„Das Museum ist ein Gedächtnisspeicher“
Bestickte Trachtenblusen, ca. 1920–1930, Schenkung von Cornelia Hahn Oberlander, 2021
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Trachtenblusen; Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Cornelia Hahn Oberlander, 2021, Foto: Roman März.
Kurz vor ihrem Tod stiftete Cornelia Hahn Oberlander dem Jüdischen Museum Berlin drei Trachtenblusen, die sie und ihre Schwester Charlotte in ihrer Kindheit in Berlin trugen. Seit Mitte der 1990er Jahre stehen die Schwestern mit dem Museum im Kontakt. Die Blusen kamen ein Vierteljahrhundert später hierher. Was uns das über Stifter*innen und den Stiftungsprozess verrät, wie eine Darstellung der Blusen bereits früher in die Museumssammlung kam und warum eine erratische Unterschrift berührt, darüber sprechen die Sammlungskuratorinnen Inka Bertz und Leonore Maier.
Für das Jahr 2021 habt ihr drei Trachtenblusen ausgewählt. Was ist das Besondere an den Blusen?
Leonore Maier: Zwei der Blusen sind auf einem Doppelporträt der Geschwister Cornelia und Charlotte Hahn zu sehen. Das Gemälde stammt aus dem Jahr 1932 und befindet sich seit 1997 in den Sammlungen des Jüdischen Museums Berlin. Es kam in einer Zeit ans Museum, als der Libeskindbau noch nicht eröffnet war. Fast 25 Jahre später, im Herbst 2020 hat die damals 99-jährige Cornelia Hahn Oberlander über ihre Tochter Wendy Oberlander dem Museum die Blusen als Schenkung angeboten.
Kannst du mehr zu den Blusen erzählen?
Maier: Der Vater der Schwestern hat die Blusen Anfang der 1930er Jahre von einer Dienstreise aus Rumänien mitgebracht. Dort wurden sie als Souvenir an Touristen verkauft. Die schlichten Blusen sind Massenprodukte. Die Stickereien von rumänischen Frauen auf diesen Blusen sind allerdings Unikate.
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Sabine Lepsius, Doppelporträt der Geschwister Cornelia und Charlotte Hahn, Berlin 1932, Öl auf Leinwand, 80,5 x 85,5 cm; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. GEM 96/3/0, Foto: Jens Ziehe. Weitere Informationen finden Sie in unseren Online-Sammlungen.
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Sabine Lepsius, Doppelporträt der Geschwister Cornelia und Charlotte Hahn, Berlin 1932, Öl auf Leinwand, 80,5 x 85,5 cm; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. GEM 96/3/0, Foto: Jens Ziehe. Weitere Informationen finden Sie in unseren Online-Sammlungen.
Charlotte Hahn hat ihre Erinnerung zur Entstehung des Doppelporträts detailliert aufgeschrieben (s. Abb.). Im Jahr 1932 porträtierte Sabine Lepsius die Schwestern im Haus der Familie in Berlin-Zehlendorf-Steinstücken. Was wissen wir noch zur Entstehungsgeschichte?
Inka Bertz: Ich kann nicht mehr erzählen, als das, was Charlotte Hahn sehr lebendig schreibt. Was ich aber anmerken möchte ist, dass das Gemälde in einem Garten-Setting gemalt ist. Gärten hatten in der Familie immer eine große Bedeutung: Die Mutter Beate Hahn war Autorin von Gartenbüchern für Kinder. Den Garten der Familie hatte Karl Foerster, ein berühmter Gartenarchitekt der frühen Moderne, angelegt. Und die Gartentradition setzte sich dann weiter fort: Cornelia Hahn Oberlander wurde in Kanada eine weltweit renommierte Landschaftsarchitektin. Sie entwarf auch den Dachgarten auf der Kanadischen Botschaft am Potsdamer Platz, ein besonders wichtiges Projekt.
Erinnerungen von Charlotte Hahn

[Transkription]
Doppelportrait von Cornelia und Charlotte Hahn, gemalt 1932 von Sabine Lepsius.
Erinnerung von Charlotte Hahn Arner.
Das Gemälde erinnert mich an das Noch, noch zusammen sein mit einem Teil meiner Familie, an meine Eltern, meinen Vater und meine Mutter, und an meine Schwester Cornelia (Nele genannt) in Steinstücken, einem Ortsteil von Berlin-Zehlendorf, Bernhard-Beyer-Straße 3; an den Garten noch mehr als an das Haus, an das „draußen“ mit seinem Stein- und Staudengarten von Karl Förster.
