnte. Nach dem 11. September war das Reisen mit spitzen Metallgegenständen nicht gerade einfach. Bei jedem Zwischenstopp öffneten die Sicherheitskräfte den Koffer. Ich gab ihnen Baumwollhandschuhe zum Überziehen, denn ich wollte nicht, dass sie die Gewürzdosen beschädigten, bevor wir in Berlin ankamen. Und auf dem letzten Flug von Frankfurt nach Berlin erlaubte mir der Pilot nicht, sie in der Hauptkabine zu deponieren. Er nahm sie mit ins Cockpit und bewahrte sie dort auf. Er hatte zu große Angst, dass jemand sie hervorholen und versuchen könnte, jemanden zu erstechen.
2012 wurde ein Audioguide für Kinder gelauncht. Dafür wurden die Blumen animiert und führten als Erzählerinnen durch den Audioguide. Wie fühlt es sich für dich an zu sehen, wie dein Kunstwerk in einem anderen Kontext zum Leben erweckt wird und eine andere Rolle übernimmt?
In meiner Werkstatt haben die Blumen Persönlichkeiten, die ich ihnen verleihe, und während ich sie gestalte, werden sie für mich lebendig. Ich gehe immer davon aus, dass sich das nicht unbedingt übertragen lässt. Deshalb hat es wirklich Spaß gemacht, zu sehen, wie jemand anderes ihre Persönlichkeiten interpretiert und sie zum Leben erweckt. Ich fand das wirklich lustig. Ich finde es toll, dass sie in einem Audioguide für Kinder zum Einsatz kamen.
Das Interview führte Immanuel Ayx, November 2021
Zitierempfehlung:
Immanuel Ayx (2021), Besamim-Büchsen erzeugen Gemeinschaft. Paula Newman Pollachek, Hawdala-Besamim-Set, Oakland (Kalifornien), Ankauf 2002.
URL: www.jmberlin.de/node/8487
Ausgewählte Objekte: Judaica-Sammlung (9)