Familie Hahn war ausschließlich von Reinhold Lepsius gemalt worden, der aber schon 1922 gestorben war. Deshalb bat mein Vater 1932 seine Witwe Sabine Lepsius, auch eine bekannte Porträtistin, uns zu malen. Dafür zog sie auf mehrere Wochen zu uns nach Steinstücken. Erst sollte das Bild in 2 Wochen gemalt werden, dann zog es sich auf 4 Wochen hinaus.
Wir kannten Sabine Lepsius schon; unsere Eltern und unsere Großeltern Jastrow und Hahn waren mit der Familie Lepsius befreundet; wir nannten sie „Tante Sabine“. Meine Schwester Nele hatte „Angst“ vor ihr – sie hatte auch etwas derbes an sich, gemischt mit wenig Geduld; das war aber ganz mit ihrem künstlerischem Talent und Temperament verbunden.
Es wurde eine große Staffelei in dem Arbeitszimmer meines Vaters aufgestellt. Nele, damals 11jährig, sollte sitzen, und ich, Charlotte, 6jährige, sollte stehen. Wir bekamen Kleider angezogen, die mein Vater aus Rumänien von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Ich war erstaunt, wie schnell mittels eines großen breiten Pinsels eine Skizze beider Figuren auf der Leinwand zu sehen war. Ich habe niemals lange für das Bild stehen müssen. Wir verstanden uns. Ich durfte auch ab und zu in den Garten. In dieser Pausenzeit ergötzte sich die Künstlerin an verschiedenen kleineren Mahlzeiten, die sie von der Küche aus gerichtet bekam.
Nele, mit ihrer „Angst“ vor Tante Sabine, musste sehr viel sitzen. Ich beobachtete Schwierigkeiten beim Zeichnen von Neles Händen. Um das Problem zu lösen, nahm (ich war zufäl- …

… -lig im Zimmer) Tante Sabine ein kleines dünnes Heft aus dem Bücherregal meines Vaters. Nele sollte es halten. Auf dem Portrait wurde es mehr wie ein Buch dargestellt und wurde gelb. Das ursprüngliche Heft war hellrosa.
Mein Vater, der öfters mit schnellen, großen, schweren Schritten durch das Zimmer geeilt kam, rief dann: „Neles Mund ist versüßt… sie hat einen versüßten Mund.“
Als ich eines Nachmittags aus der Schule nach Hause kam, war ich erstaunt, die Staffelei samt der Leinwand im Wohnzimmer aufgestellt zu sehen, wo ein kleines Fenster den unglaublich schönen Wald direkt hinter dem Haus sehen ließ. Es war dieser Blick auf die Kiefern durch das Fenster, den Sabine Lepsius als Hintergrund für das Portrait gewählt hatte. Direkt am Fenster waren die Kaktuspflanzen aus unserem Kinderzimmer aufgestellt. Wir sollten vielleicht als Kinder der „Gärtnerin“ dargestellt werden. Unsere Mutter hatte Gartenbau studiert und uns früh in das Gebiet der Pflanzenpflege eingeführt. Jede von uns hatte seine eigene kleine Gießkanne bekommen (die Pflanzen wurden meistens von uns überwässert…).
Ich durfte öfters an der unteren rechten Ecke mit einem großen Pinsel malen. Ich war später enttäuscht, daß „meine Ecke“ zum Schluss nicht sichtbar blieb.
Der weiße „Schleier“ war von der Künstlerin entworfen, es war keine Gardine.
Das Portrait wurde im Sommer 1932 gemalt. Wenige Monate später, am 12. Januar 1933, verlor mein Vater sein Leben unter einer Lawine in den Schweizer Alpen. Sabine Lepsius war einer der wenigen Menschen, die mich nicht wie einen Invaliden betrachteten, weil ich vaterlos war. Sie baute heilende Brücken in eine neue Welt ohne Vater, ohne diesen Vater.
Wie kam Sabine Lepsius zu dem Auftrag?
Bertz: Ihr Mann Reinhold Lepsius hatte zuvor die Familie Hahn gemalt. Nach seinem Tod im Jahr 1922 war Sabine Lepsius darauf angewiesen, dass ihr privates Netzwerk sie unterstützt. Die Familie Hahn war Teil dieses Netzwerkes und lud die Porträtistin ein, den Sommer in Steinstücken zu verbringen und die Mädchen zu malen.
Welche Bedeutung haben die verschriftlichten Erinnerungen von Charlotte Hahn für eure Arbeit?
Bertz: Bei sehr wenigen Familienbildern haben wir Zugang zu dieser Art von persönlicher Erinnerung. Der subjektive Blick von Personen, die direkt mit den Objekten verbunden sind, ist für uns als Museumskuratorinnen eminent wichtig. Die historische Stimme im O-Ton ist hier ein seltener Glücksfall.
Inka, es gibt Fotos von 1997, auf denen du das Gemälde auspackst. Kannst du dich an diesen Moment erinnern?
Bertz: Ehrlich gesagt, hatte ich daran lange nicht mehr gedacht, bevor ich die Fotos wiedersah. Darauf sind der entfernte Cousin der dargestellten Mädchen, Hans Herter, sowie Hedwig Wingler abgebildet. Über Hedwig Wingler und Hans Herter kam der Kontakt zu Cornelia und Charlotte Hahn zustande. Als Cornelia Hahn Oberlander 1998 Berlin besuchte, konnte ich sie und ihre Tochter Wendy Oberlander kennen lernen.
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Inka Bertz beim Auspacken des Gemäldes von Sabine Lepsius, Martin-Gropius-Bau 1997; Jüdisches Museum Berlin
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Inka Bertz beim Auspacken des Gemäldes von Sabine Lepsius, Martin-Gropius-Bau 1997; Jüdisches Museum Berlin
Was kannst du über den Ankauf erzählen?
Bertz: Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht so lange am Museum und der Ankauf war eine meiner ersten Erwerbungen. Die Inventarnummer ist von 1996, aber vom ersten Kontakt bis zum Auspacken ist dann ein gutes halbes Jahr ins Land gegangen, was nicht ungewöhnlich ist. Übrigens blieb auch der Kontakt zu Hedwig Wingler bestehen.
Wie war der Kontakt zu Cornelia Hahn Oberlander während der Schenkung der Blusen?
Maier: Die Korrespondenz lief über Wendy Oberlander. Cornelia Hahn Oberlander, die im Sommer 2021 100 Jahre alt geworden wäre, ist im Mai verstorben. Noch im Februar hat sie den Schenkungsvertrag für die Blusen unterschrieben, und ihre Unterschrift zu sehen, hat mich berührt. Sie ist erratisch und zeigt, dass es Cornelia Hahn Oberlander in ihrem hohen Alter nicht mehr leicht fiel, zu schreiben, aber sie war begeistert, dass diese kostbaren Blusen im Museum zusammen mit dem Gemälde gut aufgehoben sein würden.
Warum war es ihr so wichtig, die Blusen ans Museum zu stiften?
Maier: Wir hatten Wendy gefragt, ob ihre Mutter etwas zu den Blusen sagen kann. Wendy hat uns geantwortet: „We are happy to know the blouses will be at the Jewish Museum. This is the right place!” (Wir sind froh, dass die Blusen am Jüdischen Museum sein werden. Das ist der richtige Ort.)
Bertz: Dass eine Geschichte rund wird, ist nicht nur für uns im Museum ein wichtiger Aspekt. Auch für die Stifter ist es ein Bedürfnis, biografisch den Kreis zu schließen. Manchmal gibt es diese glücklichen Momente, in denen ein Objekt tatsächlich im Museum richtig ist. Vor allem, wenn es zusammen mit anderen Objekten eine „dichtere“ Bedeutung bekommt.
Von 1996 bis heute wart ihr mit der Stifterfamilie im Kontakt: Welche Rolle spielt Beziehungspflege für eure Arbeit?
Maier: In der Regel geht es nie nur darum, dass ein Objekt die Besitzer wechselt. Wir wenden uns den Schenkenden zu, hören ihnen zu und zeigen Interesse an den Geschichten, die mit den Objekten verknüpft sind. Häufig liegt dahinter eine ganze Welt. Ein solcher Austausch findet mit manchen Stifterinnen und Stiftern über Jahre hinweg statt, bei anderen beschränkt er sich auf ein einmaliges Treffen oder eine kurze Korrespondenz.
Bertz: Es geht um Vertrauen, und darum, dass wir mit der Geschichte angemessen umgehen. Dahinter steckt oft das Bedürfnis, sich seiner eigenen Biografie zu vergewissern, sie anerkannt zu wissen. Das ist für alle Seiten ein vielschichtiger und emotionaler Prozess, der nicht nur mit der Übergabe eines historisch relevanten Objektes verbunden ist. Das Museum ist ein Gedächtnisspeicher. Es sind nicht nur Objekte.
Das Interview führte Immanuel Ayx, Oktober 2021
Zitierempfehlung:
Immanuel Ayx (2021), „Das Museum ist ein Gedächtnisspeicher“. Bestickte Trachtenblusen, ca. 1920–1930, Schenkung von Cornelia Hahn Oberlander, 2021.
URL: www.jmberlin.de/node/8